Das Buch zum Sonntag (17)

Ich empfehle der geneigten Leserschaft für die morgen beginnenden Woche zur Lektüre:

Jana Hensel: Zonenkinder

“Zonenkinder” ist mein Paradebeispiel für Bedeutung durch Rezeption. Frau Hensel, geboren 1976 in Borna, hat sich mit diesem Buch einen festen Platz im Wendediskurs gesichert.
Es handelt sich bei “Zonenkinder” um kein besonders gutes Buch, es ist nicht diskursiv und es behandelt keine Konfliktlinien. Insgesamt literarisch vollkommen überschätzt.
Das Buch reiht sich ein in das fragwürdige Genre der Generationenbücher (ihr wißt schon: Golf, Umhängetasche, C64 usw.)

“Zonenkinder” sind hier all diejenigen, die in der DDR alt genug wurden, um zu bemerken, daß 1989/90 etwas geschieht, aber wiederum nicht nicht alt genug, um dies vollständig zu begreifen und mitzugestalten. Also in etwa die Jahrgänge 1973-1978.
Genau wie die Generationenbücher anderer Couleur, so arbeitet auch Frau Hensels Buch mit einem identitätsstiftenden “wir”. Dazu ein paar mehr oder weniger rührende Erinnerungen mit großem Wiedererkennungseffekt, unbedingt die passenden Stichworte erwähnen (Pittiplatsch, Pionierhalstuch, Plattenbauten…) et voilá.

Warum also empfehle ich dieses Buch trotzdem?

Es sind im Wesentlichen zwei Beweggründe.
Der erste ist bereits oben erwähnt: Bedeutung durch Rezeption. Seltsamerweise führte das Buch zu einem ausufernden Diskurs über die Eltern dieser zu früh erwachsen gewordenen Generation. In Leserbriefen und auf Veranstaltungen gab es immer wieder Angriffe auf die Autorin, weil sie angeblich die Elterngeneration als lebensfremde Idioten darstelle. Es gab umfangreiche Beiträge anderer in der DDR aufgewachsener Menschen, die sich gegen das “Wir” verwahrten, in dem sie andere Erinnerungen, andere Schlüsse entgegensetzten. Die ganze Debatte führte sogar zu einem Folgeband, indem einige Beiträge noch einmal publiziert wurden. Kurz: Das Buch steht stellvertretend für einen gesellschaftlichen Diskurs, der nicht zufällig 15 Jahre nach der Wende kulminierte (denn unabhängig davon, wie auch immer man diese Generation bezeichnet und charakterisiert – sie war da genau in dem Lebensabschnitt angekommen, in der eine Generation für gewöhnlich beginnt, sich konstruktiv in den Diskurs einzubringen). Wer sich also mit der letzten Jugendgeneration der DDR (die also immerhin heute Anfang/Mitte Dreißig sind, also zu den sogenannten “Leistungsträgern” gehören) beschäftigt, wer Denk- und Gefühlsstrukturen dieser Generation (und ihrer Eltern) kennenlernen möchte, wer wissen will, was der Zusammenbruch der DDR eigentlich im Alltag bedeutete, kommt an diesem Buch und der Debatte darum nicht vorbei.

Der zweite Beweggrund liegt im Buch selbst. Es ist nämlich keineswegs ein schlechtes Buch. Der Verzicht auf literarische Verarbeitung, die konsequente Beschreibung, die reine Beobachtung – da liegt die Stärke des Buches. Immer dann, wenn Jana Hensel auf Schlußfolgerungen verzichtet, auf Beweggründe nicht eingeht, immer dann, wenn sie beobachtet, dann ist sie stark.
Mal ein Beispiel:

Ich erinnere mich nicht, wann es plötzlich keine Samstage mehr gab, an denen wir in die Schule gehen mussten. […] …; sie verschwanden einfach, ohne ein Wort zu sagen. Die Dienstagnachmittage bald danach, denn ohne AG Popgymnastik, Junge Historiker, Schach oder Künstlerisches Gestalten waren sie sowieso ein bisschen funktionslos geworden. Mittwochs um 16 Uhr ging ich auch nicht mehr mit Halstuch und Käppi zum Pioniernachmittag, so wie die Großen nicht mehr zur FDJ-Versammlung gingen. Ich sah meine Patenbrigade nicht wieder, der Milchgeldkassierer war verschwunden, der Gruppenratsvorsitzende, sein Stellvertreter und die Pionierleiterin auch.
Über Nacht waren all unsere Termine verschwunden, obwohl doch unsere Kindheit fast nur aus Terminen bestanden hatte.

(S. 15f.)

Oder auch diese Stelle:

Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren. Vielleicht waren sie auch nicht mehr dieselben. Schalter hießen Terminals, Verpflegungsbeutel wurden zu Lunchpaketen, Zweigstellen zu Filialen, der Polylux zum Overheadprojektor und der Türöffner in der Straßenbahn zum Fahrgastwunsch.

(S. 22)

Da spricht die Verwirrung von jungen Menschen, die nicht jung genug sind, um begeistert alles Neue freudig entgegenzunehmen und das Alte zu vergessen, gleichzeitig aber nicht alt genug, um das Alte als bedrückend und das Neue als befreiend zu empfinden. Eine Generation, die zu jung ist, um sofort einen eigenen Weg gehen zu können und zu alt ist, um die dramatischen Auswirkungen, die die Wende für ihre Eltern hat, nicht zu bemerken.
Hier mal eine Stelle dazu:

Die Eltern-Kind-Beziehung hat sich für uns schon länger erledigt, und wir sehnen den tag herbei, an dem wir vollkommen unabhängig sein und Geld verdienen werden. Nicht nur, dass unsere Eltern daran den grad des Angekommenseins in der neuen Zeit, wie sie sagen, messen könnten, es schmerzt uns einfach auch, mit ansehen zu müssen, wie sie, die nur noch ein paar Jahre von der Pensionierung entfernt sind, wie Dreißigjährige gerade einmal so weit sind, das Geld für ihre monatlichen Ausgaben zu verdienen. Sie sind um mehr als zwanzig Jahre zurückgeworfen, und beobachten wir sie in ihrem Schlamassel, dann nervt uns das: Wie Hamster in Laufrädern, denen niemand sagt, dass man die Geschwindigkeit darin selbst bestimmen kann, und stattdessen voller Angst, das Rad könnte igrendwann zum Stehen kommen und es gäbe dann nichts mehr, was es wieder in Bewegung brächte, laufen sie immer weiter und weiter.”

(S. 79)

Wie gesagt: Das Allgemeingültigkeit heischende “wir” geht zu weit. Aber das Buch ist voller Beobachtungen und Erinnerungen, die durchaus einen Gutteil der angesprochenen Generation eint. Es eint sie zumindest die Erfahrung, quasi über Nacht erwachsen werden zu müssen (die Welt war wirklich aus den Fugen geraten oder wie erklärt ihr euch sonst die Anwesenheit eines zwölfjährigen Schülers im Personalrat?).
Übrigens: Die Melancholie, die einige LeserInnen des Buches entdeckt haben wollen, finde ich nicht. Dafür ist es viel zu wenig Literatur. Wenn es überhaupt einen Grundgefühlszustand gibt, denn der eines trotzigen Selbstbewußtseins. 😉

Zu guter Letzt noch der Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben

Ein Kommentar zu „Das Buch zum Sonntag (17)

  1. Das Buch zum Sonntag (22)Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

    Uwe Tellkamp: Der Turm

    Zum Abschluß der zweiten Kulturwoche heute ein Buch, das zu den beeindruckendsten Werken gehört, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
    Tell…

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