Das Buch zum Sonntag (24)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Walter Moers: Rumo und die Wunder im Dunkeln

Ich habe lange gebraucht, um Walter Moers Ernst zu nehmen. Sein „Kleines Arschloch“ war mir etwas zu offensichtlich auf Provokation gebürstet (inzwischen gibt es einige wenige Strips, die ich mag) und ansonsten nahm ich nicht viel von ihm wahr.
Bis mir seine „Wilde Reise durch die Nacht“ in die Hände fiel. Die zu Grunde liegende Idee, zu 21 Holzstichen Dorés eine Geschichte zu erzählen, machte mich neugierig. Und veränderte mein Bild von Moers erheblich. Zwar finde ich auch heute keineswegs alles gut, was er so macht, aber auf seine Zamonienromane lasse ich nahezu nichts kommen. 😉
In guter literarischer Tradition hat Walter Moers mit dem Kontinent „Zamonien“ eine Parallelwelt geschaffen, die von allerlei seltsamen Wesen bevölkert wird, in denen der geneigte Leser jedoch problemlos Spiegelbilder von Menschen hiesiger Provenienz erkennen kann. Dieser altbekannte Trick ermöglicht es einem jeden Autor, seine Figuren nach Belieben zu überzeichnen. Und das kann Moers in unnachahmlicher Weise. Da gibt es höchstbürokratische Volksgruppen und Wesen mit mehreren Gehirnen (samt zugehöriger Arroganz allen Wesen mit weniger als drei Stück gegenüber), es gibt dumpfe Gewalttypen und gerissene Gauner. Also alles, was ein gutes Universum so braucht.

Ich habe lange überlegt, welchen der Romane ich dem geneigten Lesepublikum empfehlen soll und habe mich letztlich für „Rumo“ entschieden, weil er der vielleicht rundeste, auf jeden Fall aber ein exemplarischer Roman ist, der etliche jener Facetten zeigt, die ich an Moers schätze.
Erzählt wird die Geschichte des Wolpertingerwaisen Rumo, der auf der Suche nach seiner Bestimmung ist und auf dem Weg dorthin einige Heldentaten zu vollbringen hat, während er persönlich reift. Eine ganz klassische Heldengeschichte also, möchte man meinen.

ABER: Mit welch einem Ideenreichtum, mit welch irren Figuren. Da gibt es eine Haifischmade mit undurchsichtigen Plänen, dichtende Lindwürmer, brutale Teufelsfelszyklopen, ein schizophrenes Schwert und einen Eydeeten mit vier Gehirnen, der auf der Suche nach Unvorhandenen Winzlingen ist (achja, Intertextualitäten sind bei Moers immer reichlich vorhanden, stören nie, aber es macht einen Heidenspaß, sie zu entdecken*). Und das alles aufgeteilt in mehrere Handlungs- und Erzählebenen. Der geneigte Leser mag also durchaus auch eine Parodie auf die klassischen Genre des Abenteuerromans, des Heldenepos und freilich auch des Liebesromans in „Rumo“ entdecken (und das ist höchst wahrscheinlich so, wie ich nach der Lektüre etlicher anderer Moers´scher Werke geneigt bin zu glauben). Vor allen Dingen jedoch ist es eine wahre Freude, Moers beim Fabulieren zu begleiten.

Eine der Grundregeln dieser Rubrik ist es ja, der geneigten Leserschaft immer die Möglichkeit zu lassen, ein Buch selbst zu entdecken und so vielleicht einen ganz eigenen Zugang zu finden. Daher mag ich gar nicht mehr verraten. Da es aber zwei Szenen in diesem Buch gibt, die mich emotional stark mit ihm verbinden, muß ich noch ein bißchen plaudern.
Zunächst aber mal eine andere Stelle, über die ich beim Blättern soeben gestolpert bin und die einen ersten Eindruck vermitteln kann:

 

Smeik war beeindruckt von der Furchtlosigkeit, mit der dieser schmächtige Gnom auf ihn und Rumo zutrat. Er konnte offensichtlich Gedanken lesen, und er ähnelte dem Professor aus Fort Una, dem Smeik seine Kenntnisse über Zyklopenzungen verdankte, er hatte die gleichen leuchtenden Augen, den gleichen gebrechlichen Körper, den gleichen übergroßen Kopf. Aber irgendetwas war anders.
„Treten Sie ruhig näher“, sagte Smeik. „Wir würden uns freuen, unser Lagerfeuer mit jedem Wanderer zu teilen, der freundlicher gesinnung ist.“
Das war der traditionelle Satz, den man nach der Atlantischen Wanderschaftsverordnung in einer solchen Situation aufzusagen hatte. Mit diesem Satz, den sich nattifftoffische Politiker ausgedacht hatten, die in ihrer Freizeit der Wanderei frönten, signalisierte man Gastfreundschaft und Höflichkeit – es schwang aber auch eine unterschwellige Drohung mit. Man gab deutlich zu verstehen, daß man sich gegen eventuelle Übergriffe tatkräftig zur Wehr setzen würde. Kein Gesetz schrieb vor, diese Floskel zu benutzen, aber sie war allgemein anerkannt und wurde in vielen Schulen gelehrt. Die korrekte Antwort darauf war: „Ich bedanke mich für die erwiesene Gastfreundschaft und gelobe, dieselbe nicht über das gebotene Maß zu strapazieren.“
„Ich bedanke mich für die erwiesene Gastfreundschaft und gelobe, dieselbe nicht über das gebotene Maß zu strapazieren“, erwiderte Oztafan Kolibril feierlich […]“

(S. 127)

Doch nun zur ersten der beiden oben angedeuteten Szenen. ich mag diese Stelle sehr, weil sie ein derart leidenschaftliches Plädoyer fürs Lesen ist, daß ich es zum Motto meiner Berufsauffassung gemacht habe. Eines noch vornweg: Die Wolpertinger bei Moers (Umdeutungen hierzulande bekannter Wesen sind ein beliebtes Spiel bei ihm) sind eine Mischung aus Wolf und Reh und vereinen damit Geruchssinn, Geschicklichkeit, Sträke und Angriffslust. Genaugenommen sind die zamonischen Wolpertinger regelrechte Alleskönner und damit so ziemlich das Gegenteil der hiesigen, verhuschten und scheuen Exemplare. Zu ihrer Ausbildung gehört denn auch die Schreibkunde:

„Ihr habt alle die Prüfung bestanden“, sagte die Lehrerin in einem Ton, als hätten sie ein unsühnbares Verbrechen begangen. „bildet euch nicht ein, daß ihr jetzt lesen und schreiben könt. Aber ihr habt euch das Werkzeug erworben, mit dem ihr jedes Wort entschlüsseln könnt – es befindet sich in euren Köpfen. Pflegt dieses Werkzeug gut, pflegt es so aufmerksam wie eure Zähne! Das beste Mittel dafür ist das Lesen. Lest, soviel ihr könnt! Lest Straßenschilder und Speisekarten, les die Anschläge im Bürgermeisteramt, lest von mir aus Schundliteratur – aber lest! Lest! Sonst seid ihr verloren!“

(S. 227)

Die zweite Stelle, die mich stark mit diesem Buch verbindet, kann ich hier unmöglich zitieren, denn es handelt sich um ein ganzes Kapitel. Genaugenommen sogar um mehrere, da durch die verschachtelte Konstruktion des Romanes die Geschichte nicht ununterbrochen erzählt wird. Es sei nur soviel gesagt: Ich fand sie kaum erträglich, so tiefgründig läßt Moers hier eine Vision wahr werden:

„Ich will [tick]„, rief er, „eine Maschine [tack] bauen, mit der ich den Tod kontrollieren kann! Wenn mir [tick] das gelingt, dann [tack] wird das Sterben keine Sache der [tick] Natur mehr sein – sondern [tack] der Kunst!“

(S. 475)

Nun, zum Abschluß noch der übliche Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

*In „Die Stadt der träumenden Bücher“ wimmelt es nur so von Weltliteratur. Ich spiele mit dem Gedanken, einen Wettbewerb auszurufen, bei dem alle beim „Ormen“ genannten Autoren und Buchtitel dechiffriert werden. Ich befürchte aber, es gibt im Netz bereits eine Liste…

Laßt euch nicht abspeisen

Meine politische Desillusionierung fand bereits im Jahr 1997 statt.
Damals gab es in diesem wunderbaren Land den sogenannten Lucky Streik, bei dem gegen verschiedene Fehlentwicklungen in der Hochschulpolitik protestiert wurde (restriktive Maßnahmen gegen ausländische Studierende (Slogan damals: „Ausländer bleiben! Kanther vertreiben!“), massive Streichungen in den Budgets, Überfüllungen der Hörsäle, nicht besetzte Lehrstühle, Kahlschlag im akademischen Mittelbau, Verringerung des Studienangebotes etc.). Obwohl die Probleme vor Ort durchaus nicht vollkommen identisch waren, gab es doch eine bundesweite Vernetzung, die einen beeindruckenden Effekt erzielen konnte. In Halle wußte man sehr schnell Bescheid, was in Gießen los war und umgekehrt. Die Studierenden hatten starken Rückhalt durch die Lehrenden (zumindest für meine Uni kann ich das bestätigen), da die angesprochenen Probleme ja keine rein studentischen waren, sondern die Qualität der Hochschulen generell in Frage stellten. So gab es wunderbare Aktionen mit den Lehrenden zusammen, mein Liebling waren die offenen Vorlesungen, die an öffentlichen Plätzen stattanden und damit dem Konzept entsprachen, die Anliegen der Studierenden „nach draußen“ zu tragen.

Nunja, was mich damals unglaublich deprimierte, war der Grund, warum die Proteste versiegten, obwohl nichts erreicht war. Zumindest für meine Universität kann ich sagen: Schuld waren im Wesentlichen die Semesterpause zum Jahresende und die Beruhigungspillen der Landespolitik. Nach der großen Veranstaltung auf dem Domplatz in Magdeburg, bei der versprochen wurde, die Wünsche der Studenten zu berücksichtigen (ja, konkreter war es nicht!), brach der Widerstand zusammen. Viele meiner KommilitonInnen glaubten tatsächlich, mit einer so unbestimmten, schwammig formulierten Zusage seien die Ziele erreicht und nun werde alles gut. Nach der Abstimmung in der Vollversammlung (in der selbst meine flammende Rede nicht wirkte 😉 ), habe ich den Glauben an meine Generation verloren. Wer so naiv ist, mit dem ist wohl keine Weltrevolution zu machen. Und da reden wir über die angebliche Elite, über die intellektuelle Speerspitze, über die Jugen, die uns dank ihrer progressiven Kraft gesellschaftlich weiterbringen soll. Und die ließ sich also einwickeln von durchschaubarem Politikergeschwafel. Weiter reichten die analytische Fähigkeiten wohl nicht…

Es lohnt wohl kaum zu erwähnen, daß von der Zusage nichts übrig blieb und die Pläne unverändert umgesetzt wurden, oder?
Ein Jahr später habe ich mich endgültig von jeglicher politischer Tätigkeit verabschiedet.
Aber, und da geht es mir wie Herrn Kaliban, gelegentlich wallen klassenkämpferische Nostalgiegefühle auf und so betrachte ich die derzeitigen Studierendenproteste, die sich interessanterweise um nahezu dieselben Themen drehen (wenn auch die Problematik inzwischen deutlich verschärft ist – wir hatten eben doch Recht 😉 ) mit deutlicher Sympathie.
Einen ausgezeichneten Kommentar zur diesjährigen Bewegung mit zahlreichen weiterführenden Links gibt es bei Julia Seeliger.
Ich möchte nur noch einen Wunsch äußern: Liebe Studierende, es ist zwar für viele Entwicklungen bereits zu spät, aber ihr habt völlig Recht, die Uni brennt und wenn noch irgendetwas gelöscht werden soll, dann haltet durch, laßt euch weder durch harmonische Feiertage samt Mamas Weihnachtsbraten (die euch Kraft geben mögen) noch durch Versprechungen wie das gestrige von Frau Schavan einlullen. Es müssen nicht alle Fehler der Vergangenheit wiederholt werden. Auch wenn ich mir bei den Ereignissen in Jena nicht sicher bin, ob das alle Beteiligten so sehen – ähnliches gab es bereits früher…

Anstelle eines Kommentars des Hausheiligen zum Thema gibt zum Abschluß einen wichtigen Hinweis, und zwar auf die DemoFibel, deren Beherzigung helfen kann, Eskalationen zu verhindern.
Denn schließlich, wie wir alten Revoluzzer ja wissen: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ (Che Guevara)

Das Buch zum Sonntag (23)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Sibylle Berg: Der Mann schläft

Ich habe Frau Berg gelegentlich bereits empfohlen. Ihr aktueller Roman, den ich heute empfehle, unterscheidet sich jedoch deutlich von „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot.“
Und zwar weniger stilistisch, da ist immer noch diese Prägnanz, diese Treffsicherheit der Sätze, als vielmehr inhaltlich. Wo jener Roman noch ätzend ist, geradezu vernichtend unsere Glücksillusionen zertrümmert, da ist dieser, ja, ich möchte geradezu sagen: warm. Sie beschreibt eine Liebe, die jenseits aller Kleider zerfetzenden und Verhütungsmittel verbrauchenden Ekstasen stattfindet.
Liebe, deren wesentliches Element das Verständnis, das Da-sein ist. Sibylle Berg meinte einmal in einem Interview: „Sex ist so was wie das Niesen. Das macht man halt mal. Das find ich unerheblich und auch nicht interessant zu beschreiben.“

Und, allen modernen Mythenerzählern von Candace Bushnell bis Janet Evanovich zum Trotz, ist für die Wahl von „Mr. Right“ weder das Aussehen noch die Frage der passenden Krawatte entscheidend. Nein, wirklich wichtig ist, jemanden zu haben, den man so sehr mag, daß man es 24 Stunden mit ihm aushalten möchte. Wichtig ist, ob jemand da ist, der merkt, wann man ein Stück Schokolade zum Aufheitern braucht. Wichtig ist, ob jemand da ist, an den man sich anschmiegen kann, wenn der Tag zu Ende geht.

In „Der Mann schläft“ erzählt Sibylle Berg davon, wie es ist, wenn man dies gefunden hat – und was passiert, wenn es abhanden kommt. Ohne missionarischen Eifer, aber bekanntermaßen schonungslos. Nicht ohne Hoffnung, aber frei von Illusionen.
Am liebsten würde ich das gesamte Buch zitieren, aber ihr sollt ja das Buch kaufen und lesen. 😉
Daher beschränke ich mich auf einige Stellen.

Ich hatte aufgehört zu träumen, von Freitreppen, auf denen ich in mein Schloss wandeln würde, Friedensnobelpreisen oder der Begegnung mit der großen Liebe. Dazu hatte ich sie schon zu oft getroffen. Dem ungeheuren theater, das uns allen ständig als Gradmesser der eigenen Gefühle vorgeführt wird, misstraute ich bereits nach dem Ende der Pubertät.
Da musste immer Besinnungslosigkeit sein und Kontrollverlust, Auflösung und unbedingt Seelenverwandschaft. Alles Zustände, die mir zuwider waren. Ich fand meine Seele nicht so überragend, dass ich mir noch einen mit den gleichen Unfähigkeiten gewünscht hätte.
Liebe wurde in der öffentlichen Wahrnehmung mit etwas Pathologischem gleichgesetzt und hatte mit weggebissener Unterwäsche und Schweiß zu tun. Dass es sich im besseren Fall um etwas Familiäres, Freundschaftliches handelte, war eine unpopuläre Idee.

(S. 66)

Hier noch ein Beispiel für Frau Bergs von mir so geschätzte Kunst, Sätze zu formulieren, die einfach sitzen. Diesmal mit Kontext:

Mein Bekanntenkreis hatte sich, außer durch das gewöhnliche Bekanntenkreissterben, auch durch den Umstand auffallend verkleinert, dass es mir kaum mehr gelang, irgendetwas ernst zu nehmen. Traf ich auf eitle Menschen, und das waren nicht wenige, schaute ich sie mit offenem Munde an, lauschte scheinbar ihren Ausführungen über ihre eigene Wichtigkeit, das neue Buch, den neuen Film, die neue Forschungsarbeit, die neue Philosophie, den Dreißigjährigen Krieg, die Reinkarnation von Energiefeldern, bis mir Speichel aus dem Mund floss und ich meine Augen wie bei schlechten Darbietungen epileptischer Anfälle zu verdrehen begann.
Es gab Leute, die glaubten, wenn sie nur genug über das Universum nachdächten, würde das auch umgekehrt funktionieren.

(S. 56f.)

Und hier eine meiner geschätzten 30 Lieblingsstellen:

Die Sonne schien, wir waren zusammen, unsere Gliedmaßen, wenn auch geschwollen, vorhanden, in seinem Universum bestand kein Grund für eine Verstimmung, er konnte sich nicht vorstellen, wie ich mich warum fühlte, und er wusste nicht, wie meiner Laune beizukommen war.
„Ich fahre rüber und hole dir neue Zeitungen und bringe ein bisschen ehrliches Brot mit“, schlug er vor und traf damit genau den Kern meines Heimwehs.
Die praktischen Angebote des Mannes, mich aus meiner schlechten Laune zu befreien, hatten bislang immer zum Erfolg geführt. Er holte Lieblingsessen, brachte Filme, fuhr mich zu Massagen oder durch Umgebungen, und nie wollte er mit mir über den Grund meiner Verstimmung reden. „Willst du wieder sterben?“ war seine Standardfrage, wenn ich ihn aus Augen wie erloschenen Kratern ansah.

(S. 261)

Lest dieses Buch. Weil es wichtig ist, zu erkennen (oder sich zu erinnern, erneut zu vergegenwärtigen…), daß vieles von dem, was gemeinhin als Kriterium herangezogen wird, um „den Richtigen“ oder „die Richtige“ zu finden, nichts als Kikifax ist. Entscheidend ist nicht, welche Hobbies man hat, welche Haarfarben bevorzugt werden oder ob der Musikgeschmack paßt. Wichtig sind ganz andere Dinge.
Auch wenn ich fürchte, daß diese Erkenntnis von selbst reifen muß.

Zum Abschluß der übliche Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

Und als Anhang ein paar Links zum Weiterlesen, -hören und -sehen. Allerdings seien all jene vorgewarnt, die gerne erst selbst ein Buch lesen, ehe sie Diskussionen und Gespräche darüber wahrnehmen wollen: Lieber erst lesen und dann nochmal herkommen. 😉

Dennis Scheck fährt Boot mit Sibylle Berg.

Frau Berg schreibt in der NZZ übers Älterwerden.

Ein erhellendes 10-Fragen-Interview mit Frau Berg in der FR.

Und ein halbstündiges ZDFaspekte-Gespräch mit Frau Berg.

Zudem möchte ich noch einmal auf die wirklich schöne Homepage von Frau Berg verweisen.

Das letzte Recht

Seit meiner Jugend beschäftigt mich das Thema „Suizid“ aus hier jetzt nicht näher zu benennenden Gründen.
Der Tod Robert Enkes, insbesondere jedoch die unglaubliche Berichterstattung in journalistischen (wenn man dieses Etikett noch zubilligen möchte) Beiträgen und in diversen sozialen Netzwerken hat mich daher nicht unberührt gelassen. Das für mich dabei erschreckende ist die Selbstreferentialität der Kommentatoren – es steht nicht der Mensch, der dort entschieden hat, aus dem Leben zu gehen, im Mittelpunkt, sondern nur die eigene Betroffenheit. Anstatt ihm die Würde und den Respekt zu lassen, der angeblich Hintergrund all der Äußerungen von „Boulevard“ über „Seriös“ und Fernsehen bis Twitter ist, wird er zur Projektionsfläche eitler Selbstbestätigungen oder debiler Jagd nach Klicks, Quoten und was sonst so Werbekunden beeindruckt. Näheres bei Niggemeier.

Seit Emil Durkheims inzwischen zum soziologischen Grundlagentext gewordener Untersuchung über den Selbstmord, scheint sich nicht viel getan zu haben. Im Gegenteil.

Meine Gedanken dazu mal wieder sehr viel besser formuliert, hat Frédéric Valin auf Spreeblick, dessen Beitrag ich hiermit dringend zur Lektüre empfehle.

Im Übrigen möchte ich noch Frau Bergs drastischen, aber gewohnt pointierten Beitrag auf Twitter dazu zitieren:

sich selber umbringen , ist das letzte verschissene recht, das wir sklaven haben! respektiert das

(nachzusehen hier)

Die Frage, wie vor diesem Hintergrund die Entscheidung zu bewerten ist, sich eher umbringen zu lassen und damit andere in psychisch schwer zu bewältigende Situationen zu bringen (und zumindest beim Lokführer geht es nicht um regelmäßige, zum Berufsbild gehörende Situationen), vermag ich nur prinzipiell und damit rein abstrakt zu beurteilen. Über Herrn Enke wage ich nicht, den Stab zu brechen.
Und dabei möchte ich es auch bewenden lassen. Für die Debatte verweise ich noch einmal auf den Originalbeitrag bei Spreeblick.

UPDATE (14.11.09): Berichterstattung geht auch anders. So zum Beispiel.

UPDATE 2 (18.11.09): Es überkam mich letzte Woche großes Grauen, betrachtete ich die weitere Berichterstattung des ach so qualitätsvollen Journalismus. Eine Zusammenfassung unter dem Aspekt des „Werther-Effekts“ findet sich bei Stefan Niggemeier. Ebenfalls lesenswert sind dort die Beiträge der letzten Woche zu diversen medialen Fehlleistungen. Insbesondere sei hier auf diesen, diesen und jenen Beitrag verwiesen.

Das Buch zum Sonntag (22)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Uwe Tellkamp: Der Turm

Zum Abschluß der zweiten Kulturwoche heute ein Buch, das zu den beeindruckendsten Werken gehört, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Tellkamps Buch spielt im Dresden der letzten sieben Jahre der DDR, von Breschnews Tod bis zum Mauerfall am 9. November 1989.
Die Handlung setzt ein mit dem 50. Geburtstag Richard Hoffmanns, Arzt an der Medizinischen Akademie Dresdens. Bei dieser Gelegenheit wird sogleich die Gesellschaft der „Türmer“ vorgestellt, bildungsbürgerliche Bewohner des „Turm“ benannten verfallenden Villenviertels.
Auf den folgenden 1000 Seiten entwirft Tellkamp ein dichtes, genaues und umfassendes Panorama der Spätzeit der DDR. Klar mit dem Focus auf und aus der Perspektive des Ersatzbürgertums (denn die bürgerliche Gesellschaft war ja überwunden, mithin gab es also auch kein Bürgertum mehr – und alles in allem ja blieb auch nur die bürgerlich-intellektuelle Attitüde bestehen, die materiellen Grundlagen, die zum Bürgertum dazugehören, waren gründlich vernichtet), aber die Lebensumstände der Protagonisten bringen es mit sich, daß dem Lesenden weitaus mehr gezeigt wird.
Die Literaturkritik hat sich weitgehend und ausführlich mit dem Roman befaßt, ich beschränke mich also bei der heutigen Empfehlung ganz allein auf meine persönlichen Leseerfahrungen, ohne sie in irgendeinen Kontext zu stellen.
Mir erschien der Roman als ein überzeugendes Bild mit glaubwürdigen Charakteren. Die Mechanismen, mit denen der tägliche Einkauf organisiert werden mußte, die Rücksichten, die im Beruf genommen werden mußten, die komplizierten, verwickelten Netzwerke, die es bedarf, um einen Keilriemen oder ein Ersatzteil für eine Gasheizung zu bekommen – das ist alles drin. Doch ich würde das Buch der geneigten Leserschaft nicht empfehlen, handelte es sich nur um ein Panoptikum heute bizarr anmutender Anektoden. Denn entlang des Lebensweges der Protagonisten zeigt Tellkamp die tiefgehenden Konflikte, die persönlichen Verwerfungen, ja die geradezu schizophrenen Verhaltensweisen in einer Gesellschaft, die permanent von Angst und Vorsicht vor einem übermächtig scheinenen Apparat (eine großartige Konstruktionsidee übrigens, den kompletten Apparat mit all seinen Ebenen an einen einzigen geographischen Ort zu versammeln), von Heimlichkeiten, von Mißtrauen auch dem Nächsten gegenüber beherrscht wurde. Eine Gesellschaft, die ihre Ideale zwar postulierte, aber gar nicht in der Lage war, sie auch zu leben.
„Geschichte aus einem versunkenen Land“ nennt Tellkamp seinen Roman und kaum eine Stadt wäre als Schauplatz geeigneter denn „Dresden – in den Musennestern wohnt die süße Krankheit gestern.“ (ein geradezu leitmotivisch wiederholter Satz), eine Stadt, deren Selbstverliebtheit und deren Schwelgen in der historischen Bedeutung gut zu einer melancholischen Grundstimmung in einem Roman über die Auflösung und den Zerfall einer Welt paßt. Daß es sich aber nichtsdestotrotz auch um eine Liebeserklärung an die Heimatstadt handelt, kam bei den Dresdnern des Jahres 2008 ebenso wenig an, wie 107 Jahre früher bei den Lübecker Bürgern in Sachen Thomas Mann (zu dessen „Buddenbrooks“ übrigens ebenso wie zu Tellkamps „Turm“ Schlüssellisten existieren). Doch dies nur nebenbei.
Die geneigte Leserschaft sei jedoch auf etwas hingewiesen: Die Sprache des Romans ist den handelnden Figuren angepaßt. In Kapiteln, in denen beispielsweise eine hektische, plappernde Tante die Hauptrolle spielt, liest sich auch das Buch deutlich hektischer und schneller, als in Kapiteln, in denen ein schöngeistiger Lektor mit dem Schwerpunkt auf klassischer Literatur im Mittelpunkt steht. Das muß man allerdings auch mögen, sonst wird es sehr anstrengend (ich empfehle in diesem Falle allerdings: Überfliegen, nicht aufgeben).
Es fällt mir schwer, ein paar Stellen zu zitieren, ohne zu viel vom Handlungsstrang zu verraten. Ich versuchs trotzdem mal:

Zunächst einmal eine Stelle, die ich gerne zitiere, um den Unterschied zwischen Geschriebenem und Literatur zu verdeutlichen:

Magie war ein Wort, das Meno nicht liebte. Er hatte Ehrfurcht vor dem, wofür es stand und was es ausdrückte, nur unzulänglich seiner Meinung nach und etwas hilflos, „ein Etikett auf einem Einweckglas, in dem sich die Dinge befinden, wenn wir uns erinnern“, wie er sagte, wenn Christian, empört über seine eigene Wortlosigkeit und gequält von der Anstrengung, Menos Forderung nach beschreibender Präzision zu erfüllen, kurzen Prozeß machen wollte, indem er dieses Wort gebrauchte, um etwas zu charakterisieren, das ihn auf noch unerklärliche Weise faszinierte. „Du gebrauchst es wie eine Fliegenklatsche, denn Totschlag ist natürlich auch eine Methode, etwas zu bannen“, bemerkte Meno dazu, „aber damit umkreist du nur deine Hilflosigkeit, wie es schlechte Schriftsteller tun, die nicht fähig sind, ein Phänomen zu erzeugen – was der eigentlich schöpferische Akt wäre -, sondern nur dazu imstande sind, über das Phänomen zu reden; eben ‚Magie‘ zu sagen, statt aus Worten etwas herzustellen, das sie hat.“

(S. 273)

Dazu noch eine kurze Stelle, die ich bemerkenswert finde, nicht zuletzt auch im Hinblick auf Mielkes legendären „Ich liebe – ich liebe doch alle – alle Menschen.“-Auftritt in der Volkskammer:

(Barsano)“Wir haben geglaubt, daß alle Menschen im Grunde gut sind. Wenn wir ihnen genügend zu essen zu essen geben, Wohnung, Kleidung, dann müßten sie nicht mehr böse sein, es wäre nicht mehr nötig. Ein Irrtum, werch ein Illtum.

(S. 950)

Und zum Schluß noch eine der oben erwähnten anektodenhaften Erzählungen, die nichtsdestotrotz bezeichnend sind:

„Tja, Nachtschicht. Und von den Zahnbürsten nix mehr übrig. Hat sich natürlich wie ´n Lauffeuer verbreitet quer durch die ganze Republik, daß es wahrscheinlich in der nächsten Zeit ´nen Zahnbürstenengpaß geben wird. Wir mußten reagieren! Die Leute haben ja gleich wie die Verrückten Zahnbürsten gehortet, da gab´s dann wirklich ´nen Engpaß. Aber die Japaner haben uns geholfen. Sofort ein Flugzeug mit Zahnbürsten geschickt. Wir haben ihnen dafür Fachwerk gegeben, von ´n paar Häusern in der Braunkohle, die mußten sowieso abgerissen werden. Sind die Samurais ja ganz scharf drauf. Bauen die originalgetreu wieder auf! Und wir hatten Zahnbürsten, made in Hongkong, denn die Japaner importieren das auch.“

(S. 925)

Erschütternd wird der Roman in der Beschreibung dessen, was euphemistisch „Bewährung in der Produktion“ genannt wird. Das Strafsystem der NVA, die psychische Folter, die Versuche, eine Persönlichkeit zu zerstören – es erinnert daran, daß die DDR nicht nur Schnatterinchen und Pittiplatsch war (was Frau Hensel ja kaum vorzuwerfen ist, da ihre Erinnerungen generationenbedingt andere waren). Die Kapitel, in denen beschrieben wird, was es heißt „im Karbid“ zu arbeiten, fand ich nur schwer auszuhalten.

Zum Abschluß noch der Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

Gachmurets zweite Kulturwoche: Radio

Radio: Japan-A-Radio

Es gibt Tage, da schalte ich einen ganzen Tag lang obigen Radiosender ein. Bevorzugt, wenn es Dinge zu räumen (zum Beispiel endlich mal die Belletristik nach dem Umzug wieder alphabetisiert werden soll) oder zu packen (für eine längere Reise, zum Beispiel) gilt oder der Frühjahrsputz ansteht.
Die japanische Kultur ist in höchstem Maße hybrid. Ob Schrift (chinesische Schriftzeichen), Religion (Buddhismus), oder HighTech – stets schien das Credo zu gelten: „Oh, feine Sache – aber das können wir noch besser machen.“
Und dieses Prinzip gilt auch für japanische Popmusik. Nicht zuletzt durch die US-amerikanischen Militärbasen und insbesondere deren Insassen kam die japanische Kultur mit westlicher Unterhaltungsmusik in Berührung. Und dachte sich: „Feine Sache das, aber das können wir noch besser machen.“ Das Phänomen, das dabei entstand, betiteln die üblichen Genre-Etiketten-Verteiler als J-Pop. Vereint sind dabei Elemente westlicher Musik (und zwar keineswegs nur hierzulande als U-Musik bezeichneter Werke), insbesondere Rhythmus und Instrumentierung, und fernöstliche Musiktraditionen.
Die Ergebnisse, die das zeitigt, sind vielfältig in Qualität und Ausdrucksformen, insbesondere, da die japanischen Unterhaltungskünstler auch vor anderen Stilrichtungen westlicher Musik nicht Halt machten. So gibt es eben auch J-Ska, J-Rock etc.
Ein Radiosender, der sich dieser Bandbreite annimmt, ist Japan-A-Radio.
Beim Einschalten sollte allerdings bedacht werden, daß Japan in einer Zeitzone liegt, die der unseren ca. 8 Stunden voraus ist. Das macht sich in der Musikauswahl bemerkbar. Abends um sieben gibt es also durchaus mal eher bombastisch-getragenes zu hören, weil dann selbst in Japan mal Ruhezeit ist, schon zwei Stunden später geht es dann aber gerne mal mit erheblich erhöhter Beatzahl zur Sache, weil es gilt, aufzustehen. Tagsüber ist das aber ansonsten kein größeres Problem und man kann prima zuhören. Im Windows-Media-Player zeigt der Stream auch die gespielten Titel an, bei itunes hat er das, zumindest bei mir, nicht.
Um das eine oder andere noch einmal zu verdeutlichen, hier ein paar Musikbeispiele.

Den Anfang macht eine Künstlerin, die, nachdem sie in Fernost bereits höchst etabliert ist, zur Zeit sehr stark in den USA vermarktet wird. Warum, sollte erkennbar sein:

Doch es geht auch anders. Utada Hikaru ist eine meine ausgesprochenen Lieblingskünstlerinnen, und zwar ganz allgemein gesprochen. Ihr Album „Deep River“ werde ich vielleicht gelegentlich noch einmal gesondert vorstellen. Für heute soll dieses Beispiel genügen:

Doch natürlich gibt es auch in Japan Casting-Shows. Allerdings finde ich die Ergebnisse sehr viel amüsanter als die hiesigen. Diese schräge, schrille, durchaus ausgeflippte Musik finde ich höchst erfrischend. Allerdings sei die geneigte Leserschaft gewarnt: Die meisten Menschen dürften es eher enervierend finde. Aber es gibt ja Stopp-Tasten:

(Dieses Video sah ich übrigens zum ersten Mal auf der Leipziger Buchmesse)

Natürlich gibt es auch ruhigere Töne, hier mal ein Beispiel von Ayumi Hamasaki, das problemlos auch in hiesigen Radiostationen laufen könnte:

Es wird Zeit, mal eine etwas andere Note hereinzubringen. Die folgende Band läßt sich unter J-Ska einsortieren. Und klingt großartig.

Yum!Yum!Orange lohnen eine intensivere Beschäftigung, die machen nämlich Riesenspaß:

Wer annahm, Streetpunk sei tot, kennt die umfangreiche japanische RockSzene nicht. Auch wenn die japanischen Spielarten Puristen wohl eher nicht zusagen werden, denn, wie gesagt, die japanische Kultur ist höchst hybrid. Hier mal die Band B-Dash:

Breiten Raum im J-Pop nehmen natürlich Filmmusiken ein. Und die klingen nicht selten so:

(also im Wesentlichen: Nett. Oder, um mal wieder mit dem Hitchhikers Guide zu sprechen: Größtenteils harmlos.)

In Japan wird über alles und jeden gesungen. Es gibt Lieder über Milch, Fisch und natürlich auch zum Kochen. Wer tapfer ist und kein Problem mit extremer Niedlichkeit hat, kann sich gerne mal an diesem Kulturschock versuchen:

UPDATE: 28.03.2010: Leider finde ich keine vollständige Version mehr auf youtube, mußte das Video daher durch eine gekürzte Variante ersetzen. Aber ich denke, man bekommt auch so eine Vorstellung davon. 😉
Durchgehalten? Prima. Dann zum Abschluß noch ein Schmankerl, bei dem nun endgültig Grenzen überschritten werden. Hier vom J-Ska zum (Latin-)Jazz:

Wer mit all dem nichts anfangen kann, dessen Musikgeschmack ist vielleicht nicht passend zur heute vorgestellten Radiostation. Sollte dem ein oder anderen in der geneigten Leserschaft etwas gefallen haben – tune in. Es gilt, einen Musikkosmos zu entdecken. 😉

Gachmurets zweite Kulturwoche: Anime

Anime: Akira

In der ersten Kulturwoche empfahl ich bereits einen Film, der nach Meinung eines Rezensenten dazu geeignet war, das Genre des Animationsfilmes neu zu denken.
Ähnliches ließe sich über „Akira“ sagen. Wenn auch in der westlichen, insbesondere der europäischen Wahrnehmung japanischer Animationsfilme der Paukenschlag, mit dem dieser Film auftrat noch weit höher eingeschätzt werden muß, als in Japan.
Im Gegensatz zu Miyazakis Arbeiten, insbesondere sei hier Prinzessin Mononoke zu nennen, die durchaus Türöffnerfunktion haben, bleibt „Akira“ ein durchweg japanischer Film – wenn auch mit einer Erzählstruktur, die westlicher Gewohnheit eher liegen mag, als sagen wir mal „Ghost in the Shell“, über den bei anderer Gelegenheit noch zu reden sein wird.
„Akira“ ist ein düsterer Film, der klassisch gewordene Themen der Manga- und Anime-Welt aufgreift. Basierend auf seiner gleichnamigen Manga-Serie erzählt Otomo Katsuhiro vom Neo-Tokio des Jahres 2019, einige Jahre nach dem dritten Weltkrieg (eine UrKatastrophe dieser Art ist durchaus gängige Voraussetzung für diverse Zukunftsszenarien, mögen sie nun eher technisch oder eher mythisch motiviert sein). Die Mitglieder einer Motorrad-Gang begegnen dabei einem kleinen Jungen, der wie ein Greis aussieht, jedoch über übernatürliche Fähigkeiten verfügt.
Tetsuo und Kaneda, befreundete Hauptfiguren der Gang, sind anschließend die (offensichtlichen) Protagonisten eines im Hintergrund tobenden Kampfes um „Akira“, in Kälteschlaf versetztes Erbe der Forschung vor dem Krieg.
Die zutiefst ethischen Fragen nach den Grenzen menschlicher Forschung, nach der Verantwortung für die Welt, in der wir leben, sind Grundtopoi japanischer Mangas und der mit ihnen eng verwandten Animes.
Seit Jahrzehnten exerzieren sie dies in allen Facetten durch, ob es offensichtlich und für jeden erkennbar um die Zerstörung der des Gleichgewichts mit der und in der Natur (Prinzessin Mononoke, Miyazaki hat einen stark westlichen Erzählstil, was seine Arbeiten für das hiesige Publikum leichter zugänglich macht) oder ob es verwickelt und kaum durchschaubar um die Abhängigkeit vom Funktionieren technischer Systeme (Ghost in the Shell) oder die Frage nach menschlicher Identität überhaupt geht (Heads) – erst mit Akira begann man außerhalb Japans wahrzunehmen, daß es sich hier nicht nur um Kindergeschichten handelt. Ein Mißverständnis im Übrigen, das auch bis heute nicht völlig ausgeräumt ist.
Viel zu leicht läßt man sich vom grellen, bunten Kostüm oder den natürlich auch existierenden schlichten, tatsächlich für kleine Kinder geschriebenen Geschichten, dazu verleiten, die zeitgenössische Ausdrucksform der Erzählkultur einer uralten Zivilisation leichtfertig abzutun (tut mir Leid, drunter tu ich´s nicht. 😉 ). Das wäre in etwa so sinnvoll wie das deutsche Kulturschaffen nach Prinzessin Lillifee und Benjamin Blümchen zu beurteilen.
Abschließend sei noch auf die hervorragende technische Qualität der Umsetzung hingewiesen. Natürlich geht es hier genretypisch hoch her, was den Einsatz explosiver Mittel angeht, doch ich bitte wirklich eindringlich, nicht zu vergessen, daß nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Entscheidend sollte doch nicht die gewählt Ausdrucksform, sondern immer die künstlerische Aussage sein. Wer sich wirklich darauf einläßt, kann in „Akira“ weit mehr sehen, als ein paar gut gezeichnete Explosionen.

Die Mangas gibt es, leider nur in gespiegelter Leserichtung, hier.
Der Film ist im gut sortierten Fachhandel erhältlich, oder zum Beispiel hier.

Zum Schluß mal noch den offiziellen Trailer zum Blue-Ray-Start, mit einer kurzen Anmerkung: Das im Hintergrund gesungene Lied ist uralt, es kennt jeder, aber keiner weiß mehr, was es bedeutet. Und im Film selbst erzeugt es in der dortigen Version an der passenden Stelle ein sehr unbehagliches Gefühl.

Gachmurets zweite Kulturwoche: Liedermacher

Liedermacher: Hannes Wader

Zu den wenigen musikalischen Prägungen meiner Jugend, die ich heute nicht ausschließlich mit dieser rührseligen Mischung aus Melancholie und Peinlichkeit höre, die nicht selten beim Wiederhören der Musik aus der eigenen pubertären Phase entsteht, sondern aus Überzeugung und mit Genuß höre, zählt Hannes Wader.
Der Typus des klassischen politischen Singer/Songwriters mit Verpflichtung zum Folk, den Wader verkörpert, muß auf das heutige Publikum massiv anachronistisch wirken.
Der komplette Verzicht auf Effekthascherei, das Setzen auf die reine Überzeugungskraft des Wortes, auf die Aufnahmefähigkeit des Publikums, das Vertrauen darauf, daß einem zugehört wird (und zwar länger als 3 Minuten) – das wirkt heute seltsam.
Es gibt Songs von Wader, die sind sieben, acht, manchmal sogar 12 Minuten (Der Tankerkönig, und der ist noch nicht mal gesungen) lang und bestehen aus nichts anderem als Text, Melodie und Gitarrenbegleitung (also, eine Gitarre, akustisch).
Zuhören ist also Pflicht, lohnt sich aber auch.
Die große Zeit der Liedermacher hierzulande waren die Jahre nach 68, vor allem also die 70er und die Zeit der Friedensbewegung in den 80ern. Diese Zeit voll bunter, manchmal auch irrsinniger Ideen spiegelt sich auch in Waders umfangreichem, vielfältigen Werk der letzten Jahrzehnte.
Neben vielen politischen Liedern mit Zeitbezug, proletarische Kampflieder, Volkslieder in hochdeutsch und Platt und Lieder aus dem Alltag. Nicht alles ist also auch heute noch uneingeschränkt zu empfehlen. 😉
Hannes Wader ist aber vor allem ein sehr genauer Beobachter, Figuren wie die Anke aus dem Bioladen sind treffliche Beschreibungen so mancher Zeitgenossen.
Und es gibt eben wahre Perlen, die den Kauf einer Compilation als angemessen erscheinen lassen sollten (wie diese oder diese) und eine solche möchte ich der geneigten Leserschaft heute vorstellen. Ich empfehle dieses Lied seit vielen Jahren als Entscheidungshilfe für junge Männer und Frauen, die vorhaben, Soldat zu werden. Wenn er oder sie danach immer noch zur Armee will, so sei es. Falls nicht, ist Soldatsein vielleicht nicht das richtige für den weiteren Lebensweg.

P.S.: Wie oft bei seinen besten Sachen, stammt hier nur der Text von ihm. Er textet meiner Meinung nach deutlich besser als er komponiert.
P.P.S.: Ich habe ihn bei einem Auftritt 2004 auf der Burg Waldeck mit Lydie Auvray gesehen. Mir schien es, als sei es ihm eine Verpflichtung, es erneut zu singen – und mir schien Verzweiflung darüber, es wieder singen zu müssen in seinem Gesicht zu liegen. Kann aber auch meine Überinterpretation sein.

Gachmurets zweite Kulturwoche: Film

Film: Blutige Erdbeeren

Ilja Ehrenburg schreibt in seinen Memoiren, daß Menschen nicht aus der Geschichte lernen, weil sie nicht in der Lage seien, aus Erfahrungen anderer zu lernen, sondern nur aus den eigenen Erfahrungen lernten.
Ein Mensch, der wie Ehrenburg (1890-1967) das 20. Jahrhundert in all seinen Irrwegen erlebt hat, kann wohl auch kaum zu einem anderen Schluß kommen. Und wahrscheinlich hat er Recht. Die Anzeichen dafür, daß er falsch liegen könnte, sind jedenfalls rar.
Nichtsdestotrotz hoffe ich sehr, daß es sich nicht um eine anthropologische Grundkonstante handelt, denn es wäre sehr wichtig, endlich mal aus der Geschichte zu lernen. Um dies zu ermöglichen, bedarf es jedoch der Erinnerung.
Und so gilt es immer wieder, sich das ein oder andere in Erinnerung zu rufen, um aktuelle Entwicklungen einzuschätzen und einordnen zu können.
Hilfreich kann dabei die Kunst sein, weil sie eine Mittlerfunktion zu übernehmen vermag.
Ich möchte heute daran erinnern, daß viele unserer heute selbstverständlichen Ausdrucksformen des politischen Protestes gar nicht so selbstverständlich sind. Daß es keineswegs immer und überall nur böse Schurkenstaaten waren, die Studentenproteste niederknüppelten, die auf Unibesetzungen mit brutaler Gewalt reagierten, die Opposition nicht duldeten. Es waren durchaus Staaten dabei, die sich auf ihre demokratische Tradition und Grundverfassung eine Menge einbildeten (und es auch heute noch tun).
Der Film „Blutige Erdbeeren“ beruht auf dem Buch „Das Erdbeer-Manifest“ von James S. Kunen, das von den Ereignissen der Studentenrevolte an der Columbia-Univerität 1968 berichtet und erzählt die Geschichte des Studenten Simon James, seines Zeichens eher Sonderling aus Kansas als strahlender Mittelpunkt des Studentenlebens. Durch die Studentin Linda gerät er allerdings in die politischen Aktivitäten, wird selbst politisiert und aktiver Teilnehmer. Dies alles vor dem Hintergrund einer zunehmenden Eskalation der Gesamtsituation.
„Blutige Erdbeeren“ ist sicher kein Meilenstein des modernen Kinos, aber er ist gut gemacht (den Preis der Jury in Cannes bekommt man ja nun auch nicht mal eben so) und er fängt eine Stimmung sehr gut ein, die in solchen Situationen immer wieder entsteht, zeigt, was geschieht, wenn Sturheit, Arroganz und Dogmatismus die Regie übernehmen. Die zeitliche Nähe zu den Ereignissen (der Film erschien 1970) kommt ihm dabei sicher zu Gute.
Der Film, und insbesondere seine Schlußszenen, gehört zu den prägendsten Erfahrungen meiner Jugend. Nur wenige Dinge haben mich stärker politisiert, haben meinem Mißtrauen gegen staatliche Obrigkeit und den Bestand und die Gültigkeit von Normen und Werten stärkere Bilder gegeben.
Doch unerheblich von meiner perösnlichen Betroffenheit bleibt der Film ein künstlerisches Dokument der seinerzeitigen Stimmung und ein Aufruf dazu, nicht zu vergessen und nichts als gegeben hinzunehmen.
Den Soundtrack steuerten übrigens zu erheblichen Teilen Crosby, Stills, Nash & Young bei, die sich ja auch nach einigen Jahrzehnten gezwungen sahen, daran zu erinnern, daß sich weniger ändert, als wünschenswert wäre.
Zu kaufen gibt es „Blutige Erdbeeren“ auf DVD, zum Beispiel hier.

Eine der ungeklärten Fragen, die mich mit dem Film verbindet, ist übrigens die, was zum Henker den StuRa Halle beim Lucky Streik geritten hatte, „Blutige Erdbeeren“ im Tscherny zu zeigen. Für Studenten im Protest ist der Film eher nicht zur Motivation geeignet. So ging der Streik ja auch zu Ende…

Gachmurets zweite Kulturwoche: Musik

Musik: The Beautiful South

Über britischen Humor, ja über die Eigenartigkeit der Briten generell wurden bereits regalmeterfüllend (oder, wie wir wohl bald schreiben müssen, um noch verstanden zu werden: gigabytespeicherfüllend) Texte geschrieben, nicht wenige, und gerade einige der besten, von Briten selbst.
Wahrscheinlich ist da auch etwas dran. Einer meiner gelegentlich angebrachten Redewendungen lautet: „Man sollte Menschen nie zu lange alleine lassen, die werden seltsam.“
Was ich seinerzeit auf Japan münzte, gilt durchaus auch für andere Inseln (die Briten haben sich ja die sonst für den interkulturellen Austausch üblichen Nachbarsbesuche seit 1066 immer wieder erfolgreich verbeten).
Diese These von der Eigenart britischer Kultur unterstützt auch die Bandgeschichte von „The Beautiful South“. Die Band ist nämlich ein rein britisches Phänomen. Im Vereinigten Königreich sehr populär und mit dementsprechenden in die Millionen gehenden Verkaufserfolgen, sieht es im Rest der Welt doch eher mau aus. Und das kann durchaus an den Texten liegen. Diese sagen nämlich nicht selten etwas völlig anderes aus, als die musikalische Umsetzung beim Mal-eben-nebenbei-hören zunächst vermuten ließe. Ganz im Gegenteil.
Nicht selten sind gerade ganz freundlich und nett daherkommende Liedchen in Wahrheit ätzende Abrechnungen, beispielsweise mit Spießertum oder Doppelmoral.
Freilich, dafür muß man zuhören und auch noch verstehen, was zumindest ein Erklärungsansatz für den nicht üppigen Erfolg im nichtenglischen Sprachraum sein könnte.
Es gibt viele Gründe, warum ich das Lied besonders schätze, mit dem ich der geneigten Leserschaft „The Beautiful South“ heute vorstellen möchte. Aber ich möchte euch nicht des Vergnügens berauben, unvoreingenommen zuzuhören.
Nur soviel: Ich hörte das Lied zum ersten Mal im ICE-Radio, so ganz nebenbei, ohne genau hinzuhören. Ihr dürft raten, an welcher Stelle ich stutzig wurde und genauer hinhörte.

P.S.: Als Anektode zum Schluß: 2007 lösten sich „The Beautiful South“ aufgrund „musikalischer Ähnlichkeiten“ auf. Finde ich ja very british. 😉