Leipzig-Lübeck 2010 (9) – Was noch zu sagen wär

Location: Lübeck
Gesamtkilometerstand: 530,31 km
Gesamtfahrzeit: 27:53:12 h
Gesamtschnitt: 19,05 km/h
Gesamtreisezeit: 37:45 h

Während draußen vorm Fenster der Wind tobt und die Kühlkompressen ihren Dienst tun, nun also noch ein letztes Resümee (das Wort sieht seltsam aus).

Nicht nur einmal während der Tour fragte ich mich:

Warum? Warum das alles?

Ich könnte jetzt eine ganze Reihe metaphysischer Begründungen finden, aber letztlich wahr ist wohl nur dies: Ich wollte wissen, ob ich das kann. Insbesondere nach dem kläglich gescheiterten Versuch im letzten Jahr, diese schmähliche Niederlage konnte ich ja unmöglich auf mir sitzen lassen. 😉
Man möge dies auf männliches Rollenverhalten schieben und das wäre vermutlich noch nicht einmal falsch. Die Geschichte der bisherigen Suche nach zu überschreitenden Grenzen legt jedenfalls nahe, daß das eher so ein Männlichkeitsding ist. Und so scheint es mir auch kein Zufall, daß der Film, aus dem der folgende Dialog stammt, “The Final Frontier” heißt:

“Ich klettre, weil es mir Spaß macht. Ganz zu schweigen vom wichtigsten Grund auf einen Berg zu steigen.”
“Und der wäre?”
“Weil er da ist.”

Diese Erkenntnis habe ich zumindest gewonnen: Ich bin hier nur angekommen, weil ich es verdammt noch mal wollte. Eine reine Freude war es jedenfalls eher selten.

Was gibt es sonst noch?

>> Die Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten hat mich gelehrt, daß die Welt nicht gleich untergeht, wenn man es gelegentlich auch einfach mal drauf ankommen läßt und nicht alle Details im Voraus geplant hat (nur, falls sich das jemand fragt: Im Vorfeld buchen wollte ich nicht, da ich ja nicht wußte, ob ich das jeweilige Ziel auch erreichte – und die ausgesuchten Pensionen gaben online nie an, keine Einzelbesucher haben zu wollen). Merkwürdige Erfahrung.

>> Durch die Altmark fuhr ich, wie im Text kurz angedeutet, bereits vor 12 Jahren per Rad, wir waren damals unterwegs auf der Nordroute der Straße der Romanik. Neben der Erkenntnis, daß Havelberg seinen Namen vollkommen zu Recht trägt, gab es damals eine bemerkenswerte Dichte von N.P.-Märkten und Volksbanken zu verzeichnen, die ich diesmal nicht wiederfand. Aber möglicherweise liegt das daran, daß es ja diesmal eine etwas andere Streckenführung gab. Wahrscheinlicher scheint mir freilich etwas anderes zu sein. Aber da fehlt mir die empirische Datenbasis.

>> Ich habe eigentlich immer irgendwelche Musik im Kopf, das Konzept eines “Ohrwurms” ist mir dahingehend fremd, handelt es sich doch eher um einen Normalzustand.
Hier mal mein Kopfradio, so weit ich das memoriere:

Tag 2

und:

Tag 3

Außer dem erwähnten Manne Krug, der ja erst etwas später assoziiert wurde, war es vor allem das hier:

Dazu kann ich nur sagen, das Gehirn assoziiert manchmal sehr dämlich. Kaum ist ein bißchen Wind, naja, lassen wir das.

Tag 4

Tag 5

OK, ist gelogen. Aber wenn ich eine auswählen sollte, wäre es das gewesen. 😉

Tatsächlich spielte der DJ das hier und damit wäre auch die für den Beitragstitel fällige Reminiszenz erbracht:

Zum Schluß noch die beliebte, Jahrzehnte alte Rubrik der Danksagungen a la PHOENIX* und dann soll dieses Kapitel geschlossen sein:

Thanks to: Volkshaus Walternienburg, Familie Pasiciel in Grieben, Haus am Festspielplatz Wittenberge und Familie Bendi in Bleckede für gute und günstige Übernachtungsmöglichkeiten, freundliche Aufnahme sowie ein jeweils hervorragendes und umfangreiches Frühstück.

EXTRA Thanks
to: All jenen, die per SMS, eMail oder Anruf Motivation durch Unterstützungszusagen gaben.

SPECIAL Thanks to: Demjenigen, der die Bananen nach Europa brachte, dem Erfinder des Müsliriegels und des isotonischen Getränkepulvers. Diese drei sicherten meine Verpflegung auf dem Rad.

VERY SPECIAL Thanks to: Jane. Fürs Leihen der Ausrüstung. Auch wenn das mit BASE nicht so funktionierte. Die Gepäcktaschen waren aber ein wahrer Segen (btw: Da ich nun beide Systeme testen konnte: Ich finde das Befestigungs- und das Verschlußsystem bei VAUDE sehr viel überzeugender als bei Ortlieb. Einziger Nachteil: Es fehlt ein Tragegurt. Das wird auf der Rückreise mit der Bahn ein Spaß.)

EXTRA SPECIAL Thanks
to: Jane. Fürs Rücken frei halten und das zweistündliche Backup. Ohne wäre die Tour wohl nicht möglich gewesen.

NO Thanks to: BASE
Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man den Surfstick bei BASE kauft, aber die als Möglichkeit angegebene Variante, mit Hilfe eines Handys als Modem zu surfen, erwies sich in meinem Fall als glatter Reinfall. Nicht, weil es technisch unmöglich gewesen wäre, ganz im Gegenteil, das lief vollkommen problemlos. Der Beitrag in Wolfen kostete mich satte 25€ und geht damals als mein teuerster Blogbeitrag in die Geschichte ein.
Denn der Tarif, der auf meinen Kaufunterlagen steht (der mich 3€ pro Tag gekostet hätte, die 25€ waren also als Gesamtbetrag geplant gewesen), war nur nutzbar, wenn man bestimmte Einstellungen vornimmt (die gut versteckt irgendwo in einem Infoflyer stehen). Wo die vorzunehmen wären, konnte mir jedoch weder an der sauteuren Hotline noch im BASE-Laden in Magdeburg jemand erklären. Und zwar nicht einmal bei der von Eplus extra bereitgestellten Software. Ich habe daraufhin alle Varianten, die ich am Mobiltelefon zur Einstellung gefunden habe, ausprobiert. Ohne Erfolg. Was dazu führte, daß meine Kosten glatt verdreifacht wurden, weil ich so ja nicht weitermachen konnte und daher bei O2 den Surfstick teste. Das funktioniert wenigstens ohne unüberschaubare Kosten.

*PHOENIX. The bible of life and animals. The end of print. Die Schülerzeitung, an der ich seinerzeit mitgearbeitet habe. Wie an den Untertiteln unschwer zu erkennen, waren wir unglaublich bescheiden. Ich habe deren, orthographisch freilich anders gestalteten, Danksagungsrubriken später in die Rundschreiben der LSV Sachsen-Anhalt übernommen (die sich seit einiger Zeit wieder Landesschülerrat nennt und deren Auftreten, nun, sagen wir: nicht mit dem Gremium meiner Zeit zu vergleichen ist.)

Leipzig-Lübeck 2010 (8) – Radfahren als geistige Lebensform

Location: Lübeck (Reiseziel)
Kilometerstand: 97,16 km
Fahrzeit: 5:02:42 h
Reisezeit: 6:45 h
Tagesschnitt: 19,44 km/h

So, nach meinem ersten Kaffee bei der Stadtbäckerei Junge (die machen übrigens einen höchst interessant aussehenden Karamell Latte Macchiato, aber ich genieße Drogen bekanntermaßen bevorzugt pur), deren Kundenorientierung ich übrigens sensationell finde (wie viele Bäcker kennt ihr, bei denen es möglich ist, exakt vier Scheiben eines bestimmten Brotes zu kaufen?), die vor allem aber große Kaffees verkaufen, die diese Bezeichnung auch verdienen, den notwendigen Erledigungen und Einkäufen, hier nun mein letzter Tagesbericht. Ich werde noch einen Abschlußbeitrag schreiben und dann ist aber auch mal wieder gut mit der Nabelschau hier. 😉
Was soll ich sagen? Mein eher pessimistischer Ausblick heute Mittag hat sich als völlig falsch erwiesen. Denn es geschah, zumindest für den Fortgang der Reise, das Beste, was passieren konnte: Ich kam ins Treten. Damit meine ich eben jenes selbstvergessene Fahren, von dem auch schon in Mölln die Rede war. Kein Nachdenken, kein Räsonieren, kein Blick auf die Landschaft (der eh wenig erbaulich war – das Spannendste waren schon die durchaus vielfältigen Entenarten, die am Kanal zu beobachten waren, in allen Größen und Farben und zumindest mir Stadtkind, der ich mit Enten im Wesentlichen die allseits bekannten Stockenten verbinde, wurde etwas klarer, aus welchen Tieren die Entenbraten gewonnen werden), kein weinerliches dem Schmerz nachfühlen – nur Treten. Die letzten 15 km vor Ortsbeginn Lübeck vergingen wie im Fluge, die letzten 5 dabei in knapp unter 10 Minuten.
Wie das geht? Nun, ich wurde angetrieben von starken Emotionen, über deren Ursprung ich mich jetzt nicht weiter auslassen möchte, aber im Idealfall passiert folgendes: Es platzt ein Knoten und plötzlich ist der Kopf frei, läßt los, gibt frei und es bricht sich all die Wut, all der Ärger, all die Verzweiflung – all das, was zurückgehalten wurde, weil es im Moment grad nicht weiterhalf, Bahn. Und dann gilt es nur noch, diese verdammte Strecke zu beenden, das Ziel zu erreichen, den Endgegner zu besiegen. In Hollywood-Filmen wäre dies der Moment, in dem auch der edelmütigste Held erkennt, daß er sich dem Bösen stellen und ihm den Garaus machen muß, weil das alles sonst kein Ende nimmt. Wenn man diesen Punkt erreicht hat, dann braucht man freie Fahrt und eine freie Strecke vor sich – und das ist der Grund, warum ich eine Straßenrennmaschine zu Hause stehen habe (und eben kein Mountainbike). Der Moment, in dem alles egal ist, indem es nur noch ums Treten, als ob es kein Morgen gäbe (gibt es ja auch nicht, bin ja im Ziel 😉 ) geht, für diesen Moment fahre ich Rad.
Nun, wie dem auch sei, entgegen meines ursprünglichen Planes für morgen (Fisch essen in Travemünde) orientiert sich das Motto für morgen eher an dem Lied dieser jungen Dame hier:

Und zwar mit viel Mobilat und einigen Kompressen.

P.S. Ich hoffe, die Tagesausflügler nehmen mir rein grußloses Vorbeirauschen nicht allzu übel, aber andererseits ließen die freundlichen Grüße heute eh sehr zu wünschen übrig. Ich weiß nicht, ob das an den Leuten liegt oder daran, daß ich heute mein Astana-Trikot anhatte – irritierend war es auf jeden Fall.

Leipzig-Lübeck 2010 (7) – “Quäl Dich, Du Sau”

Location: Mölln
Tagesziel: Lübeck
Kilometerstand: 63,79 km
noch zu fahren: ca. 35 km
Fahrzeit: 3:21:28 h
Reisezeit: 4h

Kann man über Mölln schreiben, ohne auf Tille Eulenspiegel und brennende Häuser hinzuweisen? Offenbar nicht.
Andererseits möchte ich auch gar nicht über Mölln schreiben, die Stadt habe ich links liegen gelassen. Ich sitze hier gerade unter einer Autobrücke und habe bei gelegentlichem Blick in die Landschaft mein Netbook hochfahren lassen und den Surfstick angeschlossen . In einer US-amerikanischen Fernsehserie müssten jetzt in Kürze ein paar bewaffnete Spezialkräfte auftauchen, um mich zu überwältigen.
Also, mal sehen, wie weit ich mit diesem Beitrag hier komme.
Heute morgen erwachte ich mit einem äußerst unguten Gefühl. Mir ging es wirklich miserabel und es deutete sich an. daß dies die härteste Etappe der ganzen Strecke werden würde, einfach aufgrund meiner desolaten körperlichen Verfassung. ich möchte euch nicht mit den Details langweilen, nur so viel: Nach Kilometer 26 ließ der Brechreiz nach.
Einen Kilometer vorher hatte ich endgültig die Elbe verlassen und nach der letzten Überquerung (diesmal allerdings per Brücke – auf die mir ein höchst freundlicher Mann half, den ich unterhalb der Brücke ansprach, um den Weg hinauf zu erfragen, denn die steile Treppe hinauf bot zwar eine Spur für Fahrräder an, aber mit dem erheblichen Gepäck traute ich mir das nicht zu, woraufhin er mir jedoch sofort anbot, beim Hinaufschieben behilflich zu sein, netter Abschied von Niedersachsen, muß ich schon mal sagen) erreichte ich Lauenburg und damit endlich Schleswig-Holstein. Es war sicher sträflich, die Residenz des prestigeträchtigen Herzogtums keines Besuches zu würdigen, aber zu diesem Zeitpunkt lag ich bereits weit hinter der schlechtesten Marschroute zurück und eine Besserung des miserablen 17er-Schnitts war nicht zu erwarten. Im Gegenteil.
Nach einer Fahrt über Strecken, in denen zum einen mein Tourenrad in arge Bedrängnis geriet (sandige Abhänge sind dann doch a bissl zu viel des Guten) und Straßen, deren Zustand ein Fahren in Mountainbike-Manier erforderte (ihr wißt schon: eher niedriger Gang, hohe Trittfrequenz, häufige Lenkmanöver, permanente Konzentration – ich kann die Faszination fürs MountainBiking ja nachvollziehen, aber mir ist das nichts. Da muß man ja ständig aufpassen. Nee, dann lieber eine schöne gerade Asphaltstrecke und den Kopf frei haben für alles oder auch nichts.) erreichte ich jedoch den Elbe-Lübeck-Kanal, der gegenüber der Elbe immerhin den Vorteil hat, weitgehend geradeaus zu verlaufen. Gleichzeitig führt er auch an Ortschaften vorbei, ohne sie unnötig zu queren, kurz: knapp 70 km stures Weiterfahren. genau das, was ich heute brauche und die ersten Tunnelblickfahrten habe ich auch bereits hinter mir. Eine davon sogar mit 28er-Schnitt, was äußerst gut tat (und die Tatsache, daß justament während dieses Abschnitts zwei junge Damen in entgegengesetzter Richtung vorbeifuhren, tat durchaus auch gut. Als kurz darauf der Wind auffrischte und ich das Tempo wieder rausnahm, waren sie ja eh schon außerhalb des Blickfeldes). Kurz: Das spannende für mich an Mölln war, daß es von hier aus laut Wegweiser nur noch 33 km bis Lübeck sind. Die werden sehr hart, nicht zuletzt, weil der Zustand des Radweges “Alte Salzstraße” miserabel ist (so eine Art festgefahrener Sand mit unmotiviert hingeworfenem Kies und Schotter), aber ich bin zuversichtlich, das auch noch zu schaffen.
Eh ich wieder aufbreche, noch ein kurzer Check:
Die Fußgelenke haben das SchmerzFunken aufgegeben und puckern nur noch mürrisch vor sich hin, das linke Knie droht mit Arbeitskampfmaßnahmen, die “sicher schmerzhaft werden”, die Beinmuskulaturen habe ganz stark unter Fraternisierungsverdacht mit dem Knie, bisher ging ihr Protest aber über ein “Och nö, das ist doch jetzt nicht wahr.” nicht hinaus. Die in der Literatur behauptete Gewöhnung stellt sich bei der Sitzfläche partout nicht ein (und das ausgleichende im-Stehen-Fahren gefällt Beinen und Handgelenken nicht). Dem linken Oberarm ist die zugeteilte Magnesiumdosis zu niedrig und die Handgelenke wollen nach Hause. Da aber von den Zähnen bisher noch nichts Negatives zu vermelden ist, mache ich mir keine ernsthaften Sorgen.

P.S. Der obige Satz übrigens soll der Legende nach von Udo Bölts stammen, der ihn dem auf einer Überführungsetappe schwächelnden Jan Ullrich zugerufen haben soll.

Leipzig-Lübeck 2010 (6) – Einiges über die Elbe

Location: Bleckede (Tagesziel)
Kilometerstand: 114,43 km
Fahrzeit: 5:57:16
Tagesschnitt: 19,33 km/h
Reisezeit: 7:30 h

Viel gibt es vom zweiten Teil der heutigen Etappe nicht zu berichten. Zum einen, weil nicht viel passierte, außer daß ich weitere 60 km auf oder neben dem Deich der Elbe gefahren bin und zum anderen, weil ich auch wenig nach links und rechts geschaut habe.
Eine Sache ist mir aber doch aufgefallen. Kurz nach dem Beitrag heute Mittag verließ ich Mecklenburg-Vorpommern (durch das ich eh nur kurz gefahren bin, denn der Beginn lag kurz vor Dömitz, also es war eher ein Streifen, denn ein Durchfahren) und war seitdem in Niedersachsen. Nun mag es merkwürdig klingen, aber die Gegend sah dort tatsächlich anders aus. Permanent tauchten irgendwelche Drei-Häuser-Dörfer am Rand auf, die umzäunten Flächen nahmen sofort zu (was eine kleinteiligere Landwirtschaft nahelegt) und Wildtiere sah ich kaum noch (während ich vorher in Brandenburg mehrmals über den Deich hüpfenden Rehen, einmal sogar einem Storchenpaar den Vortritt lassen mußte). Mir fehlt die Kenntnis der hiesigen historischen Zusammenhänge (offenbar war die Gegend um Wehningen bis 1993 nicht zu Niedersachsen gehörig, so ganz schlau bin ich aus den Hinweisen zum Deichbau nicht geworden), aber kleinteilige Landwirtschaft bewirkt ein anderes Landschaftsbild – was zudem den Radreisenden entgegenkommt, denn das ist doch erheblich abwechslungsreicher als die endlosen Wiesen und Felder in Brandenburg – und bringt den psychologischen Effekt mit sich, daß man sich von Dörfchen zu Dörfchen durchhangeln kann. Dies gleicht dann auch aus, daß im Gegensatz zu Brandenburg es in Niedersachsen bisher keinerlei Kilometerhinweise zu den nächsten Zielen auf dem Radweg gab. Habe ich sehr vermißt. Es war ein tolles Gefühl, kurz vor Dömitz das Schild mit dem Hinweis auf die 51 km nach Wittenberge zu sehen. 😉
Ein paar Kleinigkeiten gäbe es aber doch noch. Nach Kilometer 80 frischte der Wind wieder erheblich auf (behaupte ich) oder meine zunehmend erlahmenden Kräfte suggerierten mir das (was ich bezweifle). Wenige Kilometer vor Neu Bleckede macht die Elbe wieder einer ihrer enervierenden Schleifen (ich habe mir heute mehrfach gewünscht, dieser Fluß möge doch bitte einfach geradeaus fließen – das kann doch so schwer nicht sein), an deren Ende ich aber Radfahrer sah. Und da während der vorhergehenden Beiträge ja bereits einige Begriffe des Radsportjargons geklärt wurden, heute mal den nächsten. Was nun geschah, nennt man in der Fachsprache: Ansaugen. Ich legte also eine schmucke 25er-Temporunde ein und noch vor Ende der Kurve hatte ich die beiden Fahrerinnen in Identifizierungsgröße (kannte sie aber nicht). Das Problem dabei: Gerade als Solist kann es passieren, daß man die eigenen Kräfte überschätzt und vergißt, daß das Erreichen der vor einem fahrenden Gruppe keineswegs das Ende des Rennens ist. 😉
Hin wie her, nach 106 Tageskilometern erreichte ich die Fähre bei Neu Bleckede, noch in der Annahme, dort eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Dies stellte sich jedoch als Irrtum heraus, jedenfalls gab es nicht den geringsten Hinweis. Da bisher in jedem Dörfchen ein Werbeschild gut sichtbar aufgestellt war, vermutete ich ganz stark, daß es hier nichts zu holen gab. Falls doch, wissen diejenigen jetzt, warum ich nicht da war. Nach Hinzuziehen das Radreiseführers kam ich zu dem Schluß, morgen eh linkselbisch weiter zufahren und nutzte also die Bleckeder Fähre, womit auch dieser Tag nicht ohne Elbüberquerung verging.
Nach dem ich heute also die Elbe ausgiebig gesehen habe und im Zusammenhang mit den bereits in den vergangenen Tagen gewonnenen Beobachtungen bin ich inzwischen zu folgender Hypothese gelangt: Die Elbe besteht mährschendeils aus Wasser.
Drüben angekommen stellte ich fest, daß meine vorher ausgesuchte Pension auch auf dieser Seite ist, leider war die jedoch schon belegt. Woraufhin ich mich entschloß, einfach weiter in Richtung Lauenburg zu fahren und eine der dann sicher auftauchenden Übernachtungsmöglichkeiten zu nutzen. Beim Blick ins Kartenmaterial fiel mir dann die Anzeige einer Privatzimmervermietung auf. Die hat zwar eine Bleckeder Adresse, aber Bleckeder Moor liegt dann doch sehr j.w.d. Ich hoffe aber, daß zumindest ein Teil der zusätzlichen Kilometer ich morgen sparen kann, denn im Prinzip liegt der Hof auf dem Weg. Schau mer mal.

Leipzig-Lübeck 2010 (5) – Ut mine Festungstid

Location: Kurz hinter Dömitz
Tagesziel: Neu Bleckede
Kilometerstand: 60,16 km
noch zu fahren: ca. 50 km
Fahrzeit: 3:03:07 h
Reisezeit: 3:30 h

Die Etappe heute morgen begann überraschend leichtläufig. Zwar spürte ich bereits nach dem Aufstehen, daß ich heute mit schweren Beinen zu kämpfen haben würde, aber die Schmerzen meldeten sich heute doch überraschend zurückhaltend. Wahrscheinlich haben die Nerven aufgrund von Erfolglosigkeit das hysterische Funken aufgegeben und machen nun nur noch Dienst nach Vorschrift. Ich fand recht schnell den richtigen Gang und den richtigen Tritt und die 55km bis Dömitz gingen ohne Pause zügig von statten. Das brachte mir den schnellsten Eröffnungszehner der bisherigen Tour ein und ein erhebliches Erstaunen darüber, daß ich tatsächlich fast drei Stunden am Stück durchziehen konnte. Hätte ich mir heute morgen nicht zugetraut. Vielleicht war der gestrige Kampftag ja eine Art Durchbruch. Zudem frischt zwar gelegentlich der Wind etwas auf, aber mit den gestrigen Bedingungen ist der strahlend schöne Tag heute nicht zu vergleichen.
Dabei half sicher auch, daß es die ganze Zeit auf dem Deich entlangging und die Handlungsalternativen dort äußerst begrenzt waren. Dömitz hatte ich mir eigentlich als Pausenort ausgesucht, denn ein Freund hatte mir das Werk Fritz Reuters vorgestellt (wenn ich das richtig verstanden habe, dürfte seine Rolle fürs Plattdeutsche in etwa der von Lene Voigt fürs Sächsische entsprechen – sollte ich hier irren, bitte ich um Korrektur) und der hatte in Dömitz auch eine, nun ja, Pause eingelegt. Und nachdem ich gestern bereits Chamisso mit Nichtachtung strafte und heute Turnvater Jahns Gedenkstätte ich Lanz rechts liegen ließ, wollte ich doch wenigstens Herrn Reuter Reminiszenz erweisen.
Leider lag auf meinem Weg jedoch keine freie Sitzgelegenheit, alles, was sich dem suchenden Auge darbot, war eindeutig einer gastronomischen Einrichtung zuzuordnen. Diese aber sind während der Fahrt tabu. So sitze ich hier also am Eingang des Naturschutzgebietes Rüterberg, dessen namensgebender Ort übrigens auch eine kuriose Geschichte hinter sich hat. Ich werde allerdings den Umweg durch die Dorfrepublik nicht nehmen, denn die nächste Stufe nach schweren Beinen sind Muskelkrämpfe und die möchte ich doch vermeiden, zumal 150km vorm Ziel Aufgeben nicht mehr in Frage kommt. Hoffen wir also, daß aus diesem guten Beginn kein Kampf gegen den Krampf wird.

Leipzig-Lübeck 2010 (4) – Vom Winde verweht im Land der Störche

Location: Wittenberge (Tagesziel)
Kilometerstand: 106,88 km
Fahrzeit: 6:21:45 h
Tagesschnitt: 16,96 km/h
Reisezeit: 7:50 h

Ich habe das Tageszeiel erreicht. Aber fragt mich nicht, warum. Es ist mir schleierhaft, wie ich meinem geschundenen Körper die heutigen 100 km abtrotzen konnte. Aber der Reihe nach.
Die heutige Etappe begann mit Schmerz vom ersten Tritt an. Beide Füsse und über die Sitzfläche möchte ich keine weiteren Worte verlieren. Dazu gab es heute den ganzen Tag, wirklich den ganzen Tag ununterbrochen: WIND. Bevorzugt von vorne, gerne aber auch von der Seite (Seitenwind, noch dazu wechselnd, ist das böseste, was man einem Radfahrer antun kann – es gibt Stragien gegen Seiten- wie auch Gegenwind, aber sowohl für den Belgischen Kreisel als auch fürs Windkantenfahren fehlte mir schlicht und ergreifend die Gruppe) – es war enervierend. Ich habe daher auch auf eine Mittagspause verzichtet, einfach um irgendwie vorwärts zukommen. Alles in allem: Der freundliche Wunsch meiner Wirtin in Grieben, ich möge viel Spaß haben, erfüllte sich nicht im Geringsten. Spaß ist was anderes.
Da der Tag schon so freundlich begann, verfuhr ich mich auch gleich mal, und zwar nach Verlassen des Örtchens Buch (leider war kein Ortseingangsschild in Sicht, dieses Photo hätte ich mir unmöglich entgehen lassen können – für eine Ortsumfahrung, um eines zu finden, fehlte mir jedoch jegliche Motivation) – entweder habe ich das blaue e, das mich bisherzuverlässig leitete, übersehen oder es handelt sich wirklich um eine miserabel ausgeschilderte Stelle. Aber gut, wer war noch nicht verwirrt, nachdem er ein Buch verlassen hatte?
Nach einer Fahrt auf entsetzlich schlecht gepflasterten Landwirtschaftswegen (womit ich nichts gesagt haben will, offenbar war die Strecke ja nicht für Radtouristen gedacht und ich bin mir sicher, die Traktoren kommen mit dem Belag hervorragend klar) traf ich auf eine Gruppe Radtouristen, die offensichtlich von jemand Ortskundigem geführt wurden. Dieser gab mir im Vorbeifahren einen freundlichen Hinweis, wie ich den Deichweg nach Tangermünde erreichen könne. Die Sprüche der nachfolgenden Fahrer möchte ich hier nicht wiedergeben, aber mir ist schleierhaft, wie man als Teilnehmer einer Fahrt, deren Herausforderung in Sachen Orientierung in nichts anderem besteht, als allen hinterherzufahren, sich tatsächlich über jemanden lustig machen kann, der den Weg nicht ganz gefunden hat, erschließt sich mir nicht. Für schlagfertige Antworten fehlten mir Zeit, Muße und Esprit, also erduldete ich Häme und Spott und machte mich auf den Weg. Von dem ich aber nach Überblicken der Lage schnell wieder absah, umkehrte und im nächstgelegenen Ort die Landstraße nach Tangermünde nahm. Das brachte mich zwar um den Genuß, von der Hafenseite her einzufahren, sparte mir aber einige Kilometer, so daß ich nach den vorgesehenen 17 Kilometern, wenn auch nicht in der geplanten Zeit, Tangermünde erreichte.
Obwohl ich also unter erheblichem Zeitdruck stand, konnte ich unmöglich die Tangermünder Altstadt ignorieren. Immerhin befinde ich mich auf einer Tour zum Haupt der Hanse und mit Tangermünde erreichte ich nun endgültig den Einflußbereich derselben. Ich kann der geneigten Leserschaft nur raten: Schaut euch dieses Städtchen an – vergeßt Delitzsch, frühneuzeitliche Stadtstrukturen jibbet hier viel besser zu bestaunen. Und eine spät rehabilitierte auf dem Scheiterhaufen verbrannte Ortsheldin (ist es nicht eigentlich absurd, eine Frau, der man die SChuld an einem verheerenden Stadtbrand gibt, nun auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen?) – näheres lesen Sie bitte bei Fontane.
Ich nutzte zudem die städtische Infrastruktur, um Bananen- und Bargeldvorräte aufzustocken und machte mich dann an die Weiterreise, die äußerst beschwerlich, aber immhin mit Elbblick begann. Von “flach” konnte übrigens auf diesem Tagesabschnitt keine Rede sein. Der Sportkommentator in meinem Kopf fand die Bezeichnung “wellig, nicht hoch, aber zermürbend”. Die nicht endenwollende Fahrt nach Arneburg brachte mich nahe an eine Aufgabe, aber manchmal zeichne ich mich durch eine gewisse Dickköpfigkeit aus und ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Außerdem wollte ich unbedingt Wittenberge erreichen. Das ist wahrscheinlich so eine Psychosache. Als langjähriger Bahnfahrer war Wittenberge immer ein Hoffnungsort. Hat man erstmal den Umsteigebahnhof Wittenberge erreicht, dann ist es nicht mehr weit nach Norden. Vor allem hat dann die endlose Einöde der Altmark ein Ende. Selbige schien heute kein Ende nehmen zu wollen und der Wind blies teilweise so stark, daß ich selbst auf flachen Strecken nicht mehr über 13-14 km/h hinauskam. Daher faßte ich den Entschluß, auf keinen Fall vor Havelberg Pause zu machen, einfach um effektiv etwas geschafft zu haben. Also ignorierte ich auch den winzigen Hinweis in Kirch-Polkritz auf das Chamisso-Grab. Der war wirklich winzig, nur auf einem kleinen Schild als dritter Punkt angeschrieben, ganz im Gegensatz übrigens zu den Hinweisen aufs Rittergut oder der ausgiebigen Würdigung der Schlacht bei Altenzaun – einem großen Tag in der Geschichte der Altmark, besiegte hier doch Herr Yorck mit seinen preußischen Truppen die bösen Franzosen. Nachdem ich das sah, überkam mich zum einen ein schlechtes Gewissen, ob es nicht als Kontrapunkt notwendig gewesen wäre, das Grab zu besuchen und zum anderen ließ es mich über die Erinnerungskultur der Altmark grübeln. Die Anzahl an Kriegsdenkmälern dort ist erstaunlich, bei Storkau stand ein Gedenkstein für die bei der Verteidigung der Eisenbahnbrücke gefallenen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Erklärung als preußisches Kernland und den damit verbundenen Repräsentationszwecken wirklich zur Erklärung ausreicht. Nunja, das ist ein anderes Thema.
Laut Radreiseführer könnte man durch den Weg über Sandau und Havelberg 17km sparen. Das war natürlich Musik in meinen Ohren und frohgemut überquerte ich bei Sandau, vorher in Sandau das Schild “Wittenberge 35km” ignorierend, erneut per Fähre die Elbe, das nahe Ende des heutigen Reisetages vor Augen. Am Ortseingang Havelberg erwartete mich die erste Enttäuschung, denn statt der laut Kilometerstand zu erwartenden ca. 20km nach Wittenberge gab der Wegweiser für den Elbradweg 30km an. Ich traf dort denn auch ein Paar wieder, das ich bereits auf der Fähre traf, nach gemeinsamen Kartenstudium kamen wir zu dem Schluß, daß nichtsdestotrotz dies der angkündigte kurze Weg sein müsse, die beiden fuhren dann noch in die Stadt, wovon ich absah, denn ich war bereits vor 12 Jahren da und ein erneuter Blick auf den durchaus imposanten Havelberger Dom war mir die massiven Steigungen dorthin nicht wert (der Ort heißt vollkommen zurecht HavelBERG).
Nach 9 km Schleifen fahren kam ich an einem Schild an, das zwei Wege nach Wittenberge anzeigte. Der eine war 28, der andere 29 km lang. Ich war den Tränen nahe. Mein Kopfradio assoziierte wild und spuckte das hier aus.
Aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits rund 70 km auf dem Tacho, kein Grund, jetzt noch aufzugeben. Nach 12km Fahrt durch – Nichts (ehrlich, der Grebe hat so Recht) oder als was auch immer man Brandenburg bezeichnen möchte. Da waren jedenfalls nur der Fluß, der Deich, ein paar Wiesen, verschiedenes Getier – und ich. Mit dem Wind, meinen SChmerzen und meiner Verzweiflung kämpfend. Da gehörte schon einiges dazu, in Rühstädt (Europas Storchendorf seit 1996 – muß ich wirklich noch was sagen?) die zahlreichen Übernachtungsangebote auszuschlagen. Aber: Ein Ende war abzusehen. Unter 20 km vom Tagesziel entfernt, Zeit, mal in Wittenberge anzurufen – und diesmal funktionierte es mit der vorher erwählten Übernachtungsmöglichkeit. Mit diesem psychologischen Trick gewappnet fühlte ich mich stark genug, die sicher noch zahlreichen Avancen zur zeitigen Übernachtung ausschlagen zu können. Im nächsten Ort verkündete dann ein Schild: “Wittenberge 11km” – Gottseidank. Leider war der dafür vorgesehene Weg wegen einer Brückensanierung gesperrt und die Umleitung führte über eine vielbefahrene Straße. Als ich auf diese traf, nach ca. 5km Fahrt offenbarte mir zum zweiten Mal heute ein Schild, daß ich mich meinem Ziel nicht genähert habe. Noch 12km bis Wittenberge. Aber wenigstens gab es diesmal aller paar Kilometer ein neues Dorf, was die Sache erträglicher machte als die immergleiche Aussicht auf Felder und Wiesen, die heute weite Strecken des Tages prägte.
Nun aber bin ich hier in einer unglaublichen Ferienwohnung (2 Etagen, oben zwei Zimmer, das ganze in einem eigenen Gebäude und für nur 25€ – also falls mal jemand nach Wittenberge möchte: Haus am Festspielplatz. Tolle Sache.) und hoffe darauf, daß morgen alles besser wird.
Wie zum Hohn übrigens gab es vorhin beim Weg zu einer gastronomischen Einrichtung meiner Wahl strahlende Sonne und Windstille. Ick sache da ma nüscht zu, wa.

Leipzig-Lübeck 2010 (3) – Nostalgie und Schmerz zwischen Salz- und Bördeland

Location: Grieben (Etappenziel)
Kilometerstand: 106,24 km
Fahrzeit: 5:24:58h
Reisezeit: 8:20 h
Tagesschnitt: 19,20 km/h

Ehe ich mit dem heutigen Etappenbericht beginne, erst einmal ein Nachtrag zu gestern: vodafone-Kunden brauchen gar nicht zu frohlocken, in Walternienburg gibt es auch D2 nur zufällig mal (und dann wieder nicht)
Drei Feinde des ambitionierten Radfahrers hatte ich heute zu bekämpfen: Wind, Steigungen und Regen. Gegen Regen gibt es Kleidung, Steigungen kann man trainieren – nur Wind. Wind ist immer Mist. Sollte jemand aus der geneigten Leserschaft mal im Rahmen eines Radrennens als Solist unterwegs sein und permanenten Gegenwind verspüren, so sei ihm geraten, die Arbeit gleich einzustellen. Die hinten fahren mit Windschatten. Da ist zum Durchkommen ein Wunder nötig.
Beim Aufbruch heute morgen hatte ich keine Ahnung, wie weit ich kommen würde. Mein linker Fuß schmerzte bereits seit gestern im Knöchelbereich erheblich und auch massiver Mobilat-Einsatz (das einzige Medikament, das ich mir erlaubt habe, ansonsten möchte ich gerne wissen, was mein Körper mir zu sagen hat) ließ das nicht verschwinden. Los fuhr ich natürlich trotzdem, in Kenntnisnahme des Wetterberichtes mit langer Hose.
Kurz nach meinem Aufbruch, noch vor Ronney, entdeckte ich ein Reh in einem Feld. Ganz naives Stadtkind dachte ich nun „Oh ein Reh, und es liegt so friedlich da, nur wenige Meter von der Straße – muß ich doch mal fotografieren.“ und hielt an. Ich ließ den Apparat dann stecken, als ein ebenfalls haltender Ortskundiger mit der Vermutung, das Tier sei wohl angefahren worden, sich eben jenem näherte. Dessen gescheiterter Versuch, davonzulaufen bestätigte den Verdacht. Daß der hinzuzuziehende Jäger offenbar im Gasthaus „Zum Fährmann“ zu finden war, beruhigte mich nicht gerade, aber zumindest nahm sich jemand der Sache an und sicherlich geht der Beauftragte seiner Arbeit ganz im Sinne des Gesetzes nach.
Der Tag setzte sich fort mit einer Fahrt durch, laut Radreiseführer, herrliche Elbwälder (mich erinnerten sie ganz stark an nebelschwadendurchzogene Szenen aus Filmen mit Avalon-Sujet, ein plötzlich auftauchender grün gewandeter Kobold mit apartem Hut, der mir die Weiterreise nur gegen ein mich in ein moralisches Dilemma stürzendes Versprechen gestattet, hätte mich nicht im Geringsten überrascht) und ebenso beschaffene Elbauenwiesen (also ehrlich, mal unter uns: Es sind Wiesen. Da wächst grünes Gras, gelegentlich ein Löwenzahn und mal ein Baum, ja nu…) – aber immerhin mit gelegentlichem Blick auf die Elbe.
Zudem ging es heute Vormittag an Schauplätzen meiner Kindheit vorbei, nicht ganz ohne Wehmut, allerdings durchaus ohne den Sinn zu verweilen, auch wenn die Pretziener Dorfkirche einen Besuch lohnt und Plötzky ein schmuckes Örtchen ist. Der sich zuziehende Himmel und der doch erheblich spürbare Wind mahnten mich, so zügig wie möglich nach Magdeburg zu fahren. Machte ich dann auch, bog vor Calenberge vom Elberadweg ab, da ich dem unheimlich hübschen Schild „Magdeburg 15 km“ unmöglich widerstehen konnte und gelangte nach einer idyllischen Reise mit Blick auf vielerlei Getier in die Landeshauptstadt.
Btw: Ich sah sogar einen Raubvogel im Angriffsflug. Es muß sich aber um einen Prototyp handeln, denn von seiner geringen Größe einmal abgesehen, verfügte er ganz offenbar auch über keinerlei Feuerwaffen.
Der Regen setzte jedenfalls pünktlich ein und ich schaffte es tatsächlich noch gerade so in den Karstadt, um den wirklichen Schauer nicht abzubekommen. Einmal in der Großstadt angekommen (tatsächlich handelt es sich um die mit Abstand größte Zwischenstation auf der ganzen Reise) erledigte ich darauf noch ein paar Dinge, die geregelt werden wollten (nebenbei: Ich fühlte mich im O2-Laden so alt wie schon lange nicht mehr, als ich mein Gegenüber, der mir gerade einen Surfstick für 1 € verkaufte, die Bemerkung: „Früher gab es dafür ganze Fabriken.“ nicht verstand.) und machte mich viel zu spät (gegen 13:00) auf die zweite Hälfte des Weges.
Knappe 45 Minuten später passierte ich bei Hohenwarte den Punkt, an dem ich im vorigen Jahr meinen ersten Versuch kläglich abbrechen mußte (und war erstaunt, wie weit ich damals doch noch gefahren bin, vom Startpunkt in Magdeburg aus waren das gut und gerne 15km) – was mir durchaus ein gewisses Hochgefühl verschaffte, auch wenn der Tagesplan noch lange nicht erfüllt war. Aber immerhin: Soweit war ich noch nie. Und: Es gab dieses Mal wirklich viel Elbe zu sehen. Stellenweise sogar so viel, daß eine ungeschickte Lenkbewegung durchaus Kontakt mit Elbwasser zur Folge hätte haben können (auf der Strecke zwischen Lostau und Hohenwarte – auf dem folgenden Abschnitt nach Niegripp vermute ich ganz stark, daß der Radweg irgendwo auf dem Deich entlanggeht – die Alternative war aber eine wunderbar asphaltierte Straße 😉 )
Bei Rogätz überquerte ich erneut die Elbe per Fähre, da der Fluß hier erheblich breiter ist als in Aken, kostete die Überfahrt logischerweise auch gleich mal 50% mehr. Aber gut.
Die restlichen 25 km sind nicht weiter der Rede wert. Sie bestanden im Wesentlichen aus Überwindung. Überwindung, weiter zu fahren, nicht schon 20 km früher aufzuhören. Inzwischen schmerzte auch der rechte Fuß, aber dabei machte ich eine interessante Beobachtung: Irgendwann stört der Schmerz nicht mehr. Es tut noch immer weh, ja. Aber es stört nicht. Man tritt einfach weiter.
Meine im Vorfeld ausgesuchte Pension sagte mir dieses Mal klipp und klar am Telefon, daß unter zwei Personen nüscht zu machen ist. Zunächst beunruhigte mich das erheblich, aber ich konnte inzwischen die Beobachtung machen, daß es eine offensichtliche Korrelation zwischen der Anzahl von Übernachtungsmöglichkeiten und der Existenz einer Fähre in unmittelbarer Nähe gibt. Nun, das Tagesziel Grieben hat eine Fähre – und tatsächlich das erste Werbeschild im letzten Ort vor Grieben (Bittkau) brachte sofort die Übernachtungsgelegenheit. Gut und günstig. Wunderbar.
Und jetzt werde ich mal schauen, ob die in der Gaststätte im Ort dieses weltberühmte Griebenschmalz haben. 😉

P.S. In einigen Dörfern heute gab es historisches Kopsteinpflaster. Die Paris-Roubaix-Fahrer haben definitv einen an der Klatsche.

Leipzig-Lübeck 2010 (2) – Die Sirene von Walternienburg

Location:: Walternienburg
Kilometerstand: 105,54 km
Fahrzeit: 5:06:31 h
Tagesschnitt: 20,89 km/h
Reisezeit: 7:20 h

In Walternienburg jibbet kein Netz. Auf FreeWLAN brauchte man ja nicht hoffen, aber auch Eplus stößt hier an die Grenzen. Überhaupt BASE. Dieses Drama bedarf noch eines Extrabeitrags, den ich zu gegebener Zeit nachreichen werde.
Der zweite Teil der heutigen Etappe hinterließ erwartungsgemäß deutlich mehr Spuren. Die rund 20 Kilometer nach Dessau fuhren sich wieder einmal hervorragend (Asphalt, ich liebe Asphalt), da ich als Ziel aber die Fähre in Aken hatte, tangierte ich die BauhausStadt nur am Rande. Womit ich ihr im Prinzip Unrecht tue, gleichzeitig gibt es aber nur wenige Städte, die ich öfter besucht habe. Möge man mir dies also heute verzeihen. Auf der Strecke zwischen Dessau und Aken haben inzwischen die Baumwurzeln erhebliche Spuren auf dem Radweg hinterlassen. Macht keine Freude, da mit Gepäck drüberzuholpern und war insofern keine ideale Begrüßung des Elberadwegs an mich. Es waren aber doch sehr viele Radausflügler unterwegs, offenbar hervorgelockt durch den strahlenden Sonnenschein, der für mein Geschmack ja eher hart an der Grenze war. Man will ja keinen Sonnenstich bekommen, nicht wahr. Trotzdem wäre es mir lieber, es bliebe auch morgen dabei und die stattdessen angekündigten Wetterkapriolen blieben aus. Eine neue Regenjacke habe ich nämlich immer noch nicht. Kurz vor der Fähre führt der Elberadweg auf den Deich und das war denn heute das erste und auch das letzte Mal, daß ich den namengebenden Fluß zu Gesicht bekam. Ich bin mal gespannt, wie das in den folgenden Tagen laufen wird, aber wenn ich mich recht entsinne, wird das bis Magdeburg auch nichts mehr. Nach der Elbüberquerung (der Kilometerzähler näherte sich nunmehr der 90) ließ auch meine Motivation arg nach. Zum einen hatte die von mir im Vorfeld ausgesuchte Pension in Ronney ganz offenbar keine Lust auf Einzelbesucher (oder welche Erklärung fällt der geneigten Leserschaft für die Tatsache ein, daß erst nach der Verkündung meines Status´ als eben solcher keine Plätze mehr frei waren?), der Reiseführer spuckte keinen passenden Ersatz aus und bis nach Barby, der dem Ziel am nächsten gelegenen größeren Stadt, waren es noch über 20 Kilometer. Daß mich Steckby, ihr wißt schon, dieser Ort mit Radfahrerkirche, mit Kopfsteinpflaster und einem Pulk auf der falschen Straßenseite fahrender RentnerInnen begrüßte, vermochte meine Laune nicht zu heben. Die folgenden 6 Kilometer in Richtung Trochheim führten durch einen Kiefernwald, auf den sandigen Böden dieser Gegend keine Seltenheit. Da sich einige Kapitel meiner Kindheit in genau solchen Wäldern abspielten weckte der mich umfangende typische Duft zunächst einige sentimentale Erinnerungen. Deren Strahlkraft ließ mit zunehmender Dauer allerdings erheblich nach und der Zustand der Straße (eine wirre Mischung aus Schotter, Sand, Schlaglöchern und Bodenwellen) rückte unnachgiebig ins Bewußtsein. Übrigens der einzige Zeitpunkt der heutigen Etappe, an dem ich den Fahrradcomputer (ich bin immer versucht „Tacho“ zu sagen… verflixte Sozialisation) von der Anzeige der Uhrzeit auf die Anzeige der Fahrtkilometer umstellte, um zu sehen, wann dieses Elend ein Ende nähme. Und ein Erlebnis, das meine Überzeugung bestärkte, daß alle Teilnehmer von Paris-Roubaix schwer einen an der Klatsche haben.
Es nahm ein Ende mit einer wunderbaren Asphaltstraße, die mich schließlich zu einem Ort namens Poleymühle führte. Dieser schien sich, zumindest für mich, vor allem durch eine schier unglaubliche Anzahl von Werbeschildern für Übernachtungsangebote auszuzeichnen. Ich wählte schließlich das, auf den „1,0 km“ stand. War für mich eine sehr überzeugende Werbebotschaft. Nunja, und nun bin ich hier. Frisch geduscht, bereits fürs Abendessen und nur ca. 2,5km vom ursprünglichen Etappenziel entfernt. Paßt scho.

Leipzig-Lübeck 2010 (1) – Lost in Delitzsch

Location: Wolfen
Kilometerstand: 49,78
Fahrzeit: 2:25:54 h
Reisezeit: 3h
Tagesziel: Ronney bei Barby
noch zu fahren: ca. 60km

Ursprünglich hatte ich Dessau als ersten Pausenort eingeplant, aber der neue Sattel fordert seinen Tribut. Die Beine sind noch ganz okay, da hatte ich mit schlimmerem gerechnet.

Ich konnte heute feststellen, daß ein Jahr eine lange Zeit sein kann und sich daher gelegentlich ein Blick auf die Karte lohnen kann, auch wenn der Reisende glaubt, die Strecke zu kennen. So bin ich heute morgen einige unsinnige Kilometer in Leipzig gefahren, die damit endeten, daß ich an der Neuen Messe rauskam, was ich bei direktem Wege statt der benötigten 45 Minuten auch locker in der Hälfte der Zeit hätte schaffen können. Aber gut, aus der Stadt raus ist ja immer das Nervigste. Mangels annehmbarer Alternativen folgte ich dann der B184 nach Delitzsch, gelegentlich sogar mit begleitendem Radweg, was alles in allem auch Sonntagmorgen kein Vergnügen ist.
Da ich aber nun schon einmal da war, hatte ich daraufhin die kühne Idee, der Straße einfach zu folgen, um so auf kürzestem Weg das nächste Ziel (Bitterfeld) zu erreichen. Offenbar ist die Bundesstraße, die übrigens hervorragend asphaltiert ist (wären die 100km/h schnellen Überholenden nicht: wunderbar) aber für Delitzsch als Ortsumgehung geplant, was die zuständigen Behörden dazu verleitete, ein formschönes Verbotsschild für Radfahrer aufzustellen.
Nunja, dann halt durch die Stadt durch. Wie ich dabei feststellen konnte, hat Delitzsch eine ganz wunderbare Altstadt, in ihrer frühneuzeitlichen Struktur perfekt erhalten und von Einbahnstraßen und Fußgängerzonen durchzogen. Wer die Stadt besuchen möchte: Folgt den freundlichen Hinweisen auf die Parkmöglichkeiten, denn hat man sich einmal entschlossen, die Umgehungsstraße nicht zu wählen und nicht unmittelbar einen Parkplatz anzusteuern, wird es mit Hinweisen auf einen Ausweg aus der Stadt heraus sehr dünne. Einen solchen hätte ich freilich dringend gebraucht, war mein Interesse ja nicht touristischer Natur und lag ich außerdem bereits so schon katastrophal in der Zeit. Im Gegensatz zu Dörfern, in denen ich mich regelmäßig bis zur Verzweiflung verirre (man kann da Straßen wählen, wie man will, es endet immer wieder auf dem Dorfplatz… – gabs da nicht auch mal einen Horrorfilm?), kommt mir in Städten jedoch mein erworbenes Wissen zu Gute. Einen Ausweg nämlich zeigten die Touristenschilder an. Offenbar ist man in Delitzsch der Meinung, der Bahnhof sei eine Attraktion. Das mag ja sein, gleichzeitig begingen die Stadtoberen damit aber einen schweren Fehler: Denn ein Bahnhof ist in seiner Funktion als Verkehrsknotenpunkt immer der Treffpunkt vieler nach auswärts führender Straßen. Scheinbar hat man diesen Fehler übrigens bereits bemerkt, denn der Kreisverkehr in der vorm Bahnhof entlangführende Eisenbahnstraße ist in alle Richtungen (außer natürlich stadteinwärts) gesperrt, angeblich wegen Bauarbeiten. Nunja, es ist Sonntag, Bauarbeiter waren keine zu sein und die Einwohner nutzten einen Weg über den nahegelegenen Aldiparklatz, um die Sperrung zu umgehen. Icke och.
Der Rest der bisherigen Strecke verlief dann beruhigend unspektakulär. Die B183a hat in Delitzsch einen begleitenden Radweg, der direkt in ein Naherholungsgebiet führt. Voriges Jahr nahm ich den Weg eben dort entlang, aber diese Rundwege um irgendwelche Seen mögen ja recht ansehnlich sein, führen aber zu unnötigen Umwegen (von möglichen Odysseen mal ganz abgesehen). Ich konnte also dem Schild “Bitterfeld 10km” unmöglich widerstehen – und lag damit richtig. Denn hinter Delitzsch verliert die B184 ihre Funktion als Zubringer zur Autobohn und meine Vermutung, daß es am Sonntag eher wenige Leute von Delitzsch nach Bitterfeld ziehen würde, bestätigte sich vollauf. Kurz vor der Bayer-Stadt beginnt dann etwas, wofür ich nicht müde werden kann, den Landkreis Anhalt-Bitterfeld zu loben: Asphaltierte Radwege neben der Bundesstraße. Super. So stelle ich mir Radwege als Infrastruktur vor. Keine Biegungen, um landschaftlcih reizvolle Wiesen zu sehen, keine Abzweigungen für die unbedingt sehenswerte Dorfmühle – Nein: Geradeaus zum Ziel.
Mein nächstes Ziel heißt nun Dessau, dort gilt es die Elbe zu überqueren und bis zum letzten Tage heißt es dann: Follow the yellow brick road. Naja, beziehungsweise halt dem Elberadwegzeichen.

Das Buch zum Sonntag (42)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jean-Paul Sartre: Der Ekel

Meine bisherige Berufserfahrung legt die Vermutung nahe, daß es im Verlaufe eines Lebens verschiedene Lesephasen gibt. Ich habe das noch nicht systematisiert und wahrscheinlich gibt es auch bereits eine Doktorarbeit zu dem Thema (apropos Wissenschaft: Mein Highlight der Frühjahrssaison ist ja dieses Werk hier) – aber ich in überzeugt, daß es in der Adoleszenz eine Phase gibt, in der Lesen besonders empathisch stattfinden. So gibt es beispielsweise die von mir so titulierte Zielgruppe der empfindsamen jungen Damen in der Hesse-Phase (übrigens leicht zu beraten, aber ich schweife ab). Bei mir lag diese Pahse irgendwo zwischen 17 und 20 – und genau zu dieser Zeit las ich zum ersten Mal Sartre.
Die Lektüre war nichts weniger als erschütternd. Die Unerbittlichkeit, mit der Sartre die Belanglosigkeit des Lebens immer und immer wieder darstellt, wie geradezu sezierend die Bemühungen der Menschen um einen höheren Sinn in ihrer ganzen Armseligkeit offenbart werden und dem Lesenden vor Augen führt, daß nichts ist außer seiner Existenz – das hat mich stark beeindruckt. Nach dem “Ekel” las ich noch seinen Zyklus “Wege zur Freiheit”, scheiterte an “Das Sein und das Nichts” – und ließ ihn daraufhin über 10 Jahre liegen (natürlich nicht ohne weiterhin die RowohltRamschKisten nach rot-schwarzen Bänden zu durchsuchen…)
Aber ich möchte die geneigte Leserschaft nicht mit Ausflügen in meine Lesebiographie langweiligen und versuche stattdessen, ein paar Worte zum Buch selbst zu finden.
“Der Ekel” tritt dem geneigten Leser als Tagebuch von Antoine Roquentin entgegen, der in einer französischen Provinzstadt über einen gewissen Monsieur Rollebon, seines Zeichens französischer (Geheim-)Diplomat des 18. Jahrhunderts, forscht, um dessen Biographie zu schreiben.
Roquentin entdeckt eines Tages, daß ihn gelegentlich ein Ekel überkommt – vor Situationen, Dingen, Menschen, das ist zunächst recht diffus.
In der folgenden Szene beobachtet Roquentin von seinem Fenster aus ein eine alte Frau, die sich auf der Straße bewegt.

Ich sehe die Zukunft. Sie ist da, auf die Straße gestellt, kaum blasser als die Gegenwart. Was braucht sie sich zu verwirklichen? Was bringt ihr das zusätzlich ein? Die Alte entfernt sich humpelnd, sie bleibt stehen, sie zieht an einer grauen Haarsträhne, die unter dem Tuch hervorkriecht. Sie geht, sie war dort, jetzt ist sie hier … ich weiß nicht mehr woran ich bin: sehe ich ihre Bewegungen, sehe ich sie voraus? Ich unterscheide die Gegenwart nicht mehr von der Zukunft, und trotzdem: das dauert, das verwirklicht sich nach und nach; die Alte kommt in der verlassenen Straße voran, sie bewegt ihre plumpen Männerschuhe vorwärts. So ist sie, die Zeit, die nackte Zeit, das kommt langsam zur Existenz, das läßt auf sich warten, und wenn es kommt, ist man angeekelt, weil man mekrt, daß es schon lange da war. Die Alte nähert sich der Straßenecke, sie ist nur noch ein Häufchen schwarzer Stoffe. Gut, ja, meinetwegen, das ist neu, eben war sie nicht da. Aber dieses Neue ist matt, defloriert, es kann einen nie überraschen. Sie wird um die Straßenecke biegen, sie biegt um die Ecke – eine Ewigkeit lang.
Ich reiße mich vom Fenster los und laufe taumelnd im Zimmer herum; ich bleibe am Spiegel hängen, ich sehe mich an, ich ekele mich an: noch eine Ewigkeit. Schließlich entkomme ich dem Bild und werfe mich auf mein Bett.

(S. 54f.)*

Diesem Ekel spürt Roquentin in seinem Tagebuch sehr intensiv nach, versucht ihn zu ergründen. Der geneigte Leser wir hier Zeuge eines hochinteressanten intellektuellen Schauspiels. Gleichzeitig nimmt Sartre mit Hilfe der Alltagsbeobachtungen seines Protagonisten (und ein Tagebuch bietet ja eine willkommene Plattform für Beobachtungen jeglicher Art) das Spektrum all jener Gesellschaftsmitglieder aufs Korn, die ihm offenbar nicht so zusagen. Neben dem bei Sartre immer wiederkehrenden Typus des “Chefs” findet sich dort im Rahmen einer meiner Lieblingsstellen eine Abrechnung mit dem sogenannten Humanismus, aber es gibt auch wunderbare Kleinstadtszenen, in denen die Absurdität der Dinge und Denkweisen, die unser tägliches Leben beherrschen, vor Augen geführt werden. Und dies alles im beiläufigen Tonfall des unbeteiligten Zuschauers. Da gibt es einige Perlen zu entdecken.

Ich möchte aber noch eine andere Stelle zitieren, weil sie zu denen gehört, die mich seinerzeit ins Mark trafen:

Der Doktor Rogé hat seinen Calvados getrunken. Sein großer Körper sackt in sich zusammen, und seine Lider fallen schwer herunter. Zum erstenmal sehe ich sein Gesicht ohne die Augen: man könnte meinen, eine Pappmaske wie die, die heute in den Geschäften verkauft werden. Seine Wangen haben eine scheußliche rosa Farbe … Die Wahrheit enthüllt sich mir plötzlich: dieser Mann wird bald sterben. Er weiß es bestimmt; er braucht sich nur in einem Spiegel angeschaut zu haben: er wird jeden Tag der Leiche, die er sein wird, ein bißchen ähnlicher. Das also ist ihre Erfahrung, darum also habe ich mir so oft gesagt, daß sie nach Tod riecht: sie ist ihre letzte Verteidigung. Der Doktor möchte gern daran glauben, er möchte die unerträgliche Realität verbrämen: daß er allein ist, ohne Wissen, ohne Vergangenhei, mit einer Intelligenz, die teigig wird, mit einem Körper, der abbaut. Also hat er wohlweislich seinen kleinen, ausgleichenden Wahn konstruiert, eingerichtet, ausgepolstert: er sagt sich, er werde reifer.

(S. 113)

Es bliebe noch einiges über das Buch zu sagen, nicht zuletzt wegen der vielen Facetten, die sich hier zeigen, aber es gehört ja zum Grundsatz dieser Reihe, Leseerfahrungen nicht vorwegzunehmen. 😉
Wie auch immer letztlich die eigene Position dazu sein mag: Die Konsequenz, mit der Sartre hier der Frage nach der Existenz nachgeht, die intellektuelle Schärfe, die das hat – ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Roman jemanden unberührt läßt.
Die stärkste Passage des Romans findet sich in meinen Augen übrigens ab Seite 200 – sie ist zu lang, um sie hier zu zitieren und außerdem möge diese Aussage Ansporn sein, mindestens bis dahin zu lesen. 😉

Zum Abschluß natürlich noch der gewohnte Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

*zitiert nach: Sartre, Jean-Paul: Der Ekel. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek. 53. Aufl. 2009