Ursula, hilf!

Vor kurzem erschien bei C.H. Beck ein höchst interessantes Buch, in dem mittelalterliche Bittbriefe an den Papst publiziert wurden. Hinter diesen Briefen steckte ein ganz ähnliches Denkmuster wie in vergleichbaren Gesuchen an weltliche Herrscher:
Der gute König entscheidet und greift ein, wenn sonst auf Erden keine Gerechtigkeit zu erwarten ist. Wenn sonst niemand mehr hilft: Die höchste verfüpgbare Instanz muß es richten, an ihre unbestechliche und über jeden Zweifel erhabene Gerechtigkeit muß appelliert werden. Und vor allem: Eben diese Instanz hat auch noch die allumfassende Macht, diese Gerechtigkeit auch durchzusetzen.
Das ist ein ganz wesentliches Element der mittelalterlichen Welt, denn der gute und gerechte Herrscher ist ein entscheidendes Legitmitationskriterium der Monarchie (wie überhaupt Herrschaft ja immer nur akzeptiert ist, wenn sie als gut und gerecht erscheint, wohlgemerkt: erscheint. Grundlegend dazu: Machiavelli: Der Fürst)

Via Spreeblick stieß ich nun auf folgenden, höchst lesenswerten offenen Brief, den ich für ein erschütterndes Dokument halte:

Jörg Kahle: Offener Brief an Frau von der Leyen und Frau Schröder

Ein weiser Herrscher, der sich den Ruf der Gerechtigkeit erhalten wollte, tat folgendes: Hatte ein Fall eine ausreichende Dramatik, versprach also eine für den ja meist armen Bittsteller günstige Entscheidung ausreichende Publizität, so entschied der Herrscher für ihn.
Das hatte den wunderbaren Effekt, daß überall natürlich ein Loblied darauf gesungen wurde, wie unerhört gerechtigkeitsliebend der Herrscher war, gleichzeitig aber jegliches Nachdenken über tieferliegende, systemische Ursachen gar nicht erst aufkommt. Ein spektakuläres Einschreiten in einem einzigen Fall – alle jubeln und die Welt ist wieder in Ordnung, der potentielle Umstürzler ruhig gestellt.
Richtig dosiert bedeutete dies eine ausgezeichnete Methode, um den Eindruck zu erwecken, am System selbst liege es nicht, es gibt immer nur ein paar einzelne Dinge, die korrigiert werden müssten.
Oder, wie Frau Merkel gestern sagte, „das, was fehlerhaft war, zu bereinigen und zu verändern.”

Ab jetzt werden Wetten angenommen, wie das Haus von der Leyen wohl reagieren wird.

Wir sind keinen Schritt weitergekommen seit 1250 – die Menschen schreiben (wieder) Bittbriefe an die Herrschaft, weil sie keinen anderen Ausweg mehr kennen. Und das finde ich erschütternd.

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