“Das Kind erfasst und begreift nur, was es sieht.”

Mir fällt es sehr schwer, Kinderbücher einzuschätzen.
Die meisten überzeugen mich einfach nicht. Da aber gleichzeitig nicht davon auszugehen ist, daß gefühlte 99% aller Kinderbücher schlicht nicht zu gebrauchen sind, halte ich es für wahrscheinlicher, daß mir da einfach der Zugang fehlt. Daher verlasse ich mich stets auf das Urteil kompetenter KollegInnen und die Bibliothek der Kinder wird liebevoll von ihrer Mutter betreut.
Gleichzeitig versuche ich meinen Kindern zu vermitteln, daß Bücher keine sakralen Gegenstände sind, die nur sonntags mit weißen Handschuhen zu berühren sind, sondern durchaus benutzt werden dürfen (zu den Ausnahmen kommen wir dann später, bis dahin werde ich zum Beispiel diesen Messestand wohl weiterhin allein besuchen ;)).
Nun, beim Aufräumen heute fiel mir nun eine Diogenes-Ausgabe des Struwwelpeter in die Hand, in der auch ein Nachwort des Autors, das dieser im Jahr 1876 anläßlich der 100. Auflage verfaßte, abgedruckt wurde.
Gegen den Struwwelpeter ist sicherlich einiges vorzubringen und das ist ja bereits umfänglich geschehen. Den Anspruch aber, den Heinrich Hoffmann im Nachwort formuliert, halte ich für weiterhin gültig.
Schauen wir doch mal rein:

Trotzdem hat man den Struwwelpeter aber auch großer Sünden beschuldigt, denselben gar als zu märchenhaft, die Bilder als fratzenhaft oft herb genug getadelt. Da hieß es: “Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.” Nun gut, so erziehe man die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Kabinetten mit antiken Gipsabrücken! Aber man muss dann auch verhüten, dass das Kind sich selbst nicht kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichne und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon zeigt. – Das Buch soll ja märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen! Das Kind ist aber nur das Volk, und schwerlich werden diese Erzieher die Geschichte vom Rotkäppchen, das der Wolf verschluckte, vom Schneewittchen, das die böse Stiefmutter vergiftete, aus dem Volksbewusstsein und aus der Kinderstube vertilgen.
Mit der absoluten Wahrheit, mit algebraischen oder geometrischen Sätzen rührt man aber keine Kinderseele, sondern lässt sie elend verkümmern. – Und wie viele Wunder umgeben denn nicht auch den Erwachsenen, selbst den nüchternsten Naturforscher! Dem Kinde ist ja alles noch wunderbar, was es schaut und hört, und im Verhältnis zum immer noch Unerklärten ist überhaupt die Masse des Erkannten doch auch nicht so gewaltig. Der Verstand wird sich sein Recht schon verschaffen, und der Mensch ist glücklich, der sich einen Teil des Kindersinnes aus seinen ersten Dämmerungsjahren in das Leben hinüber zu retten verstand.

Dies sei auch all jenen ins Stammbuch geschrieben, die leichtfertig all die bunten, schrillen, grellen (fratzenhaften? ;)) Comics und Mangas verdammen.
Vielleicht ist es eben gerade die Übertreibung, die Überzeichnung, die besonders eindrücklich wirkt und eben gerade deshalb die größten Lerneffekte erzielt. Die Werbung hat das schon lange verstanden und gute Infographiken erfüllen Hoffmanns im Titel zitierte Forderung nach Anschaulichkeit par excellence.
Irgendwie bin ich gerade sehr gespannt, was meine Tochter aus ihren ersten Schulstunden zu berichten weiß.

Zu einem ganz ähnlichen Schluß kam übrigens der Hausheilige in seinen Betrachtungen zum Wesen der Satire, womit ich diesen Beitrag denn auch schließen möchte:

Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

aus: Was darf die Satire? in: Werke und Briefe: 1919, S. 84. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1194 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 43)

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Das Buch zum Sonntag (50)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Terry Pratchett: Der fünfte Elefant

Zugegeben, ein Geheimtipp ist Sir Terry Pratchett nun gerade nicht. Aber es soll ja Menschen geben, die um alles, was auch nur annähernd nach “Fantasy” aussieht, einen großen Bogen machen. Keineswegs immer zu Unrecht, in diesem Falle allerdings schon.
Genretypisch hat Pratchett eine eigene Welt entworfen, im vorliegenden Falle handelt es sich um die Scheibenwelt, die so heißt, weil es sich bei ihr um eine Scheibe handelt,m die von vier Elefanten getragen wird, welche auf dem Rücken einer Schildkröte stehen – was weit weniger seltsam wirkt, wenn man sich beispielsweise mit indischen Mythen beschäftigt.
Was ich aber an Pratchett mag, sind seine Figuren, die durchaus mit Tiefe überzeugen, seine Dialoge und sein geistreicher Stil. Das ist beste britische Literaturtradition, für die ich ja bekanntermaßen eine Schwäche habe. Noch viel stärker als bei historischen Romanen, besteht in der phantastischen Literatur die Möglichkeit, die hiesige, zeitgenössische Welt genauestens unter die Lupe zu nehmen.
Und genau das macht Pratchett exzellent. Ich lese seine Romane geradezu als satirische Rundumschläge, bei denen niemand ungeschoren bleibt. Da werden menschliche Schwächen ebenso aufs Korn genommen wie die Merkwürdigkeiten der ach so hoch entwickelten menschlichen Zivilisation.
Zum Auftakt mal eine Szene, die Oscar-Wilde-Lesern vertraut sein könnte:

In einem nicht weit entfernten Schloss blätterte Lady Margolotta stumm in einer Ausgabe von Twurps Adelsverzeichnis.
Es war kein besonders gutes Nachschlagewerk für die Länder auf dieser Seite der Spitzhornberg, wo das Standardwerk Der große Almanach hieß – darin nahm Lady Margolotta vier Seiten ein.* Aber es leistete wertvolle Dienste, wenn man wissen wollte, wer in Ankh-Morpok eine Rolle spielte.
Inzwischen steckten Dutzende von Lesezeichen in dem dicken Buch.[…]
Wen würde Vetinari schicken?
Lady Margolotta erhoffte sich wichtige Hinweise von seiner Wahl. Entsandte er vielleicht jemanden wie Lord Rust? Oder Lord Selachii? Dann würde sie weit weniger von ihm halten. Nach dem, was sie gehört hatte – und Lady Margolotaa hörte viel -, konnte das diplomatische Korps von Ankh-Morpok den eigenen Hintern nicht einmal mit einer Karte finden. Natürlich war es sehr nützlich für einen Diplomaten, dumm zu wirken, bis er einem die Socken klaute, aber Lady Margolotta hatte einige Botschafter von Ankh-Morpok kennen gelernt, und ihrer Meinung nach konnte niemand so gut schauspielern.[…]
Sie zögerte und zog dann den Klingelzug über dem Sarg. Igor erschien erneut, auf typische Igor-Art.
“Die tüchtigen, jungen Männer beim Nachrichtenturm sind noch wach, nicht wahr?”
“Ja, gnä´ Frau.”
“Lass unserem Agenten eine Mitteilung zukommen. Er soll alles über Kommandeur Mumm von der Wache herausfinden.”
“Ift er der Diplomat, gnä´ Frau?”
Lady Margolotta legte sich hin. “Nein, Igor. Er ist der Grund für Diplomaten. Bitte schließ den Deckel.”

* Bei Vampiren wachsen die Namen immer mehr in die Länge. Es hilft ihnen, sich während der langen Jahre die Zeit zu vertreiben.

(S. 37f.)*

Wir sehen, eine sympathische, distinguierte Dame aus altem Adel, nicht ohne Einfluß, der ein Polizist in diplomatischer Mission geschickt wird. Die Szenen mit beiden sind wahre Höhepunkte. Es gibt einige liebenswerte Figuren in Pratchetts Universum, der immer wieder in eigenartige Situationen geratende Sam Mumm gehört sicher dazu. Mein erklärter Favorit aber, und ich vermute stark, damit nicht allein zu sein, ist Tod. Eigentlich ist es ein ziemlich billiger Trick, Abstracta zu personifizieren, aber wie Pratchett den Tod gestaltet, das ist einfach zu köstlich.

GUTEN MORGEN.
Mumm blinzelte. Eine große, in einen dunklen Umhang gehüllte Gestalt saß plötzlich im Boot.
“Bist du der Tod?”
ES LIEGT AN DER SENSE, NICHT WAHR? DEN LEUTEN FÄLLT IMMER DIE SENSE AUF.
“Sterbe ich?”
VIELLEICHT.
Vielleicht? Du erscheinst, wenn jemand vielleicht stirbt?”
JA. DAS IST JETZT GANZ NEU. WEGEN DES UNSICHERHEITSPRINZIPS.
“Was ist das denn?”
ICH BIN NICHT SICHER.
“Ein sehr nützlicher Hinweis.”
ICH GLAUBE, ES BEDEUTET, DASS JEMAND VIELLEICHT ODER VIELLEICHT AUCH NICHT STIRBT. NATÜRLICH BRINGT ES MEINEN TERMINKALENDER VÖLLIG DURCHEINANDER, ABER ICH VERSUCHE, MODERN ZU SEIN.

(S. 303)

Tod hat es wirklich nicht leicht. Nie. In einem anderen Roman nimmt er Urlaub und läßt sich von seinem Azubi vertreten – ihr macht euch keine Vorstellungen…

Wahrscheinlich bringt die Lektüre Pratchetts uns der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält auch nicht näher. Aber ich bin sicher, es hilft, einige Dinge klarer zu sehen:

Hier sind die Dinge anders, Herr. Erst vor 10 Jahren wurden Gottesurteile durch Gerichtsverfahren abgelöst, und nur deshalb, weil man herausfand, dass Anwälte viel scheußlicher sein können.

**

Wie wichtig der Wort- und Sprachwitz Pratchetts ist, läßt sich übrigens sehr gut an den Verfilmungen erkennen, in denen all die vielen Seitenhiebe und Nebenbemerkungen (Pratchett setzt stark auf Fußnoten, nicht ganz so exzessiv wie Moers oder gar Stauffer, aber doch in erheblichem Ausmaß) schlicht verloren gingen.

Zum Abschluß noch der gewohnte Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

*zitiert nach: Pratchett, Terry: Der fünfte Elefant. Goldmann TB München 2002
** ich habe die Stelle nicht wiedergefunden. Aber sie ist drin. Sachdienliche Hinweise nehme ich gerne entgegen.

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Das Buch zum Sonntag (49)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Benjamin Stein: Die Leinwand

Was macht eigentlich unsere Identität aus?
Wie definieren wir uns selbst, wenn nicht über das, was wir erlebt haben, was wir erinnern?
Und was passiert eigentlich, wenn wir nicht mehr wissen, welche unserer Erinnerungen überhaupt wahr sind?
Können Erinnerungen überhaupt “wahr” oder “gelogen” sein?

Es sind nicht gerade die kleinen Fragen des Lebens, denen Benjamin Stein in seinem Roman nachgeht. Dem Diffusen und Mäandernden seines Gegenstandes entsprechend handelt es sich denn auch um keine linear erzählte Geschichte, was meinen Job hier freilich nicht einfacher macht.
Es fällt mir überhaupt schwer, irgendetwas über den Inhalt zu verraten, weil es sich bei Steins Roman um ein Buch handelt, das es zu entdecken gilt. Ich bin davon überzeugt, daß jeder Leser hier ein zum Teil völlig anderes Buch zu lesen vermag, je nachdem, von welcher Seite aus er es beginnt. Und das gilt in diesem Falle sogar wörtlich, gibt es doch tatsächlich zwei Anfänge, einmal aus der Perspektive des Protagonisten Jan Wechsler und einmal aus der von Amnon Zichroni. Schon allein die unterschiedliche Wahl zwischen diesen beiden Protagonisten wird unweigerlich dazu führen, unterschiedliche Bücher zu lesen. Es sei denn, es gibt in der geneigten Leserschaft Menschen, die in der Lage sind, Teile ihrer Erinnerung komplett auszuschalten, so daß sie bei der Lektüre Zichronis ausblenden können, was sie bei Wechsler lasen – et vice versa. Diskussionen über dieses Buch stelle ich mir höchst fruchtbringend vor.

Mich beeindruckte die Tiefe und Genauigkeit, mit der Stein das Seelenleben seiner Protagonisten ausleuchtet, wie er sie an allem zweifeln läßt, an der Welt, ihren Werten, vor allem aber: sich selbst.

Ich greife mal ein paar Stellen heraus, die mir, aus ganz verschiedenen Gründen, besonders eindrücklich erschienen, in der Hoffnung, damit die geneigte Leserschaft zur Lektüre zu bewegen. Denn zum Inhalt kann und will ich wirklich nichts verraten.

Dieses Versunkensein im eigenen Ich war so stark, dass es lang brauchte, bis mir überhaupt klar wurde, dass ich sie ausschloss. Mein Gefühl sagte mir, dass ich sie in Liebe und Aufmerksamkeit badete. Jeder zweite Gedanke falt ihr. Sie machte mich glücklich wie noch niemand zuvor. Und ich konnte gar nicht begreifen, dass sie dies nicht wahrnahm, sondern im Gegenteil glaubte, ich interessiere mich für alles Mögliche, nur nicht für sie.
[…]
Mitunter kam es vor, dass ich sie mit einer Bemerkung überraschte, die ich für ganz belanglos hielt, weil keineswegs neu. Wie selbstverständlich bin ich jeweils davon ausgegangen, dass sie doch wissen muss, was ich denke und fühle, nicht zuletzt, weil ich mir sicher war, es schon dutzende Male ausgesprochen zu haben. Und dann erfuhr ich von ihr, dass ihr völlig neu sei, was ich erzählte, und ich mir nur eingebildet hatte, ihr alles mitgeteilt zu haben.

(S. W74f.)

Ich weiß noch, dass ich an diesem Tag die Buchhandlungen im Zentrum abklapperte in der Hoffnung, einen Hilbig-Band zu finden. Jeder Buchhändler bot an, das Buch zu bestellen. Aber ich wollte es jetzt, sofort, ohne noch länger zu warten. Überhaupt fand ich es unfassbar, dass in einem Land, in dem man Hilbig lesen durfte, seine Bücher nicht in allen Buchhandlungen auslagen. Vielleicht sagte ich das sogar. Der Verkäufer in der Autorenbuchhandlung am Savigny-Platz zeigte mir jedenfalls einen Vogel.

(S. W.112f.)

Die Maschine Mensch musste funktionieren. War sie gestört, wurde grobes Werkzeug bemüht, damit sie wenigstens keinen Schaden anrichten konnte oder, besser noch, sich als Hilfsmaschine mit eingeschränkter Leistung wieder in die gesellschaftlichen Prozesse integrierern ließ. Menschen, die in anderen Kulturen als Heilige mit dem Zweiten Gesicht verehrt worden wären, wurden in den Kliniken weggesperrt und schemisch ruhiggestellt, damit sie nur ja nicht auffielen.
Dieses Menschenbild war mir fremd. Wie könnte auch jemand, der wie ich den menschen als in Gottes Ebenbild geschaffen betrachtet, erwägen, einem Patienten chirurgisch ganze Hirnareale zu entfernen und ihn zu einem nahezu willenlosen Geschöpf zu machen?

(S. Z.118)

Und noch eine Stelle, die ich aus mir selbst nicht restlos erklärlichen Gründen sehr rührend finde.

Auch als die Polizei kam, die vom Notarzt gerufen worden war, blieb ich sitzen. Die Beamten berieten sich kurz mit dem Arzt. Mich fragten sie nur, ob ich etwas verändert hätte. Ich hob das Buch, das auf Onkel Nathans Schoß gelegen hatte.
Und wann haben Sie ihn gefunden?
Ich zeigte nach oben, auf das Zifferblatt der Standuhr, die ich angehalten hatte.
Der Beamte, der mich befragt hatte, nickte. Dann verschwanden sie.
Ob ich Hilfe bräuchte, fragte einer der roten Vögel.
Ich schüttelte den Kopf. Der Fahrer des Notarztteams war jüdisch. Sie müssen im Rabbinat anrufen, sagte er. Sie würden die Chevra Kadischa verständigen, die sich um alles kümmere. Er beugte sich zu mir herab und sagte: Mögest du getröstet sein unter den Trauenden um Zion und Yerushalayim.

(S. Z.147f.)

Freilich, die für Zitate notwendige Kürze (ich will ja nicht abschreiben) bringt es mit sich, daß sich die Dichte des Leseerlebnisses nicht einmal annähernd wiedergeben läßt. Daher sicherheitshalber mal noch ein Autoritätsargument zum Schluß: Lest dieses Buch. Lest es von mir aus, wie ihr wollt.* Aber lest es.

Die

lieferbare Ausgabe

möchte ich natürlich nicht unerwähnt lassen.

*Zwei Hauptwege und verschlungene Nebenpfade führen durch diesen Roman. Hinter jedem Umschlag befindet sich ein möglicher Ausgangspunkt für das Geschehen. Es ist Ihnen überlassen, wo Sie zu lesen beginnen. Dies lassen Autor und Verlag bereits auf dem Schutzumschlag wissen. Die Herangehensweise mag weit weniger innovativ sein als das Vertriebsteam dies glauben lassen will – ungewöhnlich und spannend ist es aber nichtsdestotrotz.

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Forever young.

Meine Tochter wird in Kürze eingeschult. Das ist ein großer Schritt, zumindest für ihre Eltern.
Zu den üblichen Initiationsritualen für Eltern gehört in solchem Zusammenhang der Einführungselternabend. Solch ein Elternabend ist eine wichtige Sache und ich bin mir sicher, es wird auf Jahre hinaus der bestbesuchte Elternabend sein, an dem ich teilnehme. Dementsprechend gut gefüllt war denn auch der Versammlungsraum, in dem sich die aus Kindergarten-, Spielplatz- oder sonstigen Zusammenhängen bereits vertrauten Eltern nach peer-groups sortiert platzierten.
Faszinierend war aber, was danach geschah. Wahrscheinlich gibt es in den Wänden und Möbeln der Schule energetische Strömungen geben, vielleicht schwirren auch noch die Geister einstiger mit redundanten Schreibübungen und Moralpredigten anläßlich ungespitzter Bleistifte gequälter Schüler dort herum, möglicherweise gibt es auch einfach eine Wasserader, auf jeden Fall verwandelten sich die noch vor der Eingangstür prinzipiell als “erwachsen” zu bezeichnenenden Gäste nach Betreten des Schulgebäudes unmittelbar in aufgekratzte Grundschüler.
Es spielten sich dramatische Szenen am Tisch der ausliegenden Klassenlisten (doch, natürlich ist es wichtig, ob das Kind in die 1a, b, c oder d kommt, insbesondere, wenn man die Lehrer noch überhaupt nicht kennt und die Liste sich nicht verändert, wenn man 5 Minuten später darauf schaut, aber Menschen sind ja immer sehr aktiv, wenn es um Dinge geht, die gar nicht mehr zu ändern sind) und der Raum, in dem die bahnbrechenden Informationen zum Schulbeginn mitgeteilt werden sollten, war von jenem typischen Geräuschgemisch angefüllt, wie es nur durch präpubertäres Gekicher und Getuschel entsteht.
Ich weiß nicht, ob Lehrer einfach nicht anders können oder ob unser Verhalten keine andere Reaktion ermöglichte, jedenfalls verging der Abend in einer wunderbaren Show typischen (Grundschul-)lehrerverhaltens mit allem, was das Herz begehrt: Das vereinnahmende “wir” fehlte ebenso wenig wie die erhobene Stimme oder, mein Liebling, die Sprechpause samt ernerviertem Blick in die Klasse, ähm, Runde.
Andererseits: Warum eine erfolgreiche Strategie wechseln? Und in der Tat, der bunte Haufen, der bereits nach 20 Minuten schon kaum noch aufnahmefähig war, ließ sich mit den bewährten Techniken auch einigermaßen kontrollieren, was freilich nicht vor Fragen bewahrte, die ganz offensichtlich machten, daß das Publikum weder willens noch fähig war, den Ausführungen zu folgen. Ich möchte die geneigte Leserschaft nicht mit Deails belasten, aber es wurde tatsächlich ausschließlich nach Dingen gefragt, die gerade eben erst erklärt wurden. Es dürfte also kaum verwundern, daß die Lehrerende mit meiner Anmerkung, das freundliche Angebot der Schule bei der örtlichen Buchhandlung bestellen lassen unter Hinweis auf meine Berufstätigkeit im verbreitenden Buchhandlung, abzulehnen und daher eine Mitnahme des Bücherzettels zur Verwendung der dort verzeichneten bibliographischen Angaben für eine eigene Bestellung zu erbeten, intellektuell zunächst überfordert war. Als sie kurze Zeit später verstand, was ich meinte, unter Hinweis auf die hohen Temperaturen um Verzeihung bat und sich erbot, nach Ende der Veranstaltung eine Photokopie anzufertigen, hatte ich die ISBN und Kurztitel bereits weitgehend in mein Notizbuch übertragen.
Ich fand es höchst bemerkenswert, daß die anwesenden Eltern nicht in der Lage waren, 45 Minuten einfach mal zuzuhören. Offenbar reicht dafür die Aufnahmefähigkeit nicht, was jedenfalls an Nebengesprächen zu beobachten war, machte schlagartig klar, warum es Handyverbote und erzwungene Sitzordnungen gibt.Mit anderen Worten: Wahrscheinlich werden wir zu den ganz wenigen Deppen gehören, die sich an die dringende Bitte, wegen des beschränkten Platzes mit nicht mehr als 4 Personen zur offiziellen Schuleingangsfeier aufzutauchen, halten werden.
Die einzige Frage, die ich noch nicht geklärt habe, ist, ob ich es schlimmer finden soll, wie ein Grundschüler behandelt worden zu sein oder die Tatsache, daß diese Methoden funktionierten (insbesondere dieser Trick mit der Sprechpause – es war sofort Ruhe und die Köpfe senkten schuldbewußt Richtung Tischplatte, also, bis zum nächsten Mal natürlich).

Den Hausheiligen habe ich in letzter Zeit sträflich wenig zu Wort kommen lassen. Dafür soll er heute einmal ausführlich zu Wort kommen. Inspiriert zu dieser Auswahl hat mich der, nennen wir es freundlich, tendenziöse Vortrag der stellvertretenden Schulleiterin zur Frage, ob Ethik oder Religion gewählt wird, der im Wesentlichen darin bestand, die Vorzüge des Ethikunterrichts, dessen Lehrinhalte und all die unüberwindlichen organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Wahl eines Religionsfaches verbunden wären, aufzuzählen – freilich nicht ohne ihre eigene Abneigung gegen jeglichen Glauben zum Ausdruck zu bringen (was ich für höchst problematisch halte, denn gerade in der Ethik geht es weit weniger darum, ob die diversen großen Erzählungen in einem wissenschaftlichen Sinne stimmen, sondern doch wohl eher darum, was sie für das Handeln und Zusammenleben bedeuten). Jedenfalls erinnerte mich die von unverhohlener Verachtung geprägten Äußerungen daran, einmal zu überlegen, inwieweit eigentlich der behauptete gesellschaftliche Wandel der letzten 20 Jahre tatsächlich in der Schule angekommen ist (die geneigte Leserschaft weiß schon: Respekt anderen Weltanschauungen gegenüber und so). Ganz ähnliche Fragen stellte sich auch der Hausheilige.

Die Schule

Wer die Schule hat, hat das Land.
Aber wer hat die bei uns in der Hand!

Du hörst schon von weitem die Schüler
schnarchen.
Da sitzen noch immer die alten Scholarchen,
die alten Pauker mit blinden Brillen,
sie bändigen und töten den Schülerwillen.
Und lesen noch immer die alte Fibel
und lehren noch immer den alten Stiebel:

Wie in den alten Zeiten die wichtigen Schlachten
die großen Völkerentscheidungen brachten,
wie die Fürsten und die Söldnerlanzen
den großen blutigen Contre tanzen,
und ohne die heilige Monarchie
sei die Hölle auf Erden – und schließlich, wie
die Völker nur eigentlich Statisten seien.
Man müßte ihnen die Dumpfheit verzeihen.
Könnten eben nichts weiter dafür . . .

Und sie lernen vom Kupfercyanür.
Und von den braven Kohlehydraten.
Und von den beiden Koordinaten.
Und von der Verbindung mit dem Chrome.

Lernen auch allerhand fremde Idiome.
Ut regiert den Konjunktiv.
Polichinelle ist ein Diminutiv.
Und was so dergleichen an Stoff und an Wissen.

Himmelherrgott! ist die Schule beschmissen!
Seelenmord und Seelenraub!
Unter die Kruste von grauem Staub
drang auch kein Luftzug der neuen Zeit.
Der alte Schulrat im alten Kleid.
Wundert euch nicht! Was kommt aus dem Haus
schließlich nach Oberprima heraus?

Ein nationalistischer langer Lümmel.
Gut genug für den Ämterschimmel.
Gut genug für die alten Karrieren –
als ob die heute noch notwendig wären!

Türen auf und Fenster auf!
Lege deine Hand darauf,
lieber Herr Haenisch, und zeige den Jungen,
wie die alten Griechen sungen –
aber ohne die Philologie
und ohne die Kriegervereinsmelodie!

Wer die Jugend hat, hat das Land.
Unsre Kinder wachsen uns aus der Hand.
Und eh wir uns recht umgesehn,
im Handumdrehn,
sind durch die Schulen im Süden und Norden
aus ihnen rechte Spießbürger geworden.

aus: Werke und Briefe: 1919, S. 288-290. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1398-1400 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 131-132) (c) Rowohlt Verlag

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Hasen sind nicht süß.

Menschen sind seltsam.
In Vechta findet heute ein Prozeß statt, der, zumindest auf den ersten Blick, äußerst skurill wirkt. Eine Lehrerin klagt gegen eine 14jährige Schülerin mit dem Ziel, ihr zu verbieten, Hasen an die Tafel zu malen.
Offenbar leidet die Pädagogin unter einer Hasenphobie. Nicht nur vor real existierenden Hasen, sondern auch vor deren Abbildern oder sogar dem Wort “Hase”. Nach Berichten von Schülern bekommt sie schon bei der Erwähnung des Möhrenfans einen Tobsuchtsanfall oder verläßt fluchtartig den Raum.
Neben der Frage, was die gute Frau eigentlich Ostern macht, bewegen mich da einige andere Dinge. Zum einen wäre mal zu klären, ob da nicht eine Therapie hilfreich wäre, sollte es sich tatsächlich um eine Phobie handeln. Im oben verlinkten Spiegel-Online-Artikel klingt ja bereits an, daß es nicht nur in Hasensituationen schwierig zu sein scheint, mit der guten Frau klar zu kommen.

Der andere Punkt, der mir wirklich nicht in den Kopf will, ist die Klage. Was soll das? Was will sie damit erreichen? Und überhaupt, was ist denn das für eine Art, Konflikte zu lösen?
Zum einen macht die Klage in der Sache überhaupt keinen Sinn. Den Prozeß in Vechta nehmen sämtliche Medien wahr. Von der Aufmerksamkeit vor Ort gar nicht erst zu reden. Mit der Klage wird also eine breite Öffentlichkeit davon informiert, wie die Lehrerin auf Hasen reagiert. Verbieten will sie der Schülerin aber, über genau diese Reaktion zu berichten. Das wird ihr nicht schwer fallen, wenn es ja nun eh jeder weiß.
Mich erinnert das an den seltsamen Prozeß des Herrn Singer, der meinte, gegen eine von Schülern gestaltete Ausstellung in Reichenbach vorzugehen, wo sein Name als der Klarname des IM “Schubert” genannt wird. Der Prozeß hatte nur einen einzigen Effekt: Nun weiß es wirklich jeder. Was vermutlich nicht passiert wäre, hätte er es bei der Nennung auf einer Tafel irgendwo innerhalb einer Ausstellung im Rathaus belassen. Dieses absurde Verhalten will mir nicht in den Kopf.
Für die Lehrerin hat dieser Prozeß nun die Folge, daß es geradezu egal ist, wo und wen sie in Zukunft unterrichten wird: Ihr Ruf eilt ihr voraus. Kontraproduktiver konnte sie gar nicht handeln.

Unabhängig von diesem Unsinn des Prozesses an sich stellt diese Klage eine umfangreiche pädagogische Bankrotterklärung dar. Selbst wenn sie unter einer solchen Phobie leidet, was noch zu klären wäre, die Psyche geht manchmal seltsame Wege und ich möchte nicht ausschließen, daß hinter ihrem Verhalten etwas ganz anderes steckt, sollte ihr jahrelanges Pädagogik-Studium ihr Methoden an die Hand gegeben haben, mit entsprechendem Schülerverhalten innerhalb der Schule umzugehen oder ihr aber zumindest ermöglichen, durch die unabdingbare Reflexion des eigenen Handelns (diese Reflexion ist Bestandteil des professionellen Verhaltens eines Lehrers, das lernt man schon im Grundstudium) zu erkennen, daß sie in ihrer momentanen Verfassung nicht in der Lage ist, ihren Beruf auszuüben.

Ich möchte damit nicht in Abrede stellen, daß es sehr schwer, geradezu unerträglich sein kann, wenn Schülerinnen und Schüler sich einen Spaß daraus machen, bekannte Schwächen des Lehrenden ausnutzen, um ihn oder sie bloßzustellen. Das ist es. Und solches Verhalten ist auch nicht einfach hinzunehmen.
Aber die eigenen Schüler zu verklagen, weil sie “Hase” sagen, ist eine reine Selbstdisqualifikation.

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Berühmt, reich und sexy.

Als gescheiterter Historiker sind mir Jahrestage nicht völlig egal. Vor genau einem Jahr erschien hier die erste Buchempfehlung. Und fast genau ein Jahr nach dem ersten Blogeintrag war in der gedruckten Ausgabe des “Freitag” als Infokasten zu diesem lesenswerten Artikel des von mir bekanntermaßen hochgeschätzten Frank Fischer folgendes zu lesen:

Ich bin nun also berühmt. Wäre das schon mal erledigt.
Damit dürfte Punkt zwei wohl nur noch Formsache sein, denn wir werden ja dank Flattr nun endlich alle reich im Internet. Für all jene in der geneigten Leserschaft, und wenn ich mir die bedrohliche Anzahl an Nullen auf meinen Flattr-Icons anschaue, sind das wohl eine Menge, eine kurze Erklärung, wie diese grün-orangene Geldverteilmaschine funktioniert. Und zwar zum einen per Video von flattr selbst und zum anderen als Text bei Stefan Niggemeier.
Ich habe nicht nicht zuletzt zur Teilnahme bei Flattr entschlossen, weil hier endlich mal jemand das Heft des Handelns ergriffen hat und einen Ausweg aus dem permanenten Gejammer über “Kostenlos-Mentalität” und Leistungsschutzrechten und überhaupt dieser schwer erträglichen Scheindebatte anbietet. Auch wenn ich denke, daß im Moment außer flattr selbst noch kaum jemand nennenswerte Summen erzielt, könnte das ein Modell sein, das funktioniert. Zumindest ist es eine simple Möglichkeit, denjenigen, die zahlen wollen, auch eine Chance zu bieten, dies zu tun. Und zwar ganz ohne restriktive (und umgehbare) Zahlschranken und aufwendige Registrierungsprozeduren.
Kurz: Es könnte funktionieren, weil es eine Idee ist, die dem Medium “Internet” und seiner Nutzungsstruktur adäquat ist. Eine Hürde, an der viele andere Ideen bisher scheiterten.
Dank meiner brillanten Texte und dem sprühenden Esprit, der hier immer wieder zu bewundern ist, mache ich mir um meine finanzielle Situation also keine Sorgen mehr. 😉

Da desweiteren Erfolg bekanntlich sexy macht, sehe ich nunmehr einer strahlenden Zukunft entgegen.
Danke.

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Das Buch zum Sonntag (48)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Luther Blissett: Q

Zum Autorenkollektiv, das hinter diesem Roman steckt, ließe sich einiges sagen. Ich möchte es einmal bei der Bemerkung des Hausheiligen belassen, der meinte seinerzeit:

Jeder historische Roman vermittelt ein ausgezeichnetes Bild von der Epoche des Verfassers.*

“Q” spielt im Europa der Reformationszeit, der Protagonist ist dabei, einsetzend dem thüringischen Bauernkrieg unter Führung Thomas Müntzers, an den wesentlichen Unruhen und Umwälzungen dieser Umbruchsepoche beteiligt. Gerade Deutschland kommt in dieser Zeit eine Schlüsselstellung zu, hatten sich doch gerade hier Bewegungen gebildet, die den Freiheitsgedanken, der in Luthers radikaler Neupositionierung des Verhältnisses zwischen den Glaubenden und ihrem Gott steckt, eben nicht nur auf die religiöse Sphäre beschränkt sahen.
Zusammen mit den Verwerfungen, die der Frühkapitalismus in die geordnete Ständegesellschaft brachte und die nun massiv spürbar wurden, ergab dies eine explosive Mischung. Eine ideale Zeitspanne also, um einen ambitionierten Roman dort anzusiedeln.
Daß ein historischer Roman ambitioniert sein könnte, fällt in einer Welt, in der die allgemeine Assoziation mit dieser Kategorie eher Ken Follett** als Heinrich Mann produziert, schwer zu glauben. Aber hier haben wir einen solchen Fall. Die Handlung ist keineswegs geradlinig erzählt, immer wieder gibt es Rückblenden, die zu vergangenen Ereignissen zurückführt und immer wieder tauchen die Berichte und Briefe von “Q” auf, einem unermüdlichen Spion und agent provocateur der Kurie.
Doch hören wir mal in den Roman hinein:

Beinahe blindlings.
Tun, was ich tun muß.
Schreie in den Ohren, in denen noch der Donner der Kanonen dröhnt. Geronnenes Blut und Schweiß verschließen mir die Kehle, ein Hustenanfall zerreißt mich.
Die Blicke der Fliehenden: Entsetzen. Verbundene Köpfe, zerquetschte Glieder… Immer wieder sehe ich mich um: Elias ist hinter mir. Er bahnt sich einen Weg durch die riesige Menge. Trägt den reglosen Magister Thomas auf den Schultern.
Wo ist der allgegenwärtige Gott? Seine Herde wird hingemetzelt.
Tun, was ich tun muß. Die Briefsäcke festgezurrt. Nicht stehenbleiben. Das Schwert schlägt mir an die Seite.
Elias immer hinter mir.
Eine wirre Gestalt kommt auf mich zugerannt. Das Gesicht halb unter Verbänden, offenes Fleisch. Eine Frau. Sie erkennt uns. Tun, was ich tun muß: Der Magister darf nicht entdeckt werden. Ich packe sie: nicht sprechen. Schreie hinter meinem Rücken: “Landsknechte! Landsknechte!”
Ich stoße sie fort; weg, sich in Sicherheit bringen. Eine Gasse zur Rechten. Im Laufschritt, Elias hinter mir, Hals über Kopf. Tun, was ich tun muß: Haustüren. Die erste, die zweite, die dritte, sie geht auf. Drinnen.

(S. 20)***

Es steht zu vermuten, daß die kooperative Arbeitsweise sich nicht in der ungewöhnlichen Erzählstruktur niederschlug, sondern auch hilfreich war, die unterschiedlichen Handlungsstränge auch sprachlich abzubilden. Für mich zählt es jedenfalls zu den Stärken des Buches, stets geradezu eintauchen zu können in die Situationen, Orte und Begebenheiten, weil Rhythmus und Wortwahl einfach immer passen. Wie bei der eben zitierten Stelle, in der die gehetzte Stimmung einer überstürzten Flucht, das hektische Suchen nach einem geeigneten Versteck geradezu spürbar wird. Ganz anders die Ankunft in Venedig:

Kaum habe ich einen Fuß an Land gesetzt, überwältigt mich das lebhafte Treiben: Die Menschen laufen in alle Richtungen durcheinander, schreien herum, drängeln, rufen sich Grüße zu und streiten sich lautstark; vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, das Meer, den Ort gedämpfter Geräusche, vom Rest der Stadt zu trennen.
Kaum habe ich also einen Fuß an Land gesetzt, werde ich, aufgrund welcher Merkmale auch immer, sofort als deutschsprachiger Fremder erkannt und von zwei Dutzend Jungen umringt, die sich mühen, mir zu erklären, wie unmöglich es sei, sich in Venedig zu bewegen, ohne die Stadt gründlich zu kennen, wie groß die Gefahr, sich zu verlaufen, Gaunern in die Hände zu fallen, beim Wechseln übervorteilt zu werden; und während sie diese Gefahren anschaulich schildern, versuchen sie auf jedenur erdenkliche Weise, mit ihren Händen in meine Taschen zu gelangen.

(S. 535)

Womit ich noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückkommen möchte. Es ist natürlich kein Zufall, daß Luther Blissett, bzw. Wu ming, wie die Gruppe heute heißt, eine Phase der europäischen Geschichte wählte, in der sich eine alte Ordnung in Auflösung befand und die Gesellschaft auf der Suche nach Lösungen war. Meine Empfehlung ist jedoch, sich im Vorfeld nicht mit den Autoren zu beschäftigen. Vergleiche ich meine Leseerfahrungen mit denen der Rezensenten des (Vorsicht, Spoiler)Feuilletons, so komme ich zu dem Schluß, daß man sich einiges an Leservergnügen verwehrt. Denn es macht doch sehr viel mehr Fruede, eigene Bezüge zur Gegenwart herzustellen, als sie vorgekaut zu bekommen. Wer es trotzdem nicht genauer wissen möchte oder für den Klick nach der eigenen Lektüre, bitte schön.
Zu guter Letzt sei noch erwähnt, daß meine Sympathie für dieses Buch wohl nicht zuletzt auch von meiner eigenen per Sozialisation erworbenen, durchaus romantisch-verklärten, Sympathie revolutionären Bewegungen gegenüber herrührt (ich überlasse die tiefenpsychologische Deutung da aber lieber anderen). Auch wenn ich im Laufe der Jahre durchaus die Fähigkeit erworben habe, in Müntzer nicht einfach den strahlenden Helden der frühbürgerlichen Revolution zu sehen und mein Lutherbild nicht mehr ausschließlich das “geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg” vor Augen hat, so schlägt mein Herz doch immer noch eher für den Magister Thomas denn für Junker Jörg. Warum, nun, auch das läßt sich ganz wunderbar im Roman erfahren, denn obwohl das Zitat des Hausheiligen ohne weiteres zutrifft: Es läßt sich durchaus auch einiges über die Epoche der Protagonisten erfahren.

“Nun, meine Herren, heute, müßt ihr wissen, hat ein alter Feind sich endlich entschlossen, das Zeitliche zu segnen. Ich bin versucht, auf dieses erfreuliche Ereignis zu trinken.”
Die drei wechselten rätselhafte Blicke, als könnten sie sich im Geiste verständigen, doch es ist immer der eine, der für alle spricht. “So sagt uns doch bitte, wer es war, der sich Euren Haß zugezogen hatte.”
“Nur ein alter Augustinermönch, Deutscher wie ich, der in unserer Jugend mich und Tausende anderer schändlich verraten hat.”

(S. 563)

Ob er mit diesem Haß wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht. Also das Licht der Leselampe.

Zum Abschluß auch heute der gewohnte Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

*aus: “Schnipsel” in: Werke und Briefe: 1932, S. 209. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8925 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 98) (c) Rowohlt Verlag
**womit ich nichts gegen Herrn Follett gesagt haben will. “Die Säulen der Erde” beispielsweise ist ein athmosphärisch gelungener, sauber geschriebener Roman. Exzellente Handwerksarbeit. Man kann aber mit Literatur auch mehr wollen. 😉
***zitiert nach: Luther Blissett: Q. Piper. München und Zürich 2002

Armseligkeit als Prinzip.

UPDATE (14.06.2010): Ja, und dann kommt der Johnny Häusler daher und schreibt mal wieder mehrfach besser als meinereiner dazu. Bitte hier entlang.

“Die Samstagabendunterhaltung steckt in einer tiefen Krise.” sagte einst Gerhard Delling in einem völlig anderen Zusammenhang zu einem völlig anderen Thema. Das Zitat paßt also überhaupt nicht zum Thema, aber es kommt immerhin “Krise” darin vor und wenige Stunden vor Beginn DER WM, also der 4 Wochen nationalen Blackouts, die sich wunderbar eignet, unpopuläre politische Entscheidungen durchzubringen, muß man ja auf Fußball Bezug nehmen. Anders gesagt: Die Chancen, unbemerkt ein paar Gesetze auf den Weg zu bringen, ist direkt proportional zum Erfolg der DFB-Mannschaft. Womit das Zitat ja doch irgendwie wieder paßt.
Ich bin also mal gespannt, was die Tage nach der Wahl des Bundespräsidenten (die derzeitige Regierung hangelt sich ja so von Termin zu Termin, das erinnert mich an die Motivationsübungen mit meinen Kindern, die wir auf dem Nachhauseweg stets mit dem Spruch “Na los, bis zur nächsten Laterne schaffst Du noch…” zum Weiterlaufen animierten) zu bieten haben. Vorausgesetzt, der armselige Kandidat, den sie da aufgestellt haben, wird es auch. Die Reaktionen auf den Personal-Coup von RotGrün haben jedenfalls bei dem einen oder anderen wohl Fracksausen ausgelöst, die CSU jedenfalls schickt diesmal nur Menschen in die Bundesversammlung, denen die parteipolitische Bedeutung dieser Wahl mehr als klar sein dürfte und – das ist das hüpfende Komma – dies auch zum Maßstab ihrer Entscheidung machen.
Das Amt des Bundespräsidenten ist ein repräsentatives, nein, noch mehr, ein symbolisches Amt. Er soll in seiner Person das Einende, das Bindende, das Gemeinsame dieser Gesellschaft darstellen. Strukturell gesehen erfüllt er damit genau die Funktion, die in vielen konstitutionellen Monarchien Europas die Monarchen inne haben (nur war 1945 aus naheliegenden Gründen nicht an eine Wiedereinführung der Monarchie zu denken). Die Regeln für die Zusammensetzung der Bundesversammlung haben selbstverständlich immer dazu geführt, daß parteipolitische Erwägungen eine Rolle spielen. Aber wie bereits bei der Wahl Horst Köhlers, so jetzt mit der Kandidatur Christian Wulffs noch verschärft, werden diese aber zum einzig bestimmenden Prinzip. Die massive Unterstützung für Joachim Gauck quer alle denkbare Institutionen wirkt da wie ein letztes Aufbäumen gegen die vollkommene Entfremdung der politischen Entscheider von der Gesellschaft, für deren Wohl sie doch arbeiten sollen.
Mehr als eine hilflose Abwehrbewegung ist dies aber nicht, denn die Messen sind bereits gesungen und Christian Wulff ist exakt das passende Gesicht zum uninspirierten, kleingeistigen Mittelmaß, das da im Politikbetrieb vor sich dümpelt. Genau das passende Symbol für die armselige, kurzsichtige, einzig auf die eigenen internen Befindlichkeiten orientierte Denkweise unserer Politikerkaste.
Und selbst wenn Gauck gewählt werden sollte, was nur zu wünschen wäre, würde er das wohl nur aus genau diesen armseligen Spielchen heraus. Denn besonders hehre Motive äußern die FDP-Fürsten ja nicht gerade.
Abschließend dazu verweise ich auf den hervorragenden Beitrag von Gregor Keuschnig bei Begleitschreiben.

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Gachmuret feat. Der Hausheilige & Kollegen – live

Wem es im März nicht vergönnt war, der Lesung aus Texten des Hausheiligen beizuwohnen oder wem es so gut gefallen hat, daß eine Wiederholung wünschenswert wäre, hat nun die Gelegenheit dazu, mir erneut zu lauschen.
Im Programm des diesjährigen Sachsen-Anhalt-Tages, der in diesem Jahr in Weißenfels stattfindet, gibt es den Programmpunkt “Stille Schätze”, mit dem ein Kontrapunkt zum Volksfesttrubel des übrigen Programms gesetzt werden soll.

Am 21. August zwischen 12 und 13 Uhr werde ich also im Novalis-Pavillon zu erleben sein.

Die Gästeliste ist noch nicht endgültig, zugesagt haben aber neben dem Hausheiligen dieses Blogs bereits Alexander Sergejewitsch Puschkin, Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg und Johann Christoph Friedrich von Schiller. Weitere Gäste sind geladen, haben aber ihre Teilnahme noch nicht bestätigt.

Für alle, die nicht ortskundig sind, hier eine Anfahrtsskizze.

Wir sehen uns dann im August. 😉

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Das Buch zum Sonntag (47)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Sir Winston Churchill: Der Zweite Weltkrieg

Politikermemoiren sind meist schlicht unlesbar. Dies mußte ich schmerzhaft erfahren, nachdem mein erster Versuch sehr geglückt, aber offenbar nicht repräsentativ war.
Da diese Blogrubrik aber die Existenz nicht lesenswerter Bücher ja konsequent ignoriert, soll auch heute davon keine Rede sein. Stattdessen empfehle ich Churchills Erinnerungen zum zweiten Weltkrieg. Es handelt sich dabei um eine von ihm selbst erstellte einbändige Fassung seines 12-bändigen Memoirenwerks, was ein Durchlesen innerhalb eines absehbaren Zeitrahmens ja zumindest vorstellbar macht.
Das Nobelpreiskomitee begründete seine Entscheidung 1953 folgendermaßen:

für seine Meisterschaft in der historischen und biographischen Darstellung sowie für die glänzende Redekunst, mit welcher er als Verteidiger von höchsten menschlichen Werten hervortritt*

Vor allem aber ist Churchill ein Meister der Selbstdarstellung. Nach der Lektüre seines Werkes kann überhaupt kein Zweifel mehr daran bestehen, daß Sir Winston der größte Politiker war, der jemals auf Erden wandelte und das British Empire sein Überleben wesentlich seiner Brillanz zu verdanken hat. Sir Winston bindet das dem Lesenden natürlich nicht plump auf die Nase, auch wenn er mit politischen Gegnern nicht immer zimperlich umgeht. Wunderbar folgende Stelle, die sich mit der Reaktion auf das Münchner Abkommen im britischen Parlament befaßt:

Die Debatte war der herrschenden Erregung und der Probleme, die auf dem Spiele standen, nicht unwürdig. Ich erinnere mich recht wohl, daß bei meinen Worten: “Wir haben eine vollständige, durch nichts gemilderte Niederlage erlitten”, ein Sturm ausbrach, der mich nötigte, eine Weile innezuhalten, bevor ich weitersprechen konnte. Chamberlains beharrliche und unermüdliche Bemühungen zur Wahrung des Friedens und die persönlichen Strapazen, denen er sich dabei ausgesetzt hatte, wurden in weiten Kreisen aufrichtig anerkannt. In der vorliegenden Darstellung kann man aber unmöglich vermeiden, auf die lange Reihe von Fehlurteilen und Fehlrechnungen über Menschen und Tatsachen hinzuweisen, auf die er sich stützte; die Beweggründe jedoch, von denen er sich leiten ließ, haben niemals meine Anfechtung erfahren, und tatsächlich erforderte der Weg, den er beschritt, den höchsten Grad von moralischem Mut. Zwei Jahre später sprach ich in meiner Rede nach seinem Tode meine Anerkennung dafür aus.
Es gab auch eine schwerwiegende und praktische Beweisführung, auf die sich die Regierung – wenn auch nicht zu ihren Gunsten – stützen konnte. Niemand konnte in Abrede stellen, daß wir auf einen Krieg entsetzlich schlecht vorbereitet waren. Wer hatte dringender darauf hingewiesen als meine Freunde und ich? […] Wenn Hitler ehrliche Absichten hatte und ein dauerhafter Friede tatsächlich erreicht worden war, hatte Chamberlain Recht. Wenn er aber unglücklicherweise irregeführt worden war, mußten wir wenigstens eine Atempause gewinnen, um die schlimmsten unserer Unterlassungen gutzumachen. Diese Gedankengänge und die allgemeine Erleichterung und Freude darüber, daß die Schrecken des Krieges sich vorübergehend hatten abwenden lassen, bewirkten die loyale Zustimmung der großen Menge der Regierungsanhänger.

(S. 161)**

Der Chamberlain war schon ein feiner Kerl, hat aber eben den Fehler gemacht, nicht auf Herrn Churchill zu hören (wie auch die Vorgängerregierung nicht, tstststs).
Bekanntermaßen lief aber auch nach Churchills Regierungsübernahme nicht alles glatt. Bei ihm liest sich das dann so:

Dieses Bild bot natürlich ganz allgemein den Eindruck der Niederlage. Ich hatte im ersten Weltkrieg oft dergleichen gesehen, und die Vorstellung einer durchbrochenen Front, selbst auf einem breiten Abschnitt, erweckte in mir nicht den Gedanken an die entsetzlichen Folgen, die sich jetzt daraus ergaben. Da ich seit vielen Jahren keinen Zugang zu den offiziellen Informationen gehabt hatte, erfaßte ich die Gewalt der Umwälzung nicht, die sich seit dem letzten Krieg durch das Auftauchen einer Masse schnellbeweglicher, schwerer Panzerfahrzeuge vollzogen hatte. Ich wußte wohl davon, aber es hatte meine Überlegungen nicht in dem Grade beeinflußt, wie das nötig gewesen wäre. Doch auch dann wäre für mich keine Möglichkei zu handeln gewesen.

(S. 287)

Sprich: Auch wenn er die Lage richtig eingeschätzt hätte, hätte es doch keinen Unterschied gemacht. Die geneigte Leserschaft darf darauf vertrauen, daß Churchill dann, wenn es drauf ankam, selbstverständlich immer richtig entschied.
Glücklicherweise verzichtet Churchill auf eine strikt chronologische Vorgehensweise, immer wieder gibt es Abstecher zu Seitenthemen, Vorgriffe auf spätere Ereignisse, persönliche Einschätzungen zu Personen und Prozessen, kurz: Eine assoziative Erzählweise, wie sie für Erinnerungen ja auch angemessen ist. Den roten Faden freilich gibt die Historie vor. Bei allem Ernst, den die behandelte Zeitepoche mit sich bringt, bleibt er doch ein anregender Erzähler. Und durchaus nicht ohne Witz, wie folgende Stelle illustrieren soll, die sich mit den deutschen Plänen zur Invasion Großbritanniens befaßt:

Je näher das deutsche Oberkommando und der “Führer” das Abenteuer ins Auge faßten, desto weniger gefiel es ihnen. Wir und sie konnten natürlich die Stimmungen und Erwägungen im andern Lager nicht genau kennen; aber von Woche zu Woche, von Mitte Juli bis Mitte September, gelangten das Oberkommando der deutschen Kriegsmarine und die englische Admiralität, das deutsche Oberkommando der Wehrmacht und die englischen Stabschefs und auch Hitler und der Verfasser dieses Buches, ohne es zu wissen, zu immer größerer Übereinstimmung in der BBeurteilung dieses Problems. Hätten wir uns in andern Dingen ebensogut verstanden, so wäre der Krieg überflüssig gewesen.

(S. 397f.)

Wir haben also richtig Glück gehabt, daß es Sir Winston Churchill gab, der in seinem Buch auch einige höchst bemerkenswerte Analysen zu bieten hat. Aber das sind ja eh die Schlimmsten, diese Typen, die sich für großartig halten und nicht mal völlig Unrecht damit haben.

Natürlich fehlt auch diese Woche nicht der Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

*(lt. Wikipedia)
**zitiert nach: Churchill, Sir Winston S.: Der zweite Weltkrieg. Fischer TB Frankfurt/Main. 2003

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