Das Buch zum Sonntag (42)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jean-Paul Sartre: Der Ekel

Meine bisherige Berufserfahrung legt die Vermutung nahe, daß es im Verlaufe eines Lebens verschiedene Lesephasen gibt. Ich habe das noch nicht systematisiert und wahrscheinlich gibt es auch bereits eine Doktorarbeit zu dem Thema (apropos Wissenschaft: Mein Highlight der Frühjahrssaison ist ja dieses Werk hier) – aber ich in überzeugt, daß es in der Adoleszenz eine Phase gibt, in der Lesen besonders empathisch stattfinden. So gibt es beispielsweise die von mir so titulierte Zielgruppe der empfindsamen jungen Damen in der Hesse-Phase (übrigens leicht zu beraten, aber ich schweife ab). Bei mir lag diese Pahse irgendwo zwischen 17 und 20 – und genau zu dieser Zeit las ich zum ersten Mal Sartre.
Die Lektüre war nichts weniger als erschütternd. Die Unerbittlichkeit, mit der Sartre die Belanglosigkeit des Lebens immer und immer wieder darstellt, wie geradezu sezierend die Bemühungen der Menschen um einen höheren Sinn in ihrer ganzen Armseligkeit offenbart werden und dem Lesenden vor Augen führt, daß nichts ist außer seiner Existenz – das hat mich stark beeindruckt. Nach dem “Ekel” las ich noch seinen Zyklus “Wege zur Freiheit”, scheiterte an “Das Sein und das Nichts” – und ließ ihn daraufhin über 10 Jahre liegen (natürlich nicht ohne weiterhin die RowohltRamschKisten nach rot-schwarzen Bänden zu durchsuchen…)
Aber ich möchte die geneigte Leserschaft nicht mit Ausflügen in meine Lesebiographie langweiligen und versuche stattdessen, ein paar Worte zum Buch selbst zu finden.
“Der Ekel” tritt dem geneigten Leser als Tagebuch von Antoine Roquentin entgegen, der in einer französischen Provinzstadt über einen gewissen Monsieur Rollebon, seines Zeichens französischer (Geheim-)Diplomat des 18. Jahrhunderts, forscht, um dessen Biographie zu schreiben.
Roquentin entdeckt eines Tages, daß ihn gelegentlich ein Ekel überkommt – vor Situationen, Dingen, Menschen, das ist zunächst recht diffus.
In der folgenden Szene beobachtet Roquentin von seinem Fenster aus ein eine alte Frau, die sich auf der Straße bewegt.

Ich sehe die Zukunft. Sie ist da, auf die Straße gestellt, kaum blasser als die Gegenwart. Was braucht sie sich zu verwirklichen? Was bringt ihr das zusätzlich ein? Die Alte entfernt sich humpelnd, sie bleibt stehen, sie zieht an einer grauen Haarsträhne, die unter dem Tuch hervorkriecht. Sie geht, sie war dort, jetzt ist sie hier … ich weiß nicht mehr woran ich bin: sehe ich ihre Bewegungen, sehe ich sie voraus? Ich unterscheide die Gegenwart nicht mehr von der Zukunft, und trotzdem: das dauert, das verwirklicht sich nach und nach; die Alte kommt in der verlassenen Straße voran, sie bewegt ihre plumpen Männerschuhe vorwärts. So ist sie, die Zeit, die nackte Zeit, das kommt langsam zur Existenz, das läßt auf sich warten, und wenn es kommt, ist man angeekelt, weil man mekrt, daß es schon lange da war. Die Alte nähert sich der Straßenecke, sie ist nur noch ein Häufchen schwarzer Stoffe. Gut, ja, meinetwegen, das ist neu, eben war sie nicht da. Aber dieses Neue ist matt, defloriert, es kann einen nie überraschen. Sie wird um die Straßenecke biegen, sie biegt um die Ecke – eine Ewigkeit lang.
Ich reiße mich vom Fenster los und laufe taumelnd im Zimmer herum; ich bleibe am Spiegel hängen, ich sehe mich an, ich ekele mich an: noch eine Ewigkeit. Schließlich entkomme ich dem Bild und werfe mich auf mein Bett.

(S. 54f.)*

Diesem Ekel spürt Roquentin in seinem Tagebuch sehr intensiv nach, versucht ihn zu ergründen. Der geneigte Leser wir hier Zeuge eines hochinteressanten intellektuellen Schauspiels. Gleichzeitig nimmt Sartre mit Hilfe der Alltagsbeobachtungen seines Protagonisten (und ein Tagebuch bietet ja eine willkommene Plattform für Beobachtungen jeglicher Art) das Spektrum all jener Gesellschaftsmitglieder aufs Korn, die ihm offenbar nicht so zusagen. Neben dem bei Sartre immer wiederkehrenden Typus des “Chefs” findet sich dort im Rahmen einer meiner Lieblingsstellen eine Abrechnung mit dem sogenannten Humanismus, aber es gibt auch wunderbare Kleinstadtszenen, in denen die Absurdität der Dinge und Denkweisen, die unser tägliches Leben beherrschen, vor Augen geführt werden. Und dies alles im beiläufigen Tonfall des unbeteiligten Zuschauers. Da gibt es einige Perlen zu entdecken.

Ich möchte aber noch eine andere Stelle zitieren, weil sie zu denen gehört, die mich seinerzeit ins Mark trafen:

Der Doktor Rogé hat seinen Calvados getrunken. Sein großer Körper sackt in sich zusammen, und seine Lider fallen schwer herunter. Zum erstenmal sehe ich sein Gesicht ohne die Augen: man könnte meinen, eine Pappmaske wie die, die heute in den Geschäften verkauft werden. Seine Wangen haben eine scheußliche rosa Farbe … Die Wahrheit enthüllt sich mir plötzlich: dieser Mann wird bald sterben. Er weiß es bestimmt; er braucht sich nur in einem Spiegel angeschaut zu haben: er wird jeden Tag der Leiche, die er sein wird, ein bißchen ähnlicher. Das also ist ihre Erfahrung, darum also habe ich mir so oft gesagt, daß sie nach Tod riecht: sie ist ihre letzte Verteidigung. Der Doktor möchte gern daran glauben, er möchte die unerträgliche Realität verbrämen: daß er allein ist, ohne Wissen, ohne Vergangenhei, mit einer Intelligenz, die teigig wird, mit einem Körper, der abbaut. Also hat er wohlweislich seinen kleinen, ausgleichenden Wahn konstruiert, eingerichtet, ausgepolstert: er sagt sich, er werde reifer.

(S. 113)

Es bliebe noch einiges über das Buch zu sagen, nicht zuletzt wegen der vielen Facetten, die sich hier zeigen, aber es gehört ja zum Grundsatz dieser Reihe, Leseerfahrungen nicht vorwegzunehmen. 😉
Wie auch immer letztlich die eigene Position dazu sein mag: Die Konsequenz, mit der Sartre hier der Frage nach der Existenz nachgeht, die intellektuelle Schärfe, die das hat – ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Roman jemanden unberührt läßt.
Die stärkste Passage des Romans findet sich in meinen Augen übrigens ab Seite 200 – sie ist zu lang, um sie hier zu zitieren und außerdem möge diese Aussage Ansporn sein, mindestens bis dahin zu lesen. 😉

Zum Abschluß natürlich noch der gewohnte Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

*zitiert nach: Sartre, Jean-Paul: Der Ekel. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek. 53. Aufl. 2009

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