Tirade, nicht ganz ohne Sympathie

Blair und Schröder, New Labour und Neue Mitte – es ist nicht lange her, da waren sie Heroen der europäischen Sozialdemokratie. Sie erzielten Wahlergebnisse, von denen Labour und SPD heute nur noch träumen können. Und doch – gerade das Modell der “Neuen Mitte” (das man getrost als Kopie von “New Labour”) ansehen darf, ist es, das den momentanen Selbstversenkungskurs wesentlich mitverursacht hat.

Die erste Bundestagswahl, bei der ich abstimmen durfte, war die von 1998. Seitdem sind 11 Jahre SPD-Regierungszeit vorbei. Was aber hat die SPD in dieser Zeit getan? Wie hat sie für die “soziale Gerechtigkeit” gewirkt, für die sie doch stehen will? Was hat sie für ihre angestammte Klientel getan, für die Arbeiter, für die kleinen Angestellten? Wie hat sie Großkonzernen entgegengewirkt, die Rechte der Bürger gestärkt oder ist für den Frieden eingetreten?

Hier mal eine Bilanz:

(man beachte die leicht angespannte Reaktion im Publikum ;))

Hartz IV, Rente ab 67, Deregulierung des Finanzmarktes, BKA-Gesetz, völkerrechtswidriger Krieg im Kosovo, usw. – Und die Genossen wundern sich wirklich, daß sie keiner wählt? Daß ihnen kaum jemand glaubt, mit den Tigerenten könne es noch schlimmer werden? Halten die die Wähler wirklich für so grenzdebil, daß sie ihnen die Warnung vor Steuererhöhungen abkaufen, nachdem sie grade mal vier Jahre zuvor aus “Keine Mehrwersteuererhöhung” locker-flockige 3% (von denen Frau Merkel immerhin ja 2/3 angekündigt hatte) gemacht haben? Glauben sie wirklich, daß der Architekt der Agenda 2010, also die Agenda, die dazu geführt hat, daß die Sozialdemokraten 11 Jahre lang Politik gegen ihre eigene Klientel gemacht hat, der richtige war und immer noch IST?

Aber eigentlich führt diese Frage am Kern vorbei. Ja, die SPD hat ein Personalproblem (Hierzu hat übrigens Herr Kaliban eine nette Idee). Aber das scheint mir nur Symptom zu sein. Wie gesagt, meine erste Wahl war 1998 – es gibt aber junge Menschen, die durften in diesem Jahr das erste Mal wählen, deren erlebtes Bild von der SPD besteht also nur aus dieser Regierungszeit. Welchen Grund sollten die haben, ihr Kreuz bei der SPD zu machen?
Wir erleben momentan den Aufstieg von reinen Klientelparteien und das mehr oder weniger langsame Dahinsiechen der ehemaligen Volksparteien (denn wir wollen mal nicht vergessen, auch die CDU hatte nur 1949 ein schlechteres Wahlergebnis).
Und gerade die SPD sollte allmählich mal auf die Idee kommen, daß es so nicht weitergehen kann. Daß es mit den üblichen Ritualen nicht getan sein kann, daß ein derart dramatisches Wegbrechen von Millionen Wählerstimmen keine übliche Wahlniederlage nach langer Regierungszeit ist. Daß es hier um die nackte Existenz geht und darum, die Zukunft nicht einem konservativen, neoliberalen Block zu überlassen und sich links davon nur noch gegenseitig zu zerfleischen. Das hat noch nie funktioniert und es wird auch dieses Mal nicht funktionieren.
Ist den Genossen denn wirklich nicht klar, daß das Erstarken der “Linken” (btw: Was ist das für ein Name? “Wir wissen nicht so recht, wofür für sind und was wir wollen, aber wir sitzen im Parlament immer links vom Präsidenten.” Wahrscheinlich waren die Sieger beim Contest: “Wie inhaltsleer hätten sie ihren Parteinamen denn gern?”) klar und deutlich Ergebnis ihrer eigenen Sozialpolitik ist? Daß selbst Gewerkschafter vor der Wahl das Wort “sozialdemokratisch” nicht mehr über die Lippen bekommen, gibt ihnen das wirklich nicht zu denken?
Die deutsche Sozialdemokratie hat auf alte Allianzen, ja auf alte Werte verzichtet und sich auf das Gebiet der wankelmütigen Mitte begeben. Dahin, wo sie alle sind, dahin, wo die Leute wirklich nach Tageslaune entscheiden, wen sie wählen. Und die die SPD fallen ließen wie eine heiße Kartoffel, als ihnen andere Alternativen wieder ein wenig passender erschienen (jetzt, wo es offenbar Sehnsucht nach einer Politik der Wirtschaftsinteressen gibt, wählt man doch lieber das Original). Und da reden wir noch gar nicht von solchen groben handwerklichen Fehlern wie dem, sich in der Großen Koalition ausgerechnet die Ministerposten zu sichern (die haben da ja wirklich drum gekämpft), mit denen aber mal gar kein Blumentopf zu gewinnen ist.
Kurz:
Es wäre Zeit, reinen Tisch zu machen. Eine gründliche Analyse wenigstens der letzten Jahre (ich werde da wirklich nicht fertig drüber: Die haben ihr Wahlergebnis in 11 Jahren fast halbiert! Was muß denn noch passieren?), ein grundlegendes Umdenken, ein Anerkennen der Realitäten (vielleicht hilft ja auch eine Auszeit?). Irgendetwas Zukunftsweisendes.
Und was machen die? Jammern, Schmollen und Klüngeln.
Allerdings ist das ein Punkt, den die SPD noch nie verstanden hat. Immer wurden sie verraten, von den Unabhängigen, von der WASG, von den Gewerkschaften und natürlich von den Kommunisten. Und vor allen Dingen von den Wählern. Sind die doch einfach zu Hause geblieben?
Nein, liebe Genossinnen und Genossen – andersrum wird ein Schuh draus. Springt über euren Schatten und hört mal auf die wenigen jungen Leute, die euch noch verblieben sind. Legt euch ein Profil zu, das was aussagt, legt euch wieder Inhalte zu, die was bedeuten.

Es wäre schade drum.

Und zum Abschluß noch ein Kommentar des Hausheiligen (dessen Werk an Kommentaren zur SPD nicht arm ist):

Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen,
wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.

aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8947
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 107-108) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Ein Kommentar zu „Tirade, nicht ganz ohne Sympathie

  1. Gachmurets dritte Kulturwoche: KabarettKabarett: Marc-Uwe Kling

    Nun denn, nach einigen Wochen Ruhe im Notizblog, soll es nun wieder einmal Schlag auf Schlag gehen. Ich präsentiere der geneigten Leserschaft: Gachmurets dritte Kulturwoche.
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