Das Buch zum Sonntag (20)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Kurt Tucholsky: Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte.

Zu den wenigen Ideen, die ich beim Beginn dieser Reihe hatte, gehörte, den Hausheiligen so lange wie möglich nicht zu empfehlen, um seinen Kommentaren zum Weltgeschehen größere Wirkmächtigkeit zu ermöglichen. Es war natürlich trotzdem nur eine Frage der Zeit, bis er hier auftauchen würde. Und doch ist der Anlaß außerhalb dieses Blogs zu suchen. Anlaß war der Wunsch einer einzelnen Dame, ein “nicht-deprimierendes” Buch empfohlen zu bekommen. Nach gescheiterten Versuchen mit meiner Meinung nach durchaus in diese Kategorie fallenden Büchern, bin ich meine Regale abgegangen und fand tatsächlich nichts, was sich problemlos als fröhlich, sorgenfrei, aufbauend oder, um mal mit dem “Anhalter” zu sprechen, größtenteils harmlos bezeichnen liese.
Außer eben einem schmalen Bändchen Tucholskys (natürlich 😉 ).
Rheinsberg (erschienen 1912) ist eine entzückende Liebesgeschichte um das Paar Wolfgang und Claire, die sich beide in der Phase des frühen Verliebtseins (die geneigte Leserschaft wird wissen, was ich meine, nicht? Dann mal kurz das Buch:

Seh mal: ‘ne Akazie! ‘ne blühende Akazie, lauter blühende
Akazien!«
»Is gar keine, is ‘ne Magnolie!«
»Hach! Also wer weiß denn von uns beiden in der
Botanik Bescheid? Ich oder ich?«
»’ne Magnolie is es.«
»Meine Liebe, ich müßte bedauern, es mit einem
kräftig gefaßten Schlag gegen Sie nicht bewenden las-
sen zu können. Alle Wesensmerkmale der Akazie
deuten auch bei diesen Bäumen auf eine solche hin.«
»Is aber ‘ne Magnolie.«
»Herr Gott, Claire! Siehst du denn nicht diese ty-
pisch ovalen Blätter, die weißen, kleinen, traubenför-
migen Blütenstiele! ? Mädchen!«
»Aber . . . Wölfchen . . . wo es doch ‘ne Magnolie is . . . «
Sie erstickte in Küssen.*

) zu einem Wochenendausflug entschließen, nach Rheinsberg, über das sich im Wesentlichen sagen ließe, daß es landschaftlich schön gelegen ist.
Claire gibt hierbei die unbekümmerte, leicht dramatisierende, stets ironische junge Dame, Wolfgang den abgeklärten, überlegenen, durchaus intellektuellen Gegenpart. Die beiden bei ihren für den Ausflug eines verliebten Pärchens vollkommen üblichen Betätigungen zu beobachten (Bootspartien, Spaziergänge, Schloßbesichtigungen) und ihren erfrischenden Dialogen zu lauschen, ist eine reine Freude.
Noche eine Stelle:

Wie friedlich dieser Abend war; sie saßen unter
den niedrigen dunklen Bäumen und warteten auf das
Essen.
»Claire?«
»Wolfgang?«
»Mir ist so . . . «
»Gut so, mein Junge.«
»Nein! Spaß beiseite, mir ist mit dem Magen nicht
recht.«
»Das ist Cholera. Wart, bis du was zu essen be-
kommst.«
»Nein, hör doch, ich hab so ein Gefühl, so leer,
so . . . «
»Typisch, Das ist geradezu ? bezeichnend ist das.
Du stirbs, Wölfchen.«
»Die richtige Liebe deinerseits ist das auch nicht!
Erst lasse ich dich auf Medizin studieren, und jetzt
willst du nich mal durch dein Hörrohr kucken.«
»Ach Gott, nicht wahr, was heißt denn hier
überhaupt! – Nicht wahr? – Wer denn schließlich . . . «**

Es handelt sich hierbei um den mit Abstand fröhlichsten längeren Text, der mir von Tucholsky bekannt ist. Er hat danach nie wieder so unschuldig-unbeschwert geschrieben. Und eine so herzerfrischende Figur wie die Claire in “Rheinsberg” findet sich auch späterhin nicht mehr. Alles in allem also eine schöne Nachmittagslektüre (länger wird es nicht dauern) zur Erinnerung an einen Sommer, an eine frühe Liebe, zur Erheiterung des Herzens bei einem Heißgetränk der Wahl.

Zuletzt noch eine kleine Stelle, deren Schluß es bei mir zu einer stehenden Redewendung geschafft hat:
Die beiden beobachten durch die Fenster eine örtliche Theateraufführung, verpaßten aber den Beginn und sind dementsprechend schwer in der Lage, die Handlung des Stückes und die Emotionen des Publikums einzuordnen:

Sie beugten sich weiter vor, man konnte undeutlich und durch das Fensterglas verschoben den übrigen Teil der Bühne erkennen, der eine Zimmereinrichtung mit gelber Tapete und gemalten Einrichtungsgegenständen darstellte; ein Mann in grüner Schürze hielt dort oben Zwiesprache mit einer robusten Weibsperson in den Vierzigern. Als Souffleurkasten diente ein alter Strandkorb. Sie hörten die beiden sagen:
»So, Er soll hier reinemachen (in der Tat hielt der Mann einen Besen in der Hand), und statt dessen scharwenzt Er mit den Mädels! Paß Er nur auf. Er Liederjan.« – Hier kicherte das Publikum. – »Ich werde Ihm die Suppe schon versalzen. Hier und hier und da und da!«
Das Publikum lachte: »Hoho!« und oben bekam der Mann, der bis dahin mit gutgespielter Teppenhaftigkeit den Kopf beflissen-horchend geneigt hielt, einige patschende Schläge ins Gesicht . . .
In diesem Augenblick trat ein junges Mädchen auf die Bühne, und hier nahm die Heiterkeit des Publikums einen so beängstigenden Grad an, daß die beiden unwillkürlich vom Fenster zurückfuhren.

»Der erste Akt!« seufzte er. »Uns fehlt der erste Akt!«***

Ganz zum Schluß noch einen Kommentar des Hausheiligen selbst zur Langzeitwirkung des zu seinen Lebzeiten erfolgreichsten seiner Bücher.

Wenn aber im Jahre 1985 ein neugieriger und verliebter junger Herr den Bücherschrank seiner Großmama durchstöbert, wird er von ganz hinten einen ‘auf Bütten abgezogenen und in rotes Bockleder gebundenen Band’ herausklauben, Nummer 18, vom Verfasser signiert.

»Was ist das?« wird der junge Herr fragen. Und die Großmama wild sich den Band geben lassen, ihn ganz nahe an die Augen halten und dann leise lächeln. »Das«, wird sie sagen, »hat mir mal dein Großvater selig geschenkt, als wir uns verlobten. Aber du darfst es behalten und für deine Lydia mitnehmen.«
Das tut der junge Herr. Er packt den Bocklederband mit einigen Dingen, die zu schenken in dieser Zeit schick sein wird, zusammen und sendet alles an Lydia. Und Lydia wird die schicken Dinge sehr bewundern, sich an ihnen und am zukünftigen Neid ihrer Freundinnen erfreuen und schließlich einen Blick in das Buch hineintun. Und ein bißchen darin blättern.
Weil aber die Zeit läuft und sich das, was zwischen den Zeilen eines Buches ausgedrückt ist, niemals länger als fünfzig Jahre hält und mit den Menschen, von denen es und für die es geschrieben ist, dahingeht – deshalb wird die Dame Lydia mit den Achseln zucken und sagen: »Reizend!«
Und dann wird die Geschichte mit ihr und dem jungen Herrn ihren Fortgang nehmen.

aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1921. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 2379-2380
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 100-101) (c) Rowohlt Verlag

[Update 25.10.09] Peinlicherweise habe ich den Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben

vergessen. Mea culpa. Ich suche gleich mal Asche, um sie mir aufs Haupt zu streuen.

*aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1912. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 415f.
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 51-52) (c) Rowohlt Verlag
**aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1912. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 426-427
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 57) (c) Rowohlt Verlag
***aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1912. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 430
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 58-59) (c) Rowohlt Verlag

P.S.: Einen habe ich noch, der vielleicht verdeutlicht, welche Rolle “Rheinsberg” für Tucholsky selbst in seinem späteren Leben spielte. Ein Blick aus dem Jahre 1931:

Rheinsberg

(»Zum hundertsten Tausend«)

Natürlich kommt das nie mehr wieder.
Allein: es war einmal.
Ich war ein Star und pfiff die bunten Lieder;
ich war Johann, der muntre Seifensieder –
und Claire war real.

Das ist schon lange her.
Und heute -?
Jetzt sind die andern dran.
Nach unsrer Sprache plaudern Liebesleute,
Zahntechniker und ihre jungen Bräute . . .
Das hört sich also an:

»Du sock nisch imme nach die annern Mättschen blickn!
Isch eiffesüschtisch, olle Bums-Roué!
Du imme mit die kleinen Dickn!
Nu isch ins Bett bigehn bimickn,
weil müdischlisch biwé!«

So liebt euch denn (in allen Ehren)!
Die Liebe währet ewiglich.
Und folgt ihr dieses Büchleins Lehren
und küßt ihr euch, ihr Wölfchen und ihr Clairen -:

dann denkt an mich.

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8168-8169
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 95) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Hans Wolfshaut auf der Jagd

In der mir eigenen Verspätung greife ich ein Thema auf, das Blogosphäre und angrenzende Universen in den letzten Tage stark bewegte.

Zu den Firmen, die ihre Anwälte Geld mit Abmahnungen verdienen lassen, gehört auch der Funktionskleidungshersteller Jack Wolfskin.

Die Anfänge der Firma liegen einige Jahre zurück, 1981 gestartet in einem sich gerade formierenden Outdoor-Markt, der zu dieser Zeit noch den Charme der Aussteiger und Alternativen atmete.
Dies dürfte auch einer der Gründe gewesen sein, warum die taz in ihren Gründungsjahren großzügig über die Verwendung eines ihrer tazze sehr ähnlich sehenden Logos hinweg sah.
Zudem dürfte zu vermuten sein, daß die damalige taz-Generation die Registrierung ihres Logos als Marke aus ideologischen Gründen abgelehnt hätte. Was sich Jahre später als Fehler herausstellte. Aus der kleinen Firma, die für eine Alternativszene funktionelle Jacken, Schuhe und Rucksäcke produzierte (und durchaus ähnliche Zielgruppen bediente, es gab Ende der achtziger Jahre sogar Kooperationen), war ein Schwergewicht in einem großen Markt für Funktionskleidung geworden. Es gehört ins Reich der Spekulation, ob sich Jack Wolfskin anders verhalten hätte, hätte der Firmengründer nicht verkauft, aber 1995, als man bereits der US-amerikanischen Firma Johnson Outdoors gehörte, strengte Jack Wolfskin eine Klage gegen die taz an, wegen widerrechtlicher Verwendung ihres seit 1982 geschützten Logos.

2002 verlor die taz den ersten Prozeß, verwendete daraufhin die tazze nur noch in Verbindung mit einem Schriftzug, was ihr nach einem Urteil im Jahre 2007 für alle Produkte, die Jack Wolfskins Kernsegment berühren könnten, ebenfalls untersagt wurde.
Da gehörte die Firma allerdings schon lange zum Operationsgebiet der Private-Equity-Gesellschaften. Moralische Skrupel dürfen wir dort also auch nicht mehr erwarten, wo es per definitionem ja ausschließlich um Gewinnmaximierung geht (wogegen ich nichts sagen will, es ist ein mögliches Geschäftsmodell, es kennt aber eben keine anderen Grenzen als juristische, Argumente, die auf Anstand oder moralische Integrität zielen, vollkommen wirkungslos macht).
Und so überrascht es nicht, daß seit einiger Zeit nun die Outdoor-Firma ihr Operationsgebiet in Sachen Durchsetzung ihres Markenanspruches erweitert hat. In endlosen Abmahnwellen wird inzwischen wohl alles abgemahnt, was Pfoten hat. Unabhängig davon, von welchen Tieren die stammen.
Wirklich Aufsehen erregte das alles aber erst, als tatsächlich Mitglieder einer Strick- und Häkelcommunity abgemahnt wurden. Die ganze Geschichte dazu hier.

Für mich persönlich ist Jack Wolfskin ja bereits seit der taz-Geschichte gestorben, weil ich eine Firma, die derart unkollegial, um es mal vorsichtig zu formulieren, vorgeht, nicht unterstützen möchte. Es bleibt abzuwarten, ob das Gebahren dieser Firma nun so viele vom weiteren Kauf abhält, daß man auf den sicher einträglichen Geschäftszweig der Abmahnungen verzichtet. Bisher deutet jedoch nichts darauf hin, wie Johnny Häusler auf Spreeblick noch einmal verdeutlicht.

Unabhängig von dieser ganzen Geschichte finde ich es aber höchst bedenklich, daß es möglich ist, eine nur minimal stilisierte Pfote derart als Marke zu schützen, daß jeder Abdruck jeder beliebigen Tierpfote illegal wird. Falls noch jemand praktische Beispiele zur Verdeutlichung der Problematik der DNA-Patentierung brauchte, hier hat er eins. Es bedarf nur wenig Phantasie, sich auszumalen, was passiert, wenn wir hier nicht nur über aufgenähte Katzenpfotenabdrücke reden.

Peinlich wird übrigens Verhalten wie das hier von Jack Wolfskin,die sich weigerten, Angaben über die Abreitsbedingungen in ihren Produktionsstätten zu machen (aber selbstverständlich nur hochwertig hergestellte Produkte verkaufen), geschilderte, wenn gleichzeitig so getan wird, als sei man geradezu eine moralische Anstalt, die nichts sehnlicher wünscht, als ihren Profit für den Fortschritt der Gesellschaft einzusetzen (dafür sind Private-Equity-Gesellschaften ja auch berühmt).

Und genau dazu kommentiert heute der Hausheilige:

Man verstehe nicht falsch. Die unbeabsichtigten kulturellen Wirkungen eines großen Handels wird niemand leugnen, aber es ist nicht wahr, daß der Kaufmann auch nur im Traum daran denkt, Kultur oder auch nur Zivilisation zu verbreiten. Verdienen will er – und widerlich ist nur, daß er’s nicht sagt.

aus: Kunst und Kaufmann. in: Werke und Briefe: 1913. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 9131 (vgl. Tucholsky-DT, S. 59) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Verschwindende Künste (1)

Heute: Alben hören.

Im Laufe der Zeit gehen viele Kulturtechniken verloren, weil sie aufgrund des technologischen Fortschrittes nicht mehr benötigt werden. Besonders deutlich zeigt sich das im Verschwinden von Berufen. Nun, im Zeitalter des DTP mag es nicht mehr notwendig sein, Schriftsetzer zu haben, auch Kettenhemden werden heute nur noch in Spezialfällen benötigt (dann aber dringend…).
Aber es zeigt sich auch außerhalb des Berufslebens immer wieder ein deutlicher Wandel.
Beispielsweise das Schreiben privater Briefe. Und ich meine hier durchaus das Schreiben auf zellstoffbasiertem Material. Denn die digitalen Kommunikationsmedien haben längst ihre eigenen Regeln, ihre eigene Sprache, ihren eigenen Stil entwickelt (*lol* oder 😉 in einem handgeschriebenen Brief wäre einfach unpassend).
Eine email hat einen anderen Tonfall als ein Brief (eine hübsche Zusammenstellung der Dinge, die die jüngste technologische Revolution an den Rand des Verschwindens bringt, hat übrigens Herm während seiner Urlaubsvertretung auf Herrn Niggemeiers Blog angefertigt.)
Doch um die Kunst des Briefeschreibens, derer ich auch allmählich verlustig gehe, wie ich jüngst anläßlich eines Versuches feststellen mußte, soll es mir heute nicht gehen.
Mir soll es heute um die Kunst des Musikalbenhörens gehen.
Untersuchungen zum Leseverhalten haben ergeben, daß hierzulande zwar immer mehr gelesen wird, jedoch immer weniger zu Ende. Mir scheint das symptomatisch. Denn es handelt sich hier um eine Rückwirkung der veränderten Mediennutzung. Computerbildschirme laden eher zum Erfassen kürzerer Texte ein. Und ähnliches scheint mir in der Nutzung und Wahrnehmung von Musik vor sich zu gehen. Die unglaublichen Möglichkeiten, die ein Format wie mp3 zusammen mit den nicht weniger unfaßbaren Möglichkeiten mobiler Geräte (erinnert sich noch irgendjemand daran, daß es gerade mal 20 Jahre her ist, daß ein Festnetztelefon mit Wählscheibe nicht nur nicht selbstverständlich sondern sogar Inhalt von Sehnsüchten war?) schaffen ein veränderte Nutzungsgewohnheiten, die weder tragbare CD-Player noch der Walkman je hätten erreichen können. Man kann heutzutage ganze CD-Schränke in einem bestenfalls handtellergroßen Wunderding mit sich herumtragen (wenn man auf die Möglichkeiten des Surfens, Spielens, Fotografierens, achja und natürlich Telefonierens verzichtet, sind wir schon nur noch im Fingerbereich) und die gespielte Musik jederzeit nach Gusto verändern. Jeder sein eigener DJ. Und dem Bedürfnis, unterwegs Musik zu hören, ist das vollkommen angemessen. Denn jederzeit sind Situationen denkbar, in denen man ausschalten muß oder sich geneigt fühlt, andere Musik zu hören (Idioten im Straßenverkehr, Trottel aufm Fußweg, Wetterwechel – oder das schlichte Erreichen des Zieles).
Auch die absurde Jagd diverser Radiostationen nach dem möglichst besten Mix (der Sechziger, Siebziger, Achtziger und so weiter) paßt sich diesem Bedürfnis an.
Wir nehmen also heute allerorten und jederzeit Musik wahr. Bunt gemischt, je nach Lust und Laune. Niemand brauche mehr ganze Alben las ich jüngst in einem Kommentar zur Urheberrechtsdebatte (leider finde ich den Kommentar nicht mehr). Und das könnte stimmen. Weder physisch (ich kenne noch das ehrfürchtige Gefühl, die erste eigene Platte in die Hand zu nehmen und aufzulegen – meine Kinder werden den Spruch “Leg mal eine andere Platte auf.” überhaupt nicht mehr erfassen können) noch psychisch besteht möglicherweise noch Bedarf. Denn ein Album zu hören braucht Zeit, Ruhe und eine Athmosphäre, die ein Einlassen ganz auf die Musik (und eben nur diese) erfordert. Und ich fände es überaus schade, sollte uns tatsächlich diese Fähigkeit abhanden kommen. Denn es hat etwas entschleunigendes. Ein Innehalten, ein Pausieren von der Hektik unseres Alltags. Keine Prokrastination, kein Ablenken, kein Nebenherhören. Es ist Genießen.
Es ist Versinken in einer anderen Welt, es ist ganz Aufnehmen, es ist bis ins Innerste spüren.

Ein Album, das diesen Titel auch verdient, denn es gab und gibt heute erst Recht, da Künstler ja auch verkaufen müssen und mithin die Bedürfnisse des Publikums nicht ignorieren können, auch simpel zusammgestellte Kompilationen, ist eine Einladung an den Hörenden, auf eine Reise zu gehen. Und es lohnt sich, eine solche Reise mitzumachen.

Wir sollten darauf achten, uns das zu erhalten. Schon allein, weil es Musik gibt, die es verdient, ganz und gar gehört zu werden. Manchmal erfordert sie es sogar – doch mit welchem Gewinn für den Hörenden!

Das Verhältnis des Hausheiligen zur Musik darf getrost als ambivalent bezeichnet werden, wobei sich seine Ablehnung nicht selten eher auf Rezipienten und so manche Musizierende bezieht, als auf die Musik selbst.

Ich bin unmusikalisch. Wenn ich es sage, antworten die Leute mit einem frohen Gefühl der Überlegenheit: »Aber nein – das ist ja nicht möglich! Sie verstehen gewiß sehr viel von Musik . . . « und freuen sich. Es ist aber doch so. Musik läßt mich aufhorchen; wenn ich sie höre, habe ich ein Bündel blödsinniger Assoziationen – und dann verliere ich mich im Gewirr der Töne, finde mich nicht mehr heraus . . . Und um rat- und hilflos zu sein, dazu brauche ich schließlich nicht erst in eine Oper zu gehen.

aus: Die Musikalischen. in: Werke und Briefe: 1926. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 4617 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 529) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Außerdem sehr lesenswert zur Frage der globalen Massenkultur in der Musik: Lyrik der Antennen.

UPDATE (05.11.2009): Bei Spreeblick gibt es einen höchst interessanten Beitrag samt ebenso beschaffener Diskussion zur Zukunft von Musikalben.

Das Buch zum Sonntag (19)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Alexander Sergejewitsch Puschkin: Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin

Puschkins Bedeutung für die moderne russische Literatur kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er darf mit Fug und Recht als russischer Nationaldichter gelten. Auch wenn ihm natürlich der Zeitgeist in die Hände spielte (aus nachvollziehbaren Gründen ließ die auch im russischen Adel verbreitete Neigung, französisch zu sprechen, nach 1812 deutlich nach), so gibt es doch gute Gründe, warum eben er es war, dessen Werk sich so fulminant durchsetzte.
Er ist einfach gut. Es ist ein Genuß, Puschkin zu lesen (gesegnet diejenigen, die in der Lage sind, ihn im Original zu lesen).
Über sein lyrisches Werk möge an anderer Stelle gesprochen werden, ich empfehle der geneigten Leserschaft heute mein bevorzugtes Prosawerk aus seiner Feder.
Die Erzählungen Belkins (1831) mag ich besonders wegen ihrer Leichtigkeit und ihres immer wieder von geistreichen Anspielungen durchwebten, ironischen Stils. Es sind einfache Geschichten, die Puschkin hier erzählt, alle im ländlichen Raum angesiedelt (wenn auch weitgehend im adligen Milieu), aber von einer mitreißenden Lebendigkeit. Der Lesende nimmt gerne Anteil am Schicksal der Protagonisten, auch wenn er heute wohl nicht erfährt, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Und was haben wir da nicht alles zu erleben. Rache, unglückliche Liebe, Verwechslungen, lebende Tote, gebrochene Herzen und entführte Töchter.
Ich möchte mal ein paar kurze Stellen zitieren, um einen Eindruck zu vermitteln:

Maria Gawrilowna verdankte ihre Erziehung französischen Romanen, und infolgedessen war sie verliebt. Der Gegenstand, den sie sich auserwählt hatte, war ein armer Fähnrich, der den Urlaub in seinem Dorf verbrachte. Es versteht sich von selbst, daß der junge Mann von der gleichen Leidenschaft ergriffen war und daß die Eltern seiner Angebeteten, sowie sie die gegenseitige Zuneigung bemerkten, der Tochter verboten, auch nur an ihn zu denken, und ihn schlechter empfingen als einen Gerichtsbeisitzer in Ruhestand.

(aus: Der Schneesturm)*

Noch ein kleiner Seitenhieb gefällig? Bitte schön:

Am nächsten Tage, Punkt zwölf Uhr, traten der Sargmacher und seine Töchter aus der Pforte des neu erworbenen Hauses und gingen zu dem Nachbarn. Ich will hier weder den langschößigen russischen Rock Adrian Prochorows noch die europäische Aufmachung Akulinas und Darjas bescheiben und weiche in diesem Fall von der Gewohnheit ab, der unsere Romanciers von heute huldigen. Allerdings halte ich es nicht für überflüssig zu bemerken, daß sich beide Mädchen gelbe Hüte aufgesetzt und rote Schuhe angezogen hatten, was bei ihnen nur zu feierlichen Gelegenheiten geschah.

(aus: Der Sargmacher)**

Puschkins Fähigkeit zur Selbstironie zeigt sich auch bereits im Vorwort, in dem er sich als Herausgeber der Erzählungen präsentiert. Dort läßt er in einem Portrait Belkins, der ja der angebliche Verfasser ist, einen Freund desselben schreiben:

Allerdings sind fast alle Personennamen, die darin vorkommen, von ihm selbst erdacht und die Namen der Dörfer und Flecken unserer Gegend entnommen, so daß auch mein Dorf an einer Stelle erwähnt wird. Dies ist nicht auf irgendeine böse Absicht zurückzuführen, sondern allein auf den Mangel an Phantasie.

(aus: Vom Herausgeber)***

Und Vielfalt in der Auswahl von Personennamen und Orten scheint mir wahrlich nicht Puschkins große Stärke zu sein.

Mit der Lieferbarkeit ist das so eine Sache. Eine Einzelausgabe der Erzählungen Belkins scheint es nicht zu geben, wohl aber ein paar Sammelausgaben zusammen mit anderen Erzählungen. Antiquarisch sieht es da schon deutlich besser aus, ich verweise da einmal auf den Band “Romane und Novellen” aus der sechsbändigen Aufbau-Werk-Ausgabe, den die geneigte Leserschaft zum Beispiel hier suchen kann.

*Ich zitierte nach folgender Ausgabe:
Alexander Sergejewitsch Puschkin: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Romane und Novellen (Bd. 4). Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 3. Aufl. 1969. hier: S. 70f.
Die Übersetzung der Erzählungen Belkins stammt von Michael Pfeiffer.
**a.a.O., S. 86
***a.a.O., S. 54

Das Buch zum Sonntag (18)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Juli Zeh: Spieltrieb

Betrachte ich die Liste der von mir bisher empfohlenen Bücher, so neige ich zu der Ansicht, daß es wohl doch so etwas wie einen Zeitgeist zu geben scheint, dem man sich nur schwer entziehen kann. Juli Zeh, geb. 1974, reiht sich in die Reihe all jener Schriftstellerinnen ein, die um die Jahrtausendwende ihr Debut veröffentlichten. Und schreibt doch deutlich anders als etwa eine Judith Hermann.
Juli Zeh ist von Hause aus Juristin, ihr Studienschwerpunkt war das Völkerrecht. Dieses spielt denn auch in ihrem Debutroman “Adler und Engel” (2001) eine gewichtige Rolle. Aber dazu ein anderes Mal mehr.
Heute möchte ich ihren zweiten Roman empfehlen, den 2004 erschienenen Roman “Spieltrieb”.
Ich vergleiche Juli Zehs Werke gerne mit einer Versuchsanordnung. Es gibt eine Konstellation und ein Forschungsinteresse und der Versuch wird daraufhin konsequent und kompromißlos durchgeführt. Abschweifungen und stimmungsgeladene Beschreibungen sind ihre Sache nicht (eben ganz anders als die von mir ebenfalls sehr geschätzte Judith Hermann). Das hat natürlich Auswirkungen auf die Sprache und den Stil des Buches. Sie schreibt in einer klaren, nüchternen Sprache, wenn auch nicht ohne Eleganz. Und unglaublich dicht. Man hat als Lesender nie den Eindruck, auch nur ein Wort wäre zu viel geschrieben. Und wenn sie ihre Leser mit warmen Tönen nicht verwöhnt, so sind ihre Figuren doch gelungene Portraits, die Identifikation, Mitleben und Mitleiden ermöglichen.
“Spieltrieb” stellt die Frage nach der Anwendbarkeit, wenn nicht überhaupt nach der Existenzberechtigung juristischer, vielleicht sogar gesellschaftlicher Regeln. Die Frage nach Macht, nach Kontrolle, nach Spielregeln.
Zwei Schüler eines Bonner Internatsgymnasiums beschließen, ein Spiel zu spielen. Objekt ihres Spieles: Ein Lehrer. In der festen Überzeugung, die Fäden in der Hand zu halten, die Regeln zu bestimmen und vor allem: Es tun zu können, es tun zu dürfen.
Und hier wird es für mich über die Geschichte selbst hinaus hoch interessant: Eine Gesellschaft, die nur noch die individuelle Lusterfüllung, das Nachgeben ausschließlich den eigenen Trieben, das Nichtverzichten auf eigene Vorteile, das reine Streben nach Macht um der Macht willen kennt. Eine solche Gesellschaft ist dem Untergang geweiht. Und nach Lektüre des Romans kann man durchaus zu der Überzeugung gelangen, daß wir da gar nicht so weit von entfernt sind.
Wie gesagt: Frau Zeh erspart ihren Lesern nichts. Der Versuch wird konsequent durchgeführt.
Ehe nun aber der Eindruck entsteht, das Buch sei trocken oder reine Schwerstarbeit, möchte ich mal eine Stelle zitieren, die verdeutlichen kann, welches Vergnügen es macht, Juli Zeh beim Sezieren(lassen) zu beobachten:

Wir sind im Geschichtsleitungskurs, es wird die These diskutiert, daß der Krieg im Irak genauso viel mit dem Anschlag auf das World Trade Center zu tun habe wie der Erste Weltkrieg mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers.

Die hohe Politik, so Höfi, sei in letzter Konsequenz immer pragmatisch, während die Ideologie den außerstaatlichen Akteuren vorbehalten bleibe. Diese nenne man “Menschenrechtsschützer”, “Umweltaktivisten” oder “Zivilgesellschaft”, solange sie unblutig vorginge, und “Terroristische Netzwerke”, wenn sie zu den falschen Mitteln griffen.
In der Klasse wurde geraunt. Joe schüttelte die Lockenmähne und erhob sich halb von ihrem Stuhl.
“Wollen Sie Greenpeace mit der Al Quaida vergleichen?”
Höfe antwortete mit einem vorsichtigen “Ja”. Es gehe ihm um stahlklares Denken, nüchternen Vergleich und eine Betrachtungsweise, die den Medientrampelpfad verlasse. Er spreche von Strukturen.

(S. 146)

Natürlich führt eine solche Eröffnung zu wilden Debatten, ein Lehrer, der solche Thesen in den Raum stellt, braucht sich über mangelnde Beteiligung der Klasse selten beklagen. 😉
Nun aber greift Ada ein, eine der Protagonistinnen des Romans und diese Stelle lasse ich mir gerne immer wieder genüßlich auf der Zunge zergehen:

“Der Westen”, sagte sie, “hat in der Tat ein strukturelles Problem. Man könnte auch sagen: ein dramaturgisches.” Ihre Stimme war eine halbe Oktave in den Keller gerutscht und vibrierte unten im Brustkorb, als wollte sie die Werbeansage für eine Erotik-Hotline auf Band sprechen. Dieser Klang besaß eine Autorität, die ihr selber fremd war. “Guckt ihr keine Hollywoodfilme? Wer sind denn die gefährten im Lord of the Rings? Sie marschieren als Einzelkämpfer gegen ein wohlorganisiertes, hochgerüstetes Staatswesen. Man könnte auch sagen: Sie sind Terroristen.” Als die Klasse aufheulte, fuhr Höfi dazwischen und ebnete ihr akustisch den Weg. “Dann sage ich eben: Terroristen des Guten, wen euch das besser gefällt. Reine Definitionsfrage. Worauf es ankommt, ist die Form: Ein paar Insurgenten, die sich todesmutig ins Zentrum der Macht stürzen, sind nach den gesetzen Hollywoods strukturell im Recht.” Durch die plötzliche Stille marschierten Adas Worte wie die Armeen eines unbesiegbaren Herrschers. “Ich sage todesmutig, zum Beispiel mit einem Flugzeug, ins Zentrum der Macht. Das ist David gegen Goliath, Luke Skywalker gegen den Todesstern. Panem et circenes!” […]
“Die Nervosität der Vereinigten Staaten und das laute, weltweite Geschrei rühren daher, dass die angreifende Supermacht Angst hat und sich heimlich im Unrecht glaubt. Hollywood und Bibel sind die Träger der amerikanischen Kultur, und beide Quellen lehren, dass David siegt und Mordor untergehen muss. Wer sich nicht im Recht fühlt, gefährlich, wenn er trotzdem handelt. Sehr gefährlich.”

(S. 147f.)

Zum Abschluß noch der gewohnte Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben

P.S.: Ich bitte die erneute Verspätung zu entschuldigen, diesmal gab es technische Gründe. Ich sage nur: Beiträge sicherheitshalber lieber offline erstellen… 🙁

Nachwuchspreis

Die Entscheidungen des Nobelpreiskommittees in Oslo gaben häufig Anlaß zu kontroversen Debatten. Das ist gut so. Je öfter über Frieden und geeignete Schritte zu dessen Durchsetzung gesprochen wird, um so besser.
Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Nobelpreisen allerdings wurde hier keineswegs immer erst ausgezeichnet, wenn ein Werk vollbracht und seine Auswirkungen bekannt sind. Nicht selten spielten andere Motivationen eine Rolle.
Bei der Kampagne für Ossietzky, der den Preis denn auch 1936 (für das Jahr 1935) bekam, stand neben der Aufmerksamkeit, die auf Nazideutschland und dem, was dort tatsächlich vor sich ging, gelenkt werden sollte, auch ganz klar die Rettung seines Lebens im Mittelpunkt. Ähnliche Motive dürfen wir bei zahlreichen anderen Dissidenten aus aller Welt, die im Laufe der Jahrzehnte ausgezeichnet wurden, annehmen. Einen Nobelpreisträger bringt man nicht mal eben um – das könnte sich sehr geschäftsschädigend auswirken. Was natürlich nicht heißt, daß es eine Lebensversicherung ist oder gar die Ausgezeichneten plötzlich in Ruhe gelassen würden. Aber: Weltweite Öffentlichkeit ist ihnen gewiß. Und das kanne eine ganze Menge Wert sein.
Nicht selten sollten auch Entwicklungen bewußt unterstützt, Prozesse, die in Gang gekommen waren, gefördert werden.
Davon gibt es, gerade in den letzten Jahrzehnten, eine reichliche Anzahl. Ob Brandt, dessen nicht unumstrittene Ostpolitik 1971 keineswegs am Ende ihrer Entwicklung und weit davon entfernt war, sich als Grundsatz der deutschen Politik durchzusetzen. Oder auch Gorbatschow, der zwar 1990 aus deutscher Perspektive wesentliches erreicht haben mochte, aber keineswegs am Ende seiner Wünsche war (und da ja auch nie ankam). Natürlich gibt es bei solcherlei motivierten Auszeichnungen immer die Gefahr, daß die Sache schief läuft. Sei es, weil man sich in der Person geirrt hat oder weil die Unterstützung nicht ausreichte, um die gewünschte Entwicklung durchzusetzen (siehe Israel/Palästina, bzw. die damals ausgezeichnete Troika Peres, Rabin und Arafat).
Nobels Anliegen war es, die Völkerverständigung zu fördern und so wurden eben auch Menschen mit dem Preis bedacht, bei denen keineswegs vermutet werden muß, daß altruistische oder ideelle Motive Hauptantriebsfeder waren, sondern die einfach nur zu einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Amt inne hatten und bestenfalls der Vernunft folgten (wobei traurigerweise das ja tatsächlich derart selten ist, daß man geneigt ist, dies als preiswürdig anzusehen). So darf getrost bezweifelt werden, ob jemand wie Henry Kissinger, bei dem berechtigte Annahmen bestehen, daß er an der Planung und Unterstützung des Pinochet-Putsches gegen Allende beteiligt war, nur, weil er in Einsicht in die Notwendigkeit einen Friedensvertrag mit Vietnam unterzeichnete (ich meine, ist das wirklich eine Leistung, nach einem verlorenen Krieg einen Friedensvertrag abzuschließen???), ein berechtigter Anwärter auf den Friedensnobelpreis ist.
Gerne ausgezeichnet wurden aber natürlich auch Menschen, die tatsächlich ganz konkrete Arbeit geleistet haben. Das Rote Kreuz hat mehrmals (leider gab es ja auch mehrfach Anlaß) den Nobelpreis bekommen, amnesty international wurde ausgezeichnet ebenso wie Ärzte ohne Grenzen.
Zumindest aber gab es immer ein konkretes Ereignis oder ein konkretes Projekt, das zur Auszeichnung herangezogen wurde.

Keines der oben genannten Kriterien aber trifft auf den diesjährigen Preisträger Barack Obama zu. Er ist kein Publizist, der sein Leben riskiert und trotzdem die Stimme erhebt (Fried), er ist kein Arzt, der in entlegensten Winkeln der Welt für notwendige medizinische Versorgung sorgt (Schweitzer), er hat keine Verträge abgeschlossen, die unversöhnlichen Gegnern ein Leben nebeneinander ermöglichen (Ahtisaari), er hat keine inspirierende Literatur verfaßt, die Menschen zum Umdenken bewegte (von Suttner, der sogar die Inspiration zum Friedensnobelpreis nachgesagt wird), er hat keine Organisation gegründet, die Menschen in Not unterstützt ohne Ansicht von Ethnie, Religion oder Geschlecht (Dunant). Nichts dergleichen.
Er hat, das sei zugegeben, eine Wende in der amerikanischen Außenpolitik in Aussicht gestellt. Er hat Menschen auf der ganzen Welt euphorisiert, ja für einige dürfte er sogar die USA wieder zu einem Hoffnungsträger gemacht haben. Und: Er hat großartige Reden gehalten (mal als Beispiel die wirklich sensationelle Kairoer Rede).
Aber mehr auch nicht. Ich möchte hier mal den Twitterer mspro zitieren: “hätten die nicht wenigstens warten können, bis er, naja, etwas tut?” (Beleg hier). Mag sein, daß Obama im Laufe seiner Amtszeit große Dinge bewegen wird. Mag sein, daß er die USA an die Spitze einer globalen Entspannungspolitik setzt, die in einem ganzheitlichen Ansatz die gemeinsamen Probleme dieser Welt in Angriff nimmt. Mag sein, daß sein Dialogangebot an die muslimische Welt angenommen wird und fruchtbar ist.
Das mag alles sein.
Aber derzeit ist Guantanamo in Betrieb, werden die Truppen in Afghanistan erhöht, gibt es keine Lösungsstrategie für den Irak, es werden neue Superbomben entwickelt und die Administration droht dem Iran. Er ist der Präsident der USA und vertritt deren Interessen. Was nicht falsch ist, ganz im Gegenteil, er wollte ja nie etwas anderes (ich hoffe doch, dem aufmerksamen Zuhörer ist das auch in seinem Wahlkampf nicht entgangen).
Das sind die Fakten. Schöne Reden halten sollte nicht genügen, den Friedensnobelpreis zu erhalten. Wie Bettina Gaus in ihrem Kommentar zum Friedensnobelpreis schreibt: “Als Prämie der Begabtenförderung ist er ungeeignet.” Die Verleihung ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die tatsächlich Friedensarbeit leisten, das ist die Mißachtung früherer Preisträger.
Obama selbst wirkte in seiner Reaktion alles andere als glücklich. Ich hätte mir gewünscht, er hätte die Größe gehabt, den Preis, für den er spätestens wenige Tage nach Amtsantritt nominiert worden sein mußte, abzulehnen. Aber das wäre vielleicht zu viel verlangt.

Zum Abschluß noch ein großartiges Video, das die Erwartungen an Obama in all ihrer Absurdität auf den Punkt bringt.

Tirade, nicht ganz ohne Sympathie

Blair und Schröder, New Labour und Neue Mitte – es ist nicht lange her, da waren sie Heroen der europäischen Sozialdemokratie. Sie erzielten Wahlergebnisse, von denen Labour und SPD heute nur noch träumen können. Und doch – gerade das Modell der “Neuen Mitte” (das man getrost als Kopie von “New Labour”) ansehen darf, ist es, das den momentanen Selbstversenkungskurs wesentlich mitverursacht hat.

Die erste Bundestagswahl, bei der ich abstimmen durfte, war die von 1998. Seitdem sind 11 Jahre SPD-Regierungszeit vorbei. Was aber hat die SPD in dieser Zeit getan? Wie hat sie für die “soziale Gerechtigkeit” gewirkt, für die sie doch stehen will? Was hat sie für ihre angestammte Klientel getan, für die Arbeiter, für die kleinen Angestellten? Wie hat sie Großkonzernen entgegengewirkt, die Rechte der Bürger gestärkt oder ist für den Frieden eingetreten?

Hier mal eine Bilanz:

(man beachte die leicht angespannte Reaktion im Publikum ;))

Hartz IV, Rente ab 67, Deregulierung des Finanzmarktes, BKA-Gesetz, völkerrechtswidriger Krieg im Kosovo, usw. – Und die Genossen wundern sich wirklich, daß sie keiner wählt? Daß ihnen kaum jemand glaubt, mit den Tigerenten könne es noch schlimmer werden? Halten die die Wähler wirklich für so grenzdebil, daß sie ihnen die Warnung vor Steuererhöhungen abkaufen, nachdem sie grade mal vier Jahre zuvor aus “Keine Mehrwersteuererhöhung” locker-flockige 3% (von denen Frau Merkel immerhin ja 2/3 angekündigt hatte) gemacht haben? Glauben sie wirklich, daß der Architekt der Agenda 2010, also die Agenda, die dazu geführt hat, daß die Sozialdemokraten 11 Jahre lang Politik gegen ihre eigene Klientel gemacht hat, der richtige war und immer noch IST?

Aber eigentlich führt diese Frage am Kern vorbei. Ja, die SPD hat ein Personalproblem (Hierzu hat übrigens Herr Kaliban eine nette Idee). Aber das scheint mir nur Symptom zu sein. Wie gesagt, meine erste Wahl war 1998 – es gibt aber junge Menschen, die durften in diesem Jahr das erste Mal wählen, deren erlebtes Bild von der SPD besteht also nur aus dieser Regierungszeit. Welchen Grund sollten die haben, ihr Kreuz bei der SPD zu machen?
Wir erleben momentan den Aufstieg von reinen Klientelparteien und das mehr oder weniger langsame Dahinsiechen der ehemaligen Volksparteien (denn wir wollen mal nicht vergessen, auch die CDU hatte nur 1949 ein schlechteres Wahlergebnis).
Und gerade die SPD sollte allmählich mal auf die Idee kommen, daß es so nicht weitergehen kann. Daß es mit den üblichen Ritualen nicht getan sein kann, daß ein derart dramatisches Wegbrechen von Millionen Wählerstimmen keine übliche Wahlniederlage nach langer Regierungszeit ist. Daß es hier um die nackte Existenz geht und darum, die Zukunft nicht einem konservativen, neoliberalen Block zu überlassen und sich links davon nur noch gegenseitig zu zerfleischen. Das hat noch nie funktioniert und es wird auch dieses Mal nicht funktionieren.
Ist den Genossen denn wirklich nicht klar, daß das Erstarken der “Linken” (btw: Was ist das für ein Name? “Wir wissen nicht so recht, wofür für sind und was wir wollen, aber wir sitzen im Parlament immer links vom Präsidenten.” Wahrscheinlich waren die Sieger beim Contest: “Wie inhaltsleer hätten sie ihren Parteinamen denn gern?”) klar und deutlich Ergebnis ihrer eigenen Sozialpolitik ist? Daß selbst Gewerkschafter vor der Wahl das Wort “sozialdemokratisch” nicht mehr über die Lippen bekommen, gibt ihnen das wirklich nicht zu denken?
Die deutsche Sozialdemokratie hat auf alte Allianzen, ja auf alte Werte verzichtet und sich auf das Gebiet der wankelmütigen Mitte begeben. Dahin, wo sie alle sind, dahin, wo die Leute wirklich nach Tageslaune entscheiden, wen sie wählen. Und die die SPD fallen ließen wie eine heiße Kartoffel, als ihnen andere Alternativen wieder ein wenig passender erschienen (jetzt, wo es offenbar Sehnsucht nach einer Politik der Wirtschaftsinteressen gibt, wählt man doch lieber das Original). Und da reden wir noch gar nicht von solchen groben handwerklichen Fehlern wie dem, sich in der Großen Koalition ausgerechnet die Ministerposten zu sichern (die haben da ja wirklich drum gekämpft), mit denen aber mal gar kein Blumentopf zu gewinnen ist.
Kurz:
Es wäre Zeit, reinen Tisch zu machen. Eine gründliche Analyse wenigstens der letzten Jahre (ich werde da wirklich nicht fertig drüber: Die haben ihr Wahlergebnis in 11 Jahren fast halbiert! Was muß denn noch passieren?), ein grundlegendes Umdenken, ein Anerkennen der Realitäten (vielleicht hilft ja auch eine Auszeit?). Irgendetwas Zukunftsweisendes.
Und was machen die? Jammern, Schmollen und Klüngeln.
Allerdings ist das ein Punkt, den die SPD noch nie verstanden hat. Immer wurden sie verraten, von den Unabhängigen, von der WASG, von den Gewerkschaften und natürlich von den Kommunisten. Und vor allen Dingen von den Wählern. Sind die doch einfach zu Hause geblieben?
Nein, liebe Genossinnen und Genossen – andersrum wird ein Schuh draus. Springt über euren Schatten und hört mal auf die wenigen jungen Leute, die euch noch verblieben sind. Legt euch ein Profil zu, das was aussagt, legt euch wieder Inhalte zu, die was bedeuten.

Es wäre schade drum.

Und zum Abschluß noch ein Kommentar des Hausheiligen (dessen Werk an Kommentaren zur SPD nicht arm ist):

Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen,
wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.

aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8947
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 107-108) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Klett auf Abwegen?

Meine politische Sozialisierung habe ich im Milieu der LandesSchülervertretungen Mitte der neunziger Jahre erfahren. Bei Treffen auf Bundesebene habe ich dort für mich sehr bizarre Erfahrungen machen können. Um die Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen gab es da so putzige Ideen wie die quotierte Redeliste (die unabhängig von der tatsächlichen Zusammensetzung des Gremiums natürlich 1:1 quotiert war, was dazu führte, daß ich zwar erst zu Wort kam, wenn das Thema schon lange durch oder der Redebeitrag, auf den ich mich bezog, von allen vergessen war, die junge Dame aus NRW aber nahezu jeden zweiten Redebeitrag stellen durfte) oder, noch viel besser: Das Frauenplenum. In der Interpretation dort bedeutete dies, daß jederzeit die Frauen beschließen konnten, die Herren mögen doch bitte draußen warten, bis man sich geeinigt hat. Kurz: Allein aufgrund meines Geschlechtes war ich Diskussionspartner zweiter Klasse. Wie sexistisch hätten sie´s denn gern?
Auch sehr bizarr: Nach langer Reise im Westen ankommen und vom Oktoberklub begrüßt werden (lief da wirklich in der Stereoanlage).
Naja, lassen wir das.
Was ich sagen wollte: Ich bin seitdem äußerst skeptisch, was diverse praktische Ideen in Sachen Gendergerechtigkeit angeht. Gebranntes Kind…

Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung, daß das in meinen Augen unbedingt notwendige Aufbrechen klassischen Rollenverhaltens Unterstützung braucht. Sicher, die Gesellschaft ist dort schon ein deutliches Stück weiter gekommen, aber Traditionen sind hartnäckig. Wir werden aber in Zukunft mehr denn je jeden Kopf und jede Hand brauchen. Entscheidend müssen Talente und Fähigkeiten sein und nicht das Geschlecht. Wir können auf niemanden verzichten. Auf keinen Mann, der gut zeichnen kann und keine Frau, die Nägel grade in die Wand kloppt. Talente und Fähigkeiten sind bunt verteilt, es gilt sie zu fördern.
Dazu aber gehört, daß sich Jungen als Jungen fühlen dürfen, wenn sie lieber Malen als Bolzen und Mädchen dürfen Mädchen sein, auch wenn sie weißen Einhörnern und rosa Feen nichts abgewinnen können.
Hierfür jedoch brauchen sie Unterstützung. Denn die Auflösung der traditionellen Rollenbilder führt eben auch dazu, daß die Sicherheit, die sie bieten, verloren geht. Nicht zufällig gibt es seit Jahren eine Konjunktur für diverseste Psychotests, die es ermöglichen, sich einem “Typ” zuzuordnen, eine Definition für die eigene Rolle zu finden. Menschen sind immer auf der Suche nach Identifikationsmöglichkeiten, Kinder sind es erst Recht.
Neben verschiedensten Versuchen, neue Rollenbilder zu entwerfen, gibt es aber auch die gegenteilige Entwicklung. Nämlich eine Renaissance alter Rollenbilder, nicht selten gepaart mit dem Abkanzeln der bösen Achtundsechziger, die ja an allem Schuld sein (dieser Tenor beginnt ganz weit rechts außen und zieht sich weit bis tief in die Mitte – immer mit einem Jammern über ein behauptetes Meinungsdiktat der “Linken”, was man ja auch problemlos an den Auflagenzahlen so linksdogmatischer Blätter wie “Bild”, “Welt” oder “FAZ” ablesen kann ;)).
Und in diese Reihe stößt nun also auch der renommierte Klett-Verlag, der geneigten Leserschaft sicher spätestens durch seine Reihe “PONS” bekannt.
Dort erschienen jüngst zwei Textaufgabenhefte, getrennt für Mädchen und Jungen. Und mit allem, was das Klischee zu bieten hat. Rosarote Prinzessinen, fußballspielende Kerle und mal guten (bei den Mädels) oder aber bösen (bei den Jungs) Hexen. Zwei Debattenbeiträge, die diese Neuerscheinung ausgelöst hat, seien hier erwähnt: Einen furiosen Beitrag dazu hat @textzicke geschrieben, deutlich abwägender und auf den Inhalt eingehend findet sich ein Beitrag in der taz.

Nun liegt es mir fern, einem Privatunternehmen vorwerfen zu wollen, auf Trends zu reagieren und sich an die Kunden, wie sie nun mal sind, zu wenden und nicht so, wie wir sie manchmal gern hätten. Klett ist damit ja auch beileibe nicht der erste Verlag, solche Sachen gibt es, auch außerhalb des üblichen Filmlizenzengeschäfts, schon länger (zum Beispiel bei Fleurus, die eine Lernspielschultasche für Mädchen und für Jungen anbieten – allerdings, bei allem Respekt vor der verlegerischen Arbeit: Man sieht den Produkten an, daß sie für einen Massenmarkt produziert wurden.
Aber: Aus gesellschaftlicher Sicht halte ich es für bedenklich, wenn nun also selbst Verlage mit erklärtem pädagogischen Anspruch offenbar der Meinung sind, die kreative Leistung ihrer Autoren in Werke zu stecken, die eine solche Renaissance unterstützen.
Denn das bedeutet ganz klar: Wir kommen vom Wege ab.

Das Buch zum Sonntag (17)

Ich empfehle der geneigten Leserschaft für die morgen beginnenden Woche zur Lektüre:

Jana Hensel: Zonenkinder

“Zonenkinder” ist mein Paradebeispiel für Bedeutung durch Rezeption. Frau Hensel, geboren 1976 in Borna, hat sich mit diesem Buch einen festen Platz im Wendediskurs gesichert.
Es handelt sich bei “Zonenkinder” um kein besonders gutes Buch, es ist nicht diskursiv und es behandelt keine Konfliktlinien. Insgesamt literarisch vollkommen überschätzt.
Das Buch reiht sich ein in das fragwürdige Genre der Generationenbücher (ihr wißt schon: Golf, Umhängetasche, C64 usw.)

“Zonenkinder” sind hier all diejenigen, die in der DDR alt genug wurden, um zu bemerken, daß 1989/90 etwas geschieht, aber wiederum nicht nicht alt genug, um dies vollständig zu begreifen und mitzugestalten. Also in etwa die Jahrgänge 1973-1978.
Genau wie die Generationenbücher anderer Couleur, so arbeitet auch Frau Hensels Buch mit einem identitätsstiftenden “wir”. Dazu ein paar mehr oder weniger rührende Erinnerungen mit großem Wiedererkennungseffekt, unbedingt die passenden Stichworte erwähnen (Pittiplatsch, Pionierhalstuch, Plattenbauten…) et voilá.

Warum also empfehle ich dieses Buch trotzdem?

Es sind im Wesentlichen zwei Beweggründe.
Der erste ist bereits oben erwähnt: Bedeutung durch Rezeption. Seltsamerweise führte das Buch zu einem ausufernden Diskurs über die Eltern dieser zu früh erwachsen gewordenen Generation. In Leserbriefen und auf Veranstaltungen gab es immer wieder Angriffe auf die Autorin, weil sie angeblich die Elterngeneration als lebensfremde Idioten darstelle. Es gab umfangreiche Beiträge anderer in der DDR aufgewachsener Menschen, die sich gegen das “Wir” verwahrten, in dem sie andere Erinnerungen, andere Schlüsse entgegensetzten. Die ganze Debatte führte sogar zu einem Folgeband, indem einige Beiträge noch einmal publiziert wurden. Kurz: Das Buch steht stellvertretend für einen gesellschaftlichen Diskurs, der nicht zufällig 15 Jahre nach der Wende kulminierte (denn unabhängig davon, wie auch immer man diese Generation bezeichnet und charakterisiert – sie war da genau in dem Lebensabschnitt angekommen, in der eine Generation für gewöhnlich beginnt, sich konstruktiv in den Diskurs einzubringen). Wer sich also mit der letzten Jugendgeneration der DDR (die also immerhin heute Anfang/Mitte Dreißig sind, also zu den sogenannten “Leistungsträgern” gehören) beschäftigt, wer Denk- und Gefühlsstrukturen dieser Generation (und ihrer Eltern) kennenlernen möchte, wer wissen will, was der Zusammenbruch der DDR eigentlich im Alltag bedeutete, kommt an diesem Buch und der Debatte darum nicht vorbei.

Der zweite Beweggrund liegt im Buch selbst. Es ist nämlich keineswegs ein schlechtes Buch. Der Verzicht auf literarische Verarbeitung, die konsequente Beschreibung, die reine Beobachtung – da liegt die Stärke des Buches. Immer dann, wenn Jana Hensel auf Schlußfolgerungen verzichtet, auf Beweggründe nicht eingeht, immer dann, wenn sie beobachtet, dann ist sie stark.
Mal ein Beispiel:

Ich erinnere mich nicht, wann es plötzlich keine Samstage mehr gab, an denen wir in die Schule gehen mussten. […] …; sie verschwanden einfach, ohne ein Wort zu sagen. Die Dienstagnachmittage bald danach, denn ohne AG Popgymnastik, Junge Historiker, Schach oder Künstlerisches Gestalten waren sie sowieso ein bisschen funktionslos geworden. Mittwochs um 16 Uhr ging ich auch nicht mehr mit Halstuch und Käppi zum Pioniernachmittag, so wie die Großen nicht mehr zur FDJ-Versammlung gingen. Ich sah meine Patenbrigade nicht wieder, der Milchgeldkassierer war verschwunden, der Gruppenratsvorsitzende, sein Stellvertreter und die Pionierleiterin auch.
Über Nacht waren all unsere Termine verschwunden, obwohl doch unsere Kindheit fast nur aus Terminen bestanden hatte.

(S. 15f.)

Oder auch diese Stelle:

Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren. Vielleicht waren sie auch nicht mehr dieselben. Schalter hießen Terminals, Verpflegungsbeutel wurden zu Lunchpaketen, Zweigstellen zu Filialen, der Polylux zum Overheadprojektor und der Türöffner in der Straßenbahn zum Fahrgastwunsch.

(S. 22)

Da spricht die Verwirrung von jungen Menschen, die nicht jung genug sind, um begeistert alles Neue freudig entgegenzunehmen und das Alte zu vergessen, gleichzeitig aber nicht alt genug, um das Alte als bedrückend und das Neue als befreiend zu empfinden. Eine Generation, die zu jung ist, um sofort einen eigenen Weg gehen zu können und zu alt ist, um die dramatischen Auswirkungen, die die Wende für ihre Eltern hat, nicht zu bemerken.
Hier mal eine Stelle dazu:

Die Eltern-Kind-Beziehung hat sich für uns schon länger erledigt, und wir sehnen den tag herbei, an dem wir vollkommen unabhängig sein und Geld verdienen werden. Nicht nur, dass unsere Eltern daran den grad des Angekommenseins in der neuen Zeit, wie sie sagen, messen könnten, es schmerzt uns einfach auch, mit ansehen zu müssen, wie sie, die nur noch ein paar Jahre von der Pensionierung entfernt sind, wie Dreißigjährige gerade einmal so weit sind, das Geld für ihre monatlichen Ausgaben zu verdienen. Sie sind um mehr als zwanzig Jahre zurückgeworfen, und beobachten wir sie in ihrem Schlamassel, dann nervt uns das: Wie Hamster in Laufrädern, denen niemand sagt, dass man die Geschwindigkeit darin selbst bestimmen kann, und stattdessen voller Angst, das Rad könnte igrendwann zum Stehen kommen und es gäbe dann nichts mehr, was es wieder in Bewegung brächte, laufen sie immer weiter und weiter.”

(S. 79)

Wie gesagt: Das Allgemeingültigkeit heischende “wir” geht zu weit. Aber das Buch ist voller Beobachtungen und Erinnerungen, die durchaus einen Gutteil der angesprochenen Generation eint. Es eint sie zumindest die Erfahrung, quasi über Nacht erwachsen werden zu müssen (die Welt war wirklich aus den Fugen geraten oder wie erklärt ihr euch sonst die Anwesenheit eines zwölfjährigen Schülers im Personalrat?).
Übrigens: Die Melancholie, die einige LeserInnen des Buches entdeckt haben wollen, finde ich nicht. Dafür ist es viel zu wenig Literatur. Wenn es überhaupt einen Grundgefühlszustand gibt, denn der eines trotzigen Selbstbewußtseins. 😉

Zu guter Letzt noch der Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben