Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:
William Golding: Herr der Fliegen
Demokratie müsse täglich erkämpft und gelebt werden, heißt es in Sonntagsreden diverser Politiker. Ich bin mir nicht sicher, ob damit immer mehr gemeint ist als die Forderung nach Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes.
Im Prinzip richtig ist der Satz aber trotzdem.
William Goldings „Herr der Fliegen“ ist eine Parabel auf die Zerbrechlichkeit des kulturellen Gestus, den wir uns zugelegt haben. Eine Parabel auf unsere kulturelle Arroganz, die uns glauben läßt, wir hier, wir hätten nun aber wirklich ein für alle Mal herausgefunden, wie das mit dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest so läuft.
„Herr der Fliegen“, publiziert 1954, ist geprägt von den Erfahrungen des zweiten Weltkriegs – ein Ereignis im Übrigen, das uns Demut lehren sollte, denn welch größere Bankrotterklärung des westlichen Lebensmodells gäbe es wohl sonst?
In seinem Roman läßt Golding eine Gruppe englischer Schüler nach einem Flugzeugabsturz auf einer unbewohnten Insel stranden. Auf sich allein gestellt, beginnen sie nun, ihr Leben dort zu organisieren. Und zwar so, wie sie es kennen gelernt haben und wie es vernünftig zu sein scheint:
Er hob das Muschelhorn hoch. „Ich glaub, wir brauchen einen Anführer, dann geht das besser.“
„Einen Anführer! Ja, einen Anführer!“
„Das mache ich am besten“, sagte jack mit ganz selbstverständlicher Anmaßung, „ich bin Kapitelsänger und Klassensenior. Und ich kann das hohe C singen.“
Erneutes Stimmengewirr.
„Also gut“, sagte Jack, „ich -“
Er zögerte. Der Dunkelhaarige, Roger, gab endlich seine Zurückhaltung auf. „Am besten, wir stimmen ab.“
„Ja!“
„Wir wählen unsern Anführer!“
„Au ja! Los, wir stimmen ab!“
Eine Wahl, das war wie ein Spielzeug, fast so unterhaltend wie das Muschelhorn. Jack versuchte aufzubegehren, aber die Versammlung leitete jetzt nicht mehr der allgemeine Wunsch nach einem Anführer, man wollte Ralph einfach als Anführer ausrufen. Keiner hätte dafür einen Grund anzugeben vermocht; Intelligenz hatte bisher nur Piggy bewiesen, und die offensichtliche Führerpersönlichkeit war Jack. Aber wie Ralph so dasaß, umgab ihn etwas Ruhiges, das ihn aus den anderen heraushob; weiter sprach für ihn sein anziehendes Äußere; und hinter ihm stand, zwar unausgesprochen, aber um so wirksamer, die Zauberkraft des Muschelhorns. Er hatte geblasen, er hatte auf der Plattform auf sie gewartet mit dem gebrechlichen Ding auf den Knien, er war etwas ‚Besonderes‘.
(S. 28)*
Und nachdem klar war, daß es sich um eine Insel handelte und auf kurze Sicht wohl niemand käme, sie zu holen:
„Erwachsene sind keine da. Wir müssen uns also selbst um uns kümmern.“
Ein Summen ging durch die Versammlung und erstarb wieder.
„Und noch was: Es geht nicht, daß alle gleichzeitig reden. Wer was sagen will, hebt die Hand, wie in der Schule.“
Er hielt das Muschelhorn vors Gesicht und sah über das Mundstück hinweg.
„Dann kriegt er von mir das Muschelhorn.“
„Muschelhorn?“
„So heißt das Ding hier. Der Nächste kriegt jetzt die Muschel. Er kann sie halten, solang er spricht.“
„Aber -“
„Aber guck mal -“
„Und keiner darf ihn unterbrechen. Nur ich.“
(S. 41)*
Das Muschelhorn ist ein wichtiges Symbol im Roman, der gerne mit Mythologisierungen arbeitet. Das Nobelpreiskommitte meinte 1983 bei der Verleihung: ?für seine Romane, die mit der Anschaulichkeit realistischer Erzählkunst und der vieldeutigen Allgemeingültigkeit des Mythos menschliche Bedingungen in der heutigen Welt beleuchten?
That´s it.
Genau das ist es.
Doch ich kann über dieses Buch nicht sprechen, ohne eine Schlüsselstelle zu zitieren:
Ralph hat völlig recht. Wir brauchen mehr Ordnung und müssen sie einhalten. Schließlich sind wir keine Wilden. Wir sind Engländer, und die Engländer machen immer alles am besten. Wir müssen also immer das Richtige tun.
(S. 52)*
Soweit Jack, Anführer der Chorknaben, die auf der Insel zu Jägern werden.
Die Gültigkeit dieses Satzes wird auf eine harte Probe gestellt, Golding zeichnet hier ein präzises Bild davon, was Menschen eigentlich umtreibt, wenn sie versuchen, eine Gesellschaft aufzubauen. Welche Konflikte entstehen, wie sie gelöst werden und wo die Stimme der Vernunft bleibt, was mit Schwächeren geschieht – und er schont den Lesenden nicht.
Es kann sehr schnell geschehen, daß man beim Lesen das Alter der Protagonisten (ca. 6-12) vergißt, was das Erschrecken erhöht, wenn es dann wieder klar wird.
„Herr der Fliegen“ ist kein Epos, es ist ein eher kurzer Roman, aber sehr dicht geschrieben, völlig ohne Moralisierung, was die Demontage aber noch deutlicher macht. Ich habe mit den Protagonisten gelitten und gejubelt, gehofft und gestaunt – und war tief erschüttert, als ich das Buch nach der letzten Seite weglegte.
Meine Erstlektüre ist nun ca. 15 Jahre her. Seitdem habe ich das schmale Buch immer wieder zur Hand genommen – und es bleibt eine starke Parabel auf das dünne Band, das unsere Welt zusammenhält.
Und nun noch der übliche Verweis auf die
zitiert nach: Golding, William: Herr der Fliegen. Volk und Welt. Berlin 1985 (DNB)