Eine Messe ist eine feine Sache. Viele Unternehmen kommen mit vielen bunten Produkten, um zu zeigen, wie toll die sind – und natürlich wie toll sie selber sind.
Und das MessePublikum wiederum läßt sich gerne verführen, staunt die vielen bunten Dinge an und läßt sich bereitwillig in Kaufbereitschaft versetzen.
So auch vor nun doch schon einer Woche in Leipzig. Wie bei solcherlei Voraussetzungen nicht anders zu erwarten, gab es auch hier einiges zu erleben.
Meinen ersten Aufreger hatte ich bereits in der Woche vor Beginn der Leipziger Großinszenierung, als sich die Kölner (die irgendetwas gegen Leipzig zu haben scheinen) in den Mittelpunkt rückten mit ihrer klar als Konfrontation konzipierten lit.cologne (inzwischen gibt es ja nur noch terminliche Nähe mit Überschneidung, anfangs setzten die ja den Termin auf den Leipziger Messetermin) in den Mittelpunkt rückten. Wogegen nichts zu sagen ist, Literatur kann es nicht schaden, zusätzliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Nach welch kruder Definition allerdings die lit.cologne mit ihren 175 Veranstaltungen als „größtes Literaturfestival Europas“ zu bezeichnen wäre (so geschehen im Morgenmagazin der Öffentlich-Rechtlichen), ist mir schleierhaft. Und brachte mich, wahrscheinlich nicht ohne eine gute Portion Lokalpatriotismus, durchaus auf.
Messe in Leipzig, das ist immer auch „Leipzig liest“ – die vielleicht rettende Idee der Buchmesse, um sich neben der übermächtigen Geschäftsmesse in Frankfurt zu halten. Der im Prinzip winzige Buchmarkt (das Gesamtvolumen des Marktes erreicht keine 10 Milliarden EUR, befindet sich also ungefähr auf dem Niveau von AldiNord) benötigt keine zwei Geschäftsmessen. Die Idee, das aus historischen Gründen sowieso buchmessenbegeisterte Leipziger Publikum also auszunutzen und eine Publikumsmesse mit inzwischen unglaublichen 1500-1700 Veranstaltungen in 4 Tagen zu etablieren, war so naheliegend wie großartig.
Aber ich schweife ab.
Die Mehrspartigkeit des Buchhandels scheint jedenfalls eine weiterhin schwer vermittelbare Konzeption zu sein. Die gebetsmühlenartige Wiederholung der Aussage, daß zum Kauf doch bitte eine der in jeder Halle vorhandenen Buchhandlungen genutzt werden möge, legt das zumindest nahe. Daher sei es auch hier noch einmal erwähnt:
Es gibt den herstellenden (Verlage) und den verbreitenden Buchhandel (Buchhandlungen). Erstere verkaufen an zweitere und erst diese an den interessierten Leser. Das schöne an der Organisation der Leipziger Messe ist dabei, daß jedes Buch, das an einem Messestand präsentiert wird, auch in einer der Messebuchhandlungen zu erwerben ist. Dabei kann es durchaus zu der bizarren Situation kommen, daß ein Mitarbeiter der Messebuchhandlung exakt das Exemplar vom Stand abholt, das dem Besucher grade eben nicht verkauft wurde. Sowas nennt man dann Kollegialität. 😉
Ganz unabhängig davon sollte dem ein oder anderen noch einmal die Bedeutung des Symbols der Leipziger Messe in Erinnerung gerufen werden. Das doppelte M steht bekanntermaßen für den Begriff „Mustermesse“. Diese ebenfalls großartige Erfindung aus früheren Tagen rettete nicht nur den Messestandort Leipzig, sondern die Institution „Messe“ überhaupt. Denn bis zur Neuzeit waren Messen tatsächlich Warenmessen. Jeder brachte mit, was er verkaufen wollte, und zwar komplett. Mit dem Aufkommen des Massenhandels und der Möglichkeit, große Menge über große Strecken zu transportieren, wurde dieses Modell anachronistisch. Mit der Idee, einfach nur noch Muster auszustellen und dann Aufträge zu generieren, wuchs Leipzig eine Bedeutung zu, der die Bewohner der Heldenstadt heute noch nachtrauern.
Aber ich schweife ab. Weiterlesen „Fairy Tales“
Monat: März 2010
Das Buch zum Sonntag (39)
Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:
Arnon Grünberg: Der Vogel ist krank
Auf Arnon Grünberg wurde ich von einer Verlagsvertreterin hingewiesen, als ich zum Ausdruck brachte, daß ich das Programm des Verlages ganz großartig finde, für meine persönliche Lektüre aber nur selten etwas dabei ist.
Nun, lassen wir es uns so sagen: Die Frau versteht etwas von ihrem Job. Grünberg gehört jedenfalls seitdem zu meinen bevorzugten Schriftstellern. Genaugenommen zu den wenigen, bei denen ich kein Werk auslasse. Selbst wenn es dabei mal Täler zu durchschreiten gilt.
„Der Vogel ist krank.“ Eines Morgens, es ist noch früh, aber schon drückend schwül, die Hitze von Wochen brütet in der kleinen Wohnung, wird Christian Beck mit diesen Worten seiner Frau geweckt. Sie trägt ihr weißes Nachthemd, das sie mit zwölf auch schon hatte.
(S. 5)
Das ist doch mal ein Beginn. Die tödliche Krankheit seiner langjährigen Freundin, die Beck als seine Frau bezeichnet, wirft in seinem Leben, das gut eingerichtet scheint, seit er seine Ambitionen als Schriftsteller aufgegeben und einen Stelle als Gebrauchsanweisungsübersetzer annahm, einiges über den Haufen.
Mit einer erstaunlichen Demut nimmt er hin, daß sie heiratet (nicht ihn), erträgt Beschimpfungen (die nicht zwangsläufig aus der Luft gegriffen sind), trägt, während allmählich alles aus den Fugen gerät, die Souveränität des überlegenen Intellektuellen zur Schau. Was mich stark beeindruckte an diesem Roman, ist, wie Grünberg geradezu rührend seinen Helden scheitern läßt. Christian Becks permanente Analysearbeit, sein permanenter Versuch, durch Hinterfragen Situationen zu verstehen, zu durchdringen, zu begreifen sind letztlich doch nur ein ohnmächtiger Akt des Intellektuellen, der glaubt, Situationen, deren Struktur er durchschaut, auch beherrschen zu können.
Und doch, man kommt nicht umhin, ihn zu mögen – bei aller Arroganz, mit der auftritt, bei allem Mist, den er macht, Christian Beck ist ein geradezu rührend liebenswerter Charakter.
Was sie teilen, ist nicht ihre Arbeit – sie teilen den Geruch des anderen, seine Vergangenheit, das Bett, die Einsamkeit, letzteres vielleicht noch mehr als alles andere. Einsamkeit teilt man schweigend, ein gewisser Fatalismus kommt über einen, man weiß, daß die eigene Isolation nicht weiter aufgebrochen werden kann als diese paar Risse, man hat die Grenzen des Sich-Begegnens erreicht, näher wird der anderen einem nie kommen; näher ist eine Illusion, näher wäre gefährlich.
Die Menschen erwarten oft – zu Unrecht -, daß ihre Beziehung, der geliebte Mensch, ihrer Einsamkeit ein Ende bereitet. Beck und seine Frau hegen keine diesbezüglichen Erwartungen, eigentlich erwarten sie nur wenig voneinander, auch das teilen sie. Was Beck bei einer Frau sucht, ist Rührung, obwohl er das erst spät gemerkt hat. Keine Befriedigung, keine demonstrativ und übeschwenglich geäußerte Liebe, keine Bestätigung – was sollte auch bestätigt werden, er selbst? Nein, Bestätigung sucht er nicht mehr, und das Myteriöse interessiert ihn auch nur noch mäßig. Das ist alles schön für den Augenblick, doch nur von Rührung kann man länger zehren.
(S. 9)
Es gibt wunderbare Liebeserklärungen in Hollywoodfilmen, diese hier hat aber auch was. Wie gesagt, Vogel heiratet jemand anderen:
„Ich finde es sogar mehr als unlogisch, ich finde es verwerflich. Du verschenkst Kleidung an Menschen, die sie nötiger brauchen als wir, in Ordnung. Du verschenkst Möbel, ich kann damit leben. Du gibst Leuten Geld, um ihnen etwas zu ermöglichen, unser Geld, mein Geld – warum nicht? Sie haben zwar wahrscheinlich gar nichts von den Möglichkeiten, die du ihnen bieten willst, aber okay, es ist mal was anderes, als Schmuck und Kleider kaufen, vielleicht sogar nützlicher, auf jeden Fall amüsanter. Aber jetzt hast du den Punkt erreicht, wo du dich selbst weggibst – verschleuderst! Dich selber, hörst du? Und das tut man nicht, auch nicht für einen guten Zweck, ein Mensch darf sich nicht selbst wegwerfen. Punkt. […] Und ich sag dir, als dein Mann, dein Freund, dein Ratgeber: Es ist Zeit auf Entzug zu gehen. Für den Anfang werden wir den Krüppel, den Du ins Haus geholt ast, wieder vor die Tür setzen. Ganz freundlich natürlich, von mir aus geben wir ihm Kleidung, Geld, Vasen, blumen, Pflanzen, Badahandtücher, was du willst, aber er verschwindet. Wir sind kein Obdachlosenasyl für Krüppel, wir können Krüppeln keine Liebe geben, wir schaffen es ja noch nicht mal füreinander.“
Sie hielt ihm ein Glas Wasser hin.
„Nein, danke.“ sagte Beck.
„Bist du fertig?“
(S.123f.)
Was er sagen wollte, war:
Seine Frau war nicht nur seine Frau, sondern auch seine Schwester, seine Mutter, seine Tante, Großmutter, seine beste Freundin, sein Kind. Und so jemanden rührt man nicht an, so jemanden kann man nicht anrühren. Ein Küßchen, ja, eine zärtliche Berührung, eine Umarmung, eine feste Umarmung sogar. Das ist alles möglich, aber man kann sich nicht anrühren wie Mann und Frau. Eines Tages geht es nicht mehr, weil man sich zu nah gekommen ist, und von da an ist es unmöglich.
So war es, doch das konnte er ihr nicht sagen, er konnte es nicht einmal sich selbst eingestehen – es gibt Wahrheiten, die selbst ein Illusionsloser nicht erträgt.
(S. 125)
Es ist keine Zeit, gründlich und ausgiebig an ihrer Beziehung zu arbeiten. Beck muß zusehen, daß er klarkommt. Mit sich, seiner Frau, ihrem Mann und dem sicheren Boden, der ihm unter den Füßen abhanden kommt.
Der Vogel ist krank gehört zu meinen wichtigsten Leseerfahrungen und ich hoffe, ich konnte der geneigten Leserschaft davon etwas vermitteln.
Zum Abschluß noch der gewohnte Verweis auf die
Grießbreifresser
Inwieweit im Kompositum „Qualitätsmedien“ tatsächlich zwei sinntragende Nomina verbunden werden, gehört, insbesondere im Netz der Netze, zu den derzeit heiß diskutierten Themen.
Herr Kaliban, auf dessen Beitrag ich im heutigen Fremdcontentbeitrag mal verweisen möchte, bringt die Desillusionierung des kritischen Lesers gewohnt pointiert zum Ausdruck. Möglicherweise bricht den Medienhäusern hier tatsächlich eine komplette Zielgruppe weg, die sich inzwischen Informationen aus anderen Quellen holt. Möglicherweise mühsamer, aber den aufmerksamen Geist befriedigender.
Einen Punkt sehe ich jedoch weiterhin viel zu wenig berücksichtigt. Bei allen kritisierten Medien handelt es sich um Wirtschaftsunternehmen. Daß die sinnentleerte Klickstrecken basteln oder Themen zu Themen machen, die es nicht wert wären und zudem auch noch voneinander abschreiben, weil mit dieser Methode Geld zu verdienen ist, dann, mit Verlaub, muß auch gefragt werden: Was sagt das eigentlich über das Publikum?
Der Hausheilige hätte da eine Antwort:
An das Publikum
O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte . . .
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?Ja, dann . . .
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser -?
Ja, dann . . .
Ja, dann verdienst dus nicht besser.
in: Werke und Briefe: 1931, S. 513. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8493f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 237f.) (c) Rowohlt Verlag
Das Buch zum Sonntag (38)
Für die, ähem, *hust*, gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:
Robert Gernhardt: In Zungen reden
Robert Gernhardt, Mitbegründer der Neuen Frankfurter Schule, war einer der umtriebigsten und wohl auch vielfältigsten deutschen Schriftsteller der letzten fünfzig Jahre. Sehr viele Menschen dürften sogar Gernhardt-Texte auswendig können, ohne es zu wissen.*
„Stimmenimitationen von Gott bis Jandl“ jedenfalls lautet der Untertitel des heute empfohlenen Werkes, das eine Sammlung von Parodien enthält. Parodiert wird dabei munter durch die Literaturgeschichte – und mit großer Kunstfertigkeit. Zu einer guten Parodie ist nur fähig, wer das zu parodierende Werk sehr genau kennt. Wir dürfen annehmen, daß Gernhardt sehr genau gelesen hat.
In der illustren Runde dieser über etliche Jahre hinweg entstandenen Kleinode finden sich besispielsweise Platon und die Beatles, Thomas Mann und Dante, Goethe und Hemingway, Gottfried Benn und Ror Wolf.
Neben einem wunderbaren Wort mit 10 „e“ gibt es hier einiges zu entdecken, das mindestens zum Schmunzeln verführt:
Daß sie unter den Talaren
Machtgeil, stur und muffig waren,
Grade dann, wenn sie in Worten
Jederzeit und allerorten
Das Bestehende verdammten
Und der Schicht, aus der sie stammten,
Feurig die Leviten lasen:
Haltet ein! Bald deckt der Rasen
Euch und eure schwarze Taten.
Die tagtäglich das verraten,
Was ihr sonst an Werten predigt-:
Glaubt Karl Marx! Ihr seid erledigt!
Denn es kann im falschen Leben
Niemals nie kein richtigs geben!Meister im Levitenlesen
Aber war der Prof, an dessen
Widersprüchen sich die „lieben“
Mädchen Pat und Doris rieben.
Darum sei sogleich verraten,
Was sie mit Adorno taten.Nun war dieser große Lehrer
Von den Damen ein Verehrer
Was man ohne alle Frage
Nach des Denken Müh´ und Plage
Einem guten alten Mann
Auch von Herzen gönnen kann.
Nicht so unsre beiden Kinder,
Die im Weiberrat und in der
Wohngemeinschaft voll einbrachten,
was sie von dem Denker dachten:
(S. 58)
Leicht zu erkennen ist hier Gernhardts Art, nicht allein literarisch zu parodieren, sondern gleichzeitig noch satirische Seitenhiebe zu verteilen (was aber beim Mitgründer der Titanic wohl kaum überraschen dürfte). Was gleichzeitig natürlich gelegentlich die Lektüre für diejenigen schwierig machen kann, denen die Anspielungen auf Zeitereignisse fremd sind oder die den parodierten Autor (bzw. das parodierte Genre, Gernhardt parodiert auch Märchen, Legenden oder Verschenktexte) – aber gerade die hier gezeigte Busch-Parodie macht auch ohne intime Kenntnis der seinerzeitigen Ereignisse Freude. Anders gesagt: Die berichtete Anektode ist erheiternd auch ohne das Wissen darum, daß sie auf einem tatsächlichen Ereignis beruht. 😉
Aber ich kann die geneigte Leserschaft nicht ohne einen Verweis auf meine Lieblingsparodie entlassen:
Das elfte Gebot
Als nun der HErr herabgefahren war auf den Feldberg, oben auf seinem Gipfel, berief er seinen Knecht Gernhardt hinauf auf den Gipfel des Berges, und Gernhardt stieg hinauf.
Da sprach der HErr: Ich bin der HErr, dein Gott, und ich habe seinerzeit vollkommen verschwitzt, meinem Knecht Moses das Elfte Gebot mitzugeben, als er vom Berge Sinai hinunter zum Volke stieg.
So nimm du es und geh hin und steig hinab und verkünde allem Volke das Elfe Gebot.
Und Gott redete nur diese Worte: „Du sollst nicht lärmen.“
Und Gernhardt tat wie ihm geheißen und stieg hinab und sprach also zum Volk: Dies sind die Lärmvorschriften, die der HErr euch auferlegt hat:
[…]
Ihr sollt keinen Walkman in Bahnen und Zügen benutzen, denn siehe: Der Walkman ist ein Blendwerk des Satans, zu verwirren die Sinne des Menschen, auf daß er glaube, er könne seinen Kopf mit Musik vollknallen, ohne daß sein Nächster davon höre.
Ich aber sage euch: Und ob der was mithört!
[…]
Diese sollen euch in Bahnen und Bussen ebenfalls unrein sein unter den Piepsgeräten, welche Knöpfe haben und die man in die Tasche stecken kann: das Computerspiel, das Handy und der Laptop. Denn alles, was ihr Pieps beschallt, das wird unrein. Und alles Gerät, das gepiepst hat, soll man ins Wasser tun, es ist unrein bis zum Abend und danach unbrauchbar. In euren Wohnung aber sollen diese Geräte nicht unrein sein.
(S. 7-12)
Gernhardt, im Übrigen auch ein Meister des Nonsens, ist immer lesenswert, „In Zungen reden“ ist aber auf jeden Fall ein großes Lesevergnügen und auch wenn es natürlich sehr viel mehr Spaß macht, wenn man in der Thomas Mann – Parodie alle Bezüge zu den zehn eingeflochtenen Werken erkennt, so sei der geneigten Leserschaft versichert, daß es auch ohne dies einfach eine Freude ist, Gernhardt zu lesen.
Zum Abschluß der gewohnte Hinweis auf die
*Otto Waalkes engagierte Gernhardt als Textschreiber, nachdem dieser mit ihm wegen ungenehmigter Verwendung seiner Texte kontaktierte. Bekannteste Beispiel dürfte wohl dieses sein.
Das Buch zum Sonntag (37)
Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:
Ambrose Bierce: Das Wörterbuch des Teufels
Durch einen Hinweis aus der geneigten Leserschaft erinnerte ich mich jüngst wieder dieses großartigen Satirikers des 19. Jahrhunderts. Die englischsprachige Literatur dieser Zeit, also zumindest die, die ich wahrnehme, ist in hohem Grade „sophisticated“ (ein Wort, für das ich keine befriedigende deutsche Entsprechung kenne, Hinweise sind gern gesehen). Selbst eine Jane Austen, deren Romane nun nicht gerade von intellektueller Weitläufigkeit geprägt sind, schrieb Dialoge und Charakterbeschreibungen, die zu lesen einfach nur ein Genuß sind.
Freilich gilt dies weit mehr für die britische Literatur als für die US-amerikanische und Bierce´ Erzählungen, nicht selten myteriös, fantastisch, gruselig, stellen ihn auch eher an die Seite E. A. Poes als, sagen wir mal, Dickens´, der wiederum weit weniger sophisticated ist. Am ehesten ließe er sich wohl mit Oscar Wilde vergleichen.
Ich schweife ab.
Das Wörterbuch jedenfalls ist eine Zusammenstellung vorher lose in Zeitungen erschienener Begriffsdefinitionen, die an Treffsicherheit, Witz und Ésprit keine Wünsche offen lassen. Ein Buch, das heitere Stunden an einer Heizquelle der Wahl ermöglicht (und das Wetter scheint ja dieses Jahr sehr buchaffin zu sein), genauso gut aber als kurzes Intermezzo die Gedanken von einem Gegenstand auf einen anderen zu lenken vermag.
Kurz: Wahrlich ein reines Vergnügen.
Daher fiel es mir dieses Mal nicht schwer, passende Stellen zum Zitieren zu finden, an welcher Stelle man diesen schmalen Band auch öffnet, es findet sich immer etwas:
Reim subst. masc.
Gleichklingende und meistens unangenehme Laute am Ende von Versen. Die Verse selbst sind meistens langweilig.Rekrut subst. masc.
Jemand, der sich von einem Zivilisten durch seine Uniform und von einem Soldaten durch seinen Gang unterscheidet.Religion subst. fem.
Eine Tochter der Furcht und der Hoffnung, die der Unwissenheit die Natur des Unbegreiflichen erklärt.
(S. 91)
Bierce galt der US-amerikanischen Öffentlichkeit als Misanthrop, was bei seinen zynischen Einwürfen zum Stande der menschlichen Entwicklung wohl kaum verwundert dürfte. Es kommt allerdings nicht selten vor, daß es gerade die mitfühlendsten Menschen sind, die die schärfsten Pfeile verschießen. Aber ich bin wahrlich kein Bierce-Biograph, mögen dazu Berufene sich dazu äußern.
Stattdessen streue ich mal noch ein paar Lieblinge in die Runde:
Abstand subst. masc.
Das einzige, was die Reichen den Armen zugestehen.Anders adv.
Auch nicht besser.Armenrecht subst. neutr.
Eine Methode, mittels derer einem Rechtssuchenden, der kein Geld für Anwälte hat, gnädig erlaubt wird, seinen Prozeß zu verlieren.Ausdauer subst. fem.
Eine niedere Tugend, die der Mittelmäßigkeit zu unrühmlichem Erfolg verhilft.Bettler subst. masc.
Jemand, der sich auf die Hilfe seiner Freunde verlassen hat.
Ich muß aufhören, sonst schreibe ich hier noch das halbe Buch ab.
Daher nur noch einen, wunderbaren Beitrag, problemlos jederzeit anwendbar – und zudem Bierce´ geistige Verwandschaft zu Oscar Wilde („Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.“) aufzeigend:
Ich pron.
Das erste Personalpronomen, das erste Wort der Sprache, der erste Gedanke des Geistes, der erste Gegenstand der Zuneigung. Sein Plural soll „wir“ lauten, aber wie es mich mehr als einmal geben kann, ist den Grammatikern zweifellos klarer als dem verfasser dieses unvergleichlichen Diktionärs. Mich mir selbst in der Zweizahl vorzustellen, ist schwer, aber schön. Der freimütige und dabei anmutige Gebrauch von „ich“ unterscheidet den guten Schriftsteller vom schlechten; dieser trägt das Wort wie ein Dieb, der seine Beute zu verbergen sucht.
Es gibt leider keine vollständige lieferbare Ausgabe des Wörterbuches, wenn man dem Herausgeber der hier zitierten Ausgabe* jedoch Glauben schenken mag, so ist dies kein dramatischer Verlust, da aufgrund der ursprünglichen Publikationsform viele Redundanzen auftreten. Dies wiederum könnte tatsächlich den Lesegenuß schmälern.
Sei es wie es sei, hier die
*verwendete Ausgabe: Bierce: Aus dem Wörterbuch des Teufels. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Dieter E. Zimmer. Insel. Frankfurt/M. und Leipzig. 1980
P.S. Einer geht noch, einer geht noch rein:
Heiliger subst. masc.
Ein toter Sünder, überarbeitet und neu herausgegeben.
Keinen Cent und keinen Mann
Wie in diesem Blog bereits erwähnt, spielte die tageszeitung eine wesentliche Rolle in meiner politischen Sozialisation.
Meine persönliche Abneigung gegen den SpringerVerlag mag also darin begründet liegen. Daher habe ich auch stets versucht, mich zu dessen Produkten nicht zu äußern, bin ich mir schließlich meiner Parteilichkeit durchaus bewußt. Was sich allerdings in den letzten Tagen und Wochen in deren auflagenstärkstem Blatt abspielte, ist derart haaresträubend, daß ich doch einmal ein paar Worte dazu verlieren muß.
Beziehungsweise auf die Worte anderer dazu verweisen möchte, denn wieder einmal hänge ich der Debatte im Netz etwas hinterher (die geneigte Leserschaft kennt das ja schon, so von wegen Pulverdampf und klare Sicht) – es haben sich also bereits einige sehr überzeugend geäußert.
Zunächst einmal Lukas Heinser auf bildblog.de, der den vorläufigen Endpunkt der Entwicklung zum Anlaß nimmt, die typische Art der Bild-Desinformation aufzudröseln.
Dann einen bemerkenswerten Beitrag von Michael Pantelius auf print-wuergt.de, der sachlich und ruhig, aber durchaus nicht emotionsfrei die jüngste Hetzkampagne und ihre Wirkung beschreibt.
Und schließlich noch den dazu passenden Beitrag bei ZAPP, bei dem das indiskutable sogenannte Nachrichtenmagazin „FOCUS“ sich in die Springer-Riege einreiht.
Ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, daß die „Bild“ nicht alles ist, was bei Springer publiziert wird. Aber es tut mir Leid, da können die in der „Welt kompakt“ noch so viele Tweets abdrucken und sich in der „Welt“ selber noch so viel Mühe im Feuilleton geben: Für einen Verlag, der in seinen Publikationen eine solche Hetze betreibt, ist in meinem Medienbudget kein Platz.
Warum noch immer Millionen die „Bild“ kaufen? Wo das doch alles seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten bekannt ist? (Wallraff, Böll, anyone?)
Ich weiß es nicht. Und ich verstehe es auch nicht (es sei denn, diese Erkenntnis stimmt).
Der Hausheilige versteht es auch nicht:
Die Presse. Ihr Glaube an ihre Presse ist bewundernswert. An dieselbe Presse, die sie vier Jahre lang mitbelogen hat; man müßte glauben, ihr Vertrauen wäre wankend geworden durch die Ereignisse, die so gar nicht mit den Leitartikeln übereinstimmten.
Nichts dergleichen. Sie schwören auf ihr Blatt.
Rührend ihre fingerfertige Geschicklichkeit, mit vorher feststehendem Resultat Denkarbeit zu leisten. Man beweist sich ja nur das, was man glauben will – und die abenteuerlichsten Windungen dünken sie gut,
wenn sie zum gelobten Land der Verdienstmöglichkeiten führen.
aus: Eindrücke von einer Reise. in: Werke und Briefe: 1919, S. 399. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1509 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 177) (c) Rowohlt Verlag
P.S. Ob also dieser Empfehlung eine weitere folgen wird, wage ich zu bezweifeln.
Das Buch zum Sonntag (36)
Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:
Patrick Süskind: Das Parfum
Über dieses Buch ist bereits einiges geschrieben worden, die regelmäßigen Anfragen der für Schullektüre relevanten Zielgruppe lassen eine weitgehende Aufnahme in den entsprechenden Kanon vermuten und Herrn Eichingers Verfilmung wird den Bekanntheitsgrad wohl auch nicht geschmälert haben (ich habe den Film nicht gesehen, kann also zu dessen Qualität nichts sagen – bisherige Eichinger-Produktionen bestärken mich aber in meinem Entschluß, bei diesem Roman lieber meine eigenen Bilder im Kopf zu behalten).
Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte.
(S. 5)
Süskinds Roman gehört zu den ganz wenigen Büchern meiner Lesebiographie, die mich tatsächlich erschüttert haben. Ich habe selten einen derart kalten Roman gelesen – großartig in seiner Kälte, aber eben wahrlich nichts fürs Herz. Und für die Lektüre am Kamin nur geeignet, weil man es dann wenigstens warm hat, wenn man innerlich friert.
Grenouille ist eine literarische Figur, die sich hinter keinem Finsterling der an Finsterlingen nicht armen zeitgenössischen Literatur verstecken muß. Von Anfang an ein Ausgestoßener, Abgelehnter, findet er seine Berufung bei einem Parfumeur. Als olfaktorisches Genie gelingt es ihm mühelos, vorhandene Düfte zu imitieren, neue zu kreieren. Gleichzeitig, und damit erfahren wir auch den Grund für die unbestimmte Furcht, die Angst, die Ablehnung, die ihm seit seiner Geburt entgegenströmt, hat er selbst keinerlei Eigengeruch. Man kann ihn nicht riechen. Besessen von der Idee, das perfekte Parfum zu erschaffen, eines, das Liebe und Zuneigung ausströmt, und überzeugt davon, daß dies nur geschehen kann, in dem er den Duft wohlriechender junger Frauen destilliert, wird er in der Parfumstadt Grasse zum Massenmörder.
Grenouille ist ein Getriebener, ein Gehetzter seiner selbst. Er flieht zwischenzeitlich sogar die menschlische gesellschaft und ihre überbordenden Gerüche und versucht, so weit von ohnen zu fliehen, bis kein Geruch mehr ihn erreicht. Sieben Jahre verlebt er so in einer Höhle im Zentralmassiv – und es handelt sich bei der Beschreibung seines Lebens dort, insbesondere seines Innenlebens um einen der stärksten literarischen Texte, die mir bisher begegnet sind. Ich scheue mich, dies zu zitieren, aus Sorge, welchen Ausschnitt auch immer ich nehme, die Wirkung dieser Kapitel zu zerstören. Weiterlesen „Das Buch zum Sonntag (36)“
Real Life is overrated.
Nicht erst seit dem Feuilleton-Skandal um Frau Hegemann scheint es arge Probleme zu geben, Künstler und Kunstwerk auseinander zu halten. Es mag ja sein, daß feinsinnige literaturwissenschaftliche Analysen das eine oder andere über den Autor anhand seines Werkes zu Tage fördern können – das ändert aber nichts an der prinzipiellen Differenz zwischen der Wirklichkeit des Kunstwerkes und der des Künstlers.
Es ist für die Beurteilung von „Emile“ völlig unerheblich, daß dessen Autor seine Kinder nicht selbst aufgezogen hat. Über die Gültigkeit von Rousseaus Überlegungen zur Pädagogik sagt das überhaupt nichts aus.
Es ist damit auch egal, ob eine 17jährige Koks im Berghain konsumiert hat, nur weil sie einen Roman schreibt, in dem ihre Protagonistin das tut.
Kurz:
Ein Kunstwerk muß zunächst einmal für sich bestehen. Entweder es berührt mich oder es berührt mich halt nicht. Der Lebenslauf des Künstlers spielt dabei keine Rolle.
Ich könnte jetzt noch einen langen Sermon zu diesem Thema schreiben, in dem ich mich wahrscheinlich mehrfach wiederhole und dutzende Male verheddern würde, ehe mein Kopf übermüdet auf die Tastatur knallt und der Beitrag mit eaghireauogb endet.*
Oder aber ich überlasse den Rest dieses Beitrages dem Hausheiligen und mache Feierabend für heute:
Die arme Frau
Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
Du lieber Gott, da seid mir still!
Ein Don Juan? Ein braver, schlichter
Bourgeois ? wie Gott ihn haben will.Da steht in seinen schmalen Büchern,
wieviele Frauen er geküßt;
von seidenen Haaren, seidenen Tüchern,
Begehren, Kitzel, Brunst, Gelüst . . .Liebwerte Schwestern, laßt die Briefe,
den anonymen Veilchenstrauß!
Es könnt ihn stören, wenn er schliefe.
Denn meist ruht sich der Dicke aus.Und faul und fett und so gefräßig
ist er und immer indigniert.
Und dabei gluckert er unmäßig
vom Rotwein, den er temperiert.Ich sah euch wilder und erpichter
von Tag zu Tag ? ach! laßt das sein!
Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
In Büchern: ja.
Im Leben: nein.
Und hier nochmal rezitiert von Frau Annekathrin Bürger:
Die arme Frau. in: Werke und Briefe: 1918. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1095f.
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 344f.) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm
*Ich plane mit diesem Beitrag endlich ein Google-Top-Ranking zu erzielen. Sollte klappen, bisher liefert Google keinen Treffer für das Suchwort „eaghireauogb“
Paprika im März
Ich hatte soeben ein bemerkenswertes Erlebnis im Discounter meiner Wahl. Die junge Dame, die vor mir bezahlte, tat ihr Entsetzen darüber Kund, daß Gemüse derzeit ja unglaublich teuer sei, der Paprika zum Beispiel – und dann sehe der noch nicht einmal gut aus. Im Winter sei das ja verständlich, aber nun werde es doch Frühling.
Mein spontaner Impuls war, ihr zuzurufen: „Es ist Anfang März und Du kannst jegliche Obst- und Gemüsesorte kaufen. Geht´s noch?“, unterließ das dann aber, hatte ich doch das Haus überhaupt nur widerwillig verlassen und fehlte mir wahrlich der Antrieb zu einer vermutlich aussichtslosen Debatte.
Allerdings habe ich mich schon lange nicht mehr so alt gefühlt, ich hatte wirklich den Eindruck, irgendwie einer anderen Generation anzugehören, weil es mir nicht selbstverständlich erschien, am 2. März abends um halb acht Paprika kaufen zu können, geschweige denn zu erwarten, um diese Uhrzeit noch eine große Auswahl an frischen, makellosen Exemplaren zum Schnäppchenpreis vorzufinden.
Ich meine, ja, es ist selbstverständlich möglich, aber haben wir wirklich vergessen, welchen Aufwand wir betreiben, damit das überhaupt geht? Haben wir wirklich vergessen, daß das keine Selbstverständlichkeit ist?
Wir befinden uns in der Fastenzeit – und die liegt nicht zufällig in der Zeit des ausgehenden Winters. Es ist nämlich die Zeit, in der die Vorräte zur Neige gehen, mit denen der Winter bestritten werden muß, gleichzeitig aber noch keine Möglichkeit besteht, irgendwas zu ernten, pflücken oder zu sammeln. Weil nämlich noch nichts wächst.
Jedenfalls war das so vor der Erfindung des logistischen Mammutprojekts, das hinter der täglich frischen Belieferung unserer Kaufhallen steckt. Und die Frage darf erlaubt sein, ob das nicht überhaupt Wahnsinn ist.
Wir leben hier in einer Welt, die glaubt, sich von den natürlichen Umweltbedingungen unabhängig gemacht zu haben. Was noch nicht einmal völlig falsch ist, wir begehen nur scheinbar allmählich den Fehler, sie zu ignorieren. Diese Hybris war hier ja schon einmal Thema. Die Vielfalt im Lebensmittelregal scheint zu suggerieren, daß dies zwangsläufig und immer so sein müsse – ganz egal, welche Jahreszeit herrscht, ob es regnet oder schneit, die Erde bebt oder ein Orkan durchzieht. Nein, dem ist nicht so. Ganz im Gegenteil, es handelt sich hier um ein komplexes System, dessen Teile alle reibungslos funktionieren müssen, damit dem so ist. Auch wenn wir schon recht weit sind, was das Austricksen angeht.
Es ist gar nicht so lange her, daß das täglich Brot für jeden ein anzustrebendes Ziel unserer Gesellschaft war – heute schimpfen wir über die Paprikapreise im Winter!
Die Fastenzeit hat ihre ursprüngliche Funktion als religiöse Überhöhung eines natürlichen Mangelzustandes verloren – was auch ihre geringe Popularität erklären könnte, der Mensch verzichtet nicht gern, wenn er nicht muß. Aber es scheint mir doch angebracht, einmal inne zu halten und zu überlegen, was wirklich notwendig ist – und was wir wirklich brauchen. Werden wir verhungern, wenn wir eingelagerte Kartoffeln und Äpfel essen, statt sie aus Ägypten und Italien heranzuschaffen? Wird unsere Produktivität sinken, wenn die Erdbeeren nicht frisch eingeflogen werden, sondern für ein paar Wochen aus dem Einweckglas stammen? Was ist das überhaupt für eine Welt, in der es billiger ist, Kartoffeln um die halbe Welt zu schicken, als sie vom Erzeuger dreißig Kilometer entfernt zu holen? Ticken wir noch richtig?
Ja, ich finde es höchst angenehm, jederzeit nahezu jedes Nahrungsmittel meiner Wahl ohne größeren Aufwand kaufen zu können. Und ja, ich würde darauf höchst ungern verzichten wollen. Aber, verdammt nochmal, das ist Luxus. Und wenn dann die Paprika fünfzig Cent mehr kosten, obwohl doch in wenigen Wochen Frühling ist, dann sollte das eher ein Moment sein, sich in Erinnerung zu rufen, welch irrsinnigen Aufwand wir für diese fünfzig Cent betreiben.
Meine Großeltern sind noch im zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Ich weiß, daß sie froh sind, daß das täglich Brot heute eine Selbstverständlichkeit ist. Wir sollten endlich beginnen, von der Lebenserfahrung früherer Generationen zu lernen, um zu begreifen, welchen Luxus es bedeutet, sich am 2. März vor einer unterbezahlten Kassiererin aufbauen und über die Paprikapreise schimpfen zu können – aus den täglichen Nachrichten scheinen wir es ja nicht zu begreifen. Und so verständlich es ist, dem Fernsehen nicht zu glauben, wenigstens den eigenen Vorfahren sollten wir Glauben schenken. Oder ihnen wenigstens mal zuhören.
Oder dem Hausheiligen:
Der Mann für Ruhe und Ordnung fragt entrüstet, warum denn diese Leute so viele Kinder hätten. Diese Kinder des niedersten Proletariats verdanken ihre Existenz, so brutal das klingt, der Wohnungs- und der Bettennot, dem Mangel an Heizmaterial und der Unbeholfenheit der Frauen, sich gegen den Kindersegen zu wehren (was ein überholtes Strafgesetz heute noch verbietet). Diese Kinder leben, weil . . .
Es gibt ein bitteres Wort einer alten Zeitungsverkäuferin, die auf die Frage, warum sie denn in ihrer Armut noch zehn Kinder in die Welt gesetzt habe, geantwortet hat: »Die reichen Leute jehen abends ins Theater . . . «
Da leben Kinder. Wir haben Kinder gesehen, Mädchen von sechs und sieben Jahren, die waren 90 Zentimeter hoch, und andere, die den ganzen Tag nicht auf die Straße gehen konnten, weil sie mit Ausnahme eines kleinen Kittels ganz nackt waren. Der Ernährungszustand ist durchweg trostlos: die Kinder leben von Brot und Margarine und Kohl. Ein Mädchen schlief zwei Meter von einer Kellertür entfernt neben Lumpen auf dem Steinfußboden. Die Tür schloß nicht, sie ließ einen handbreiten Spalt frei. Daß ein Kind in dieser Proletarierwelt im Bett allein schläft, kommt kaum vor. »Die sittliche Verderbnis der unteren Stände« man sollte jedem Pastor, der so etwas in den Mund nimmt, die Bibel um die Ohren hauen.
Mag er hingehen und sehen: die Wohnungen, in die kein kaiserliches Marstallpferd hereingegangen wäre, diese muffigen, schwarzdunklen Kellerlöcher mit ein paar alten Bettstellen darin, wo Kinder schlafen, sollte er sehen!
Und das Allerschlimmste an diesen Dingen ist: daß es sich hier nicht nur um Arbeitslose handelt, sondern um Familien, deren Erwerber eine kleine Stellung haben und verdienen. Und es nützt ihnen gar nichts.
Wer früher in die Fabrik ging, zählte kaum zum Lumpenproletariat.
Und heute?
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*aus: Kinderhölle in Berlin. in: Werke und Briefe: 1920. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 9418f. (vgl. Tucholsky-DT, S. 244-245) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm
P.S. Für den Gegenwert der Schuhe, die die junge Dame, deren Kaufentscheidung dann auf Partytomaten fiel, anhatte, hätte sie problemlos sämtliche Paprikavorräte des Ladens kaufen können.