Die Geißel der Menschheit

Mit der Geißel ist das so eine Sache, zumindest metaphorisch. Denn faktisch ist die recht einfach zu identifizieren, handelt es sich doch um eine Peitsche, die für fetzige Effekte mit Widerhaken versehen wurde.
Nicht so leicht zu fassen ist sie dagegen im übertragenen Sinne. Je nach kulturellem Kontext kann die Geißel ganz verschieden auftreten. Mal als alles dahinraffende Krankheit, mal als böse fremde Macht, die alles vernichten möchte.
Sehr beliebt sind natürlich auch menschliche Eigenschaften. Gier, Rachsucht, Neid – oder auch Verblendung.

Verblendung, also das Versinken in einer Weltsicht, die nur noch Absoluta kennt, einer Weltsicht, die kein Abwägen, kein Verständnis, kein Mitleid, keine Gnade mehr kennt. Verblendung in diesem Sinne macht ein Akzeptieren anderer Lebensweisen als der eigenen unmöglich und führt zu einer Isolation, die je nach Grad nur noch Gleichgesinnte oder gar sich selbst duldet.
Nichts aber ist gefährlicher für die geistige Gesundheit als Ignoranz anderen Ideen und Gedankengängen gegenüber. Was passiert, wenn man nur noch im eigenen Saft schmort, zeigte Eva Herman, die sich seit einiger Zeit redlich bemüht, ihre umstrittene Kündigung nachträglich zu rechtfertigen. In ihrem Kommentar auf der Homepage des Kopp-Verlages hat sie nur Stunden nach dem Ereignis bereits glasklar die Schuldigen ausgemacht. Die Hippies natürlich. Die unsere Kinder (“Die Kinder, die Kinder”) zu Drogenkonsum und hemmungslosem Kopulieren verführen und überhaupt die ganzen Sitten und Werte in den Dreck ziehen. Sodom und Gomorrha. Wir werden alle sterben. Süüünder, ihr seid alle Süüüünder. Das ganze Programm (sehr schön übrigens die Fassunglosigkeit des Daniel Schulz in der taz).

Mithin handele es sich nicht einfach um ein Unglück, für das ganz simple menschliche Fehler ursächlich sein könnten, sondern um ein göttliches Strafgericht für Sünder. Wir werden alle sterben.
Nun wäre dies alles keines Wortes wert, Menschen mit merkwürdigen Ansichten gibt es in erheblicher Anzahl und die erregen, sehr zu ihrem eigenen Leidwesen, wenig Aufmerksamkeit. Ich schriebe darüber auch nichts, hätte @formschub Recht.

Leider hat er das nicht. Dafür sind die Verkaufszahlen alleine von Frau Hermans medienverschwörungstheoretischem Werk viel zu hoch. Der Trick, heftige Einwände gegen geäußerte Meinungen als gelenkten Versuch zu deuten, “die Wahrheit” zu unterdrücken, darf da als symptomatisch für die Publikationen des Kopp-Verlages gelten, der mit dieser Masche regelmäßig in der Spiegel-Bestseller-Liste landet. Um meinen Blutdruck nicht unnötig zu belasten, sei die geneigte Leserschaft auf den Eintrag bei Esowatch verwiesen. Mir geht es um etwas anderes.

Natürlich ist offiziellen Mitteilungen zu mißtrauen. Natürlich ist es wichtig und richtig, Dinge zu hinterfragen. Es gibt wahrscheinlich eine ganze Menge an Seltsamkeiten, die aufgeklärt gehören. Das gilt aber eben nicht nur für “die da oben”, da gilt auch und gerade für Leute, die meinen, alles nun aber ganz genau zu wissen und vor allem deshalb nicht gehört zu werden, weil dunkle Mächte “die Wahrheit” unterdrücken.
Es könnte nämlich auch sein, daß sie nicht durchdringen, weil sie einfach Unsinn schreiben. Es könnte auch sein, daß es hilfreich ist, mal den eigenen Kopf einzuschalten. Es könnte sein, daß einem dann auffällt, daß die ach so sensationellen Enthüllungen nichts weiter sind als eine geschickte Zusammenstellung unbelegter Behauptungen, Auslassungen oder schlichter Unwahrheiten sind. Als einziges Beispiel sei hier nur einmal auf Herrn Niggemeier verwiesen, der die Methode Ulfkotte offenlegt.

Und wenn man in der ganzen Hysterie der Sensationen mal ganz kurz innehält, dann fällt einem vielleicht auch auf, daß da ein bißchen viel in kurzer Zeit publiziert wird. Aber freilich, Oberchecker brauchen keine Recherche, die wissen alles so. Wenn ich sehe, wie in zehntausenden von Exemplaren Bücher verkauft werden, die nichts weiter enthalten als wütende Angriffe, ganz ohne Rücksicht auf so etwas banales wie Fakten oder logisches Denken, frage ich mich: Wie kommt man dagegen an?

Wenn es wirklich erst einer Eva Herman, gegen deren Gottesverständnis auch einiges einzuwenden wäre (nebenbei, habe ich da etwas beim metaphysischen Konzept “Gott” falsch verstanden, wenn ich es merkwürdig finde, daß Menschen glauben, Gottes Wille zu kennen?), braucht, um mal nachzufragen, was eine nicht unerhebliche Anzahl Menschen da liest, steht es nicht gut um unsere Gesellschaft. Und das wird ja nicht besser, das Internet hat die Möglichkeiten der Selbstreferentialität erheblich erweitert. Es ist jederzeit möglich, sich mit einer unglaublichen Anzahl von Geichgesinnten zu umgeben. So bizarr das scheint, aber in einer Zeit, in der so viel Information wie wohl in keiner Zeit vorher verfügbar ist, ist es gleichzeitig vollumfänglich möglich, alles zu ignorieren, was der eigenen Wahrnehmung und Überzeugung entgegensteht. Die Geschäftsmodelle, die auf der Grundlage des (sozialen) Verhaltens im Netz entwickelt werden, deuten an, wohin die Reise gehen könnte. Schon heute kann man sich problemlos von einem Gefällt-mir, Gefällt-Dir – Konstrukt zum nächsten hangeln. Wer mir nicht gefällt, den blocke ich halt (meine Timeline auf Twitter zum Beispiel ist eine weitgehend geschlossene Blase). Passen wir hier nicht auf, kann es durchaus geschehen, daß demnächst ein jeder in seiner “Anderen, denen das gefiel, gefiel auch dieses”-Blase lebt. Kaum etwas aber ist wichtiger, als die Fähigkeit zu kritischem Denken, was vor allem meint: Andere Meinungen zuzulassen, anzuhören und abzuwägen – um dann die eigene Position zu hinterfragen. Die vielleicht wichtigste Lehre, die ich aus meinem Geschichtsstudium mitgenommen habe, ist diese:

Es könnte alles auch ganz anders gewesen sein.

Jegliche historische Erkenntnis ist immer vorläufig, ist immer Konstruktion. Sie kann auch gar nichts anderes sein, zumindest so lange, bis der Fluxkompensator Serienreife erlangt hat. Wir waren halt nicht dabei.
Sprich: Der eigene Irrtum ist nie auszuschließen.

Insofern mag auch ich mich irren und das ist alles gar nicht so schlimm. 3 Millionen tägliche BILD-Exemplare und Kopp-Bücher mit sechsstelligen Auflagen brauchen mir vielleicht gar keine Sorgen machen.
Trotzdem verweise ich auf das noch immer maßgebliche Buch zum Thema, in dem am Beispiel des durchaus unsäglichen Herrn Scholl-Latour die Mechanismen dieser sogenannten Experten ganz ausgezeichnet dargestellt werden.

Und der Hausheilige? Was hat der dazu zu sagen? Der spottet mal wieder:

Nach Lektüre aller Leitartikel aber zeigt uns dieser
Vorgang aufs neue:
die Vergänglichkeit der irdischen Werke;
die Größe Deutschlands;
die Wahrheit des christlichen Gedankens;
die Notwendigkeit der Beibehaltung der Simultan-Schule;
die Schurkerei des Bolschewismus
sowie
die Dringlichkeit des Baus einer neuen Eisenbahnbrücke im Kreise Oldenburg-Nord
(Nichtgewünschtes bitte zu durchstreichen!)
P. S. Wie wir soeben von unserm Spezialkorrespondenten erfahren, handelt es sich nicht um den Pont de l’Alma, sondern um die Tower Bridge; auch ist diese Brücke nicht in die Luft geflogen, sondern sie wird frisch gestrichen. Eine Änderung unsres grundsätzlichen Standpunktes kann dies natürlich nicht herbeiführen.
Ereignisse haben manchmal unrecht – die Zeitung hat es nie.

*

Zum Abschluß noch ein Hinweis. Im Gegensatz zu allem, was ich in journalistischen Publikationen gelesen habe, hat mich dieser Beitrag wirklich intensiv berührt. Und ich möchte den gar nicht weiter kommentieren, weil er ganz für sich allein steht und gültig bleibt.

aus: Der Pont de l´Alma fliegt in die Luft! in: Werke und Briefe: 1928, S. 364f. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 6044f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 6, S. 165f.)

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Das Buch zum Sonntag (54)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Oscar Wilde: Ein idealer Gatte

Prinzipiell bin ich der Meinung, Theaterstücke gehören nicht gelesen, sondern gespielt. Schließlich wurden sie genau dafür geschrieben. Ich fine es sehr wichtig, daß den Figuren und ihren Handlungen durch Schauspieler Leben eingehaucht wird. Diese Vermittlung, diese Interpretation sind es erst, die aus einem guten Stück ein unvergessliches, einprägendes Erlebnis machen.
Unglücklicherweise werden aber nicht immer genau die Stücke gespielt, nach denen einem gerade verlangt. Bis also die Bühne on Demand erfunden wird, bedarf es Ersatzhandlungen. Neben dem Rückgriff auf Verfilmungen oder Filmaufnahmen kommt da eben auch Lesen in Frage.
Ergo: Was sind schon Prinzipien?
Nun, Prinzipien und die Treue zu diesen stehen ganz im Mittelpunkt des heute empfohlenen Buches. Sir Robert Chiltern ist der aufsteigende Stern des britischen Politestablishments und gerät innerhalb eines Tages im Jahre 1895 in heftigste Verwicklungen, bei denen die Beteiligten nicht sauber zwischen privater und beruflicher Sphäre trennen.
Genauer möchte ich mich zur Handlung nicht äußern, wobei mir zu Gute kommt, daß bei den Gesellschaftsstücken Oscar Wildes die Handlung eh nur Kulisse für seine geistreichen Karikaturen sind.
Mal ein Beispiel:

Lord Caversham: Guten Abend, Lady Chiltern! Ist mein junger Nichtsnutz von Sohn hier?
Lady Chiltern lächelnd: Ich glaube, Lord Goring ist noch nicht gekommen.
Mabel Chiltern tritt auf Lord Caversham zu: Warum schimpfen Sie Lord Goring einen Nichtsnutz?
Mabel Chiltern ist ein vollendetes Beispiel für den englischen Typus von Schönheit, den Apfelblütentypus. Sie besitzt die ganze Zartheit und Natürlichkeit einer Blume. Ein unaufhörliches Geriesel von Sonnenlicht ist in ihrem Haar, und der kleine Mund mit den halb geöffneten Lippen ist erwartungsvoll wie der Mund eines Kindes. Die entzückende Tyrannei der Jugend und die erstaunliche Beherztheit der Unschuld ist ihr eigen. Nüchterne Leute erinnert sie nicht an irgendein Kunstwerk. Doch in Wahrheit gleicht sie einem Tanagrafigürchen und wäre recht ungehalten, wenn man es ihr sagte.
Lord Caversham: Weil er ein so müßiges Leben führt.
Mabel Chiltern: Wie können Sie so etwas sagen? Er reitet um zehn Uhr vormittags durch die Rotten Row, geht dreimal wöchentlich in die Oper, wechselt seine Kleidung wenigstens fünfmal am Tag und speist in der Saison jeden Abend außer Haus. Das können Sie doch nicht ein müßiges Leben nennen?

(1. Akt / S. 156f.)*

Im Gegensatz zu anderen Werken, wie, sagen wir mal, Dorian Gray, wird hier also die Paradedisziplin Oscar Wildes, das geistreiche Wortgefecht, nicht unnötig durch schwerwiegende Fragen oder eine mehr oder minder komplexe Handlung gestört. Das ist höchst erfrischend und hat den unschätzbaren Vorteil, daß jederzeit ein Aufschlagen an beliebiger Stelle möglich ist und eine Bemerkung Lord Gorings, ein Seitenhieb Lady Chilterns oder eine Anspielung Mrs. Cheveley´s erheitern das Gemüt.
Trotzdem aber finden sich durchaus Stellen, die den geneigten Zuschauer (bzw. Leser) nachdenken lassen können. Ich verrate diesmal nicht, von wem und an wen diese Worte gerichtet sind, denn es wäre ja höchst unfair, die feingestrickte Handlung vorwegzunehmen. 😉

Denken Sie daran, wohin euer Puritanismus in England euch gebracht hat. Früher maßte sich niemand an, ein wenig besser zu sein als seine Nachbarn. Ein wenig besser zu sein als der Nachbar wurde sogar für überaus vulgär und spießbürgerlich gehalten. Heutzutage, bei der Moralsucht, die bei uns Mode ist, muß jeder als ein Musterbild der Reinheit, Unbestechlichkeit und aller anderen sieben Todtugenden dastehen – und was ist das Resultat? Ihr stürzt alle wie die Kegel – einer nach dem andern. Kein Jahr vergeht in England, ohne daß jemand in der Versenkung verschwindet. Ärgerliches Aufsehen pflegte einen Mannreizvoll oder zumindest interessant zu machen – jetzt vernichtet es ihn.

(1. Akt / S. 174)

Kurz: Für den Fall, daß die geneigte Leserschaft vor ihren unzähligen Bücherregalen steht, nicht weiß, was auf der Lektüreliste als nächstes abgearbeitet werden soll und gerade ein Milchschnittengefühl hat (“etwas leichtes, lockeres, das nicht belastet”), so sei herzlichst zu diesem kleinen Kunstwerk geraten.

Neben den

lieferbaren Ausgaben

sei dieses Mal auch die Verfilmung mit einem grandiosen Rupert Everett, einer bezaubernden Minnie Driver und einer perfekt besetzten Cate Blanchett, kurz: Mit einem Ensemble, deren Spaß an der Arbeit geradezu spürbar ist, empfohlen.

*zitiert nach: Wilde, Oscar: Theaterstücke I, aus dem Englischen von Christine Heppener. in: Sämtliche Werke in sieben Bänden, herausgegeben von Norbert Kohl, Band 3. Insel Frankfurt/Main und Leipzig, 2000.

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Entscheidend ist auf´m Platz

Mal wieder eine Volksabstimmung. Mal wieder entschied vox populi anders als das Parlament. Haben die Hamburger es “denen da oben” mal wieder gezeigt. Wobei bei der Sozialstruktur der Initiatoren und besonders der Abstimmenden die Frage erlaubt sein darf, ob es sich im Falle Hamburg nicht eher um eine Abwehrbewegung derer “da oben” handelt.
Aber dies nur nebenbei. Mit geht es um etwas anders. Weshalb ich auch kein Wort darüber verlieren möchte, daß es ernstzunehmende Hinweise gibt, den Selektionswahn des deutschen Schulystems fragwürdig zu finden. Des weiteren werde ich auch nichts dazu sagen, wie bemerkenswert viele Menschen entschiedene Aussagen zum Bildungssystem geben mit der einzigen Expertise, selbst einmal Schüler gewesen zu sein. Und ein Thema, zu dem ich nun wirklich nichts sagen werde, ist die Frage, ob eine sechsjähige Primarschule besser ist als eine Selektion von 10jährigen oder ob die Hauptschule abgeschafft gehört und ob es nun besser sein könnte, ein ein-, zwei- oder dreigliedriges Schulsystem zu haben. Selbst die Frage nach integrativen Schulmodellen oder nach Ganztagskonzepten berühre ich bestenfalls am Rande.
Ganz kurz möchte ich aber darauf verweisen, daß es recht sinnvoll sein könnte, einmal darüber nachzudenken, worin eigentlich das Ziel schulischer Bildung bestehen soll. Eine Schule, die brave, gehorsame Erfüllungsgehilfen hervorbringen soll, sieht selbstverständlich anders aus als eine Schule, die selbständige, kritische und kreative Menschen ausbilden will.
Meist steht im Bildungsauftrag für die Schulen etwas in dieser Art. Ich freue mich über jede Wortmeldung aus der geneigten Leserschaft, die beinhaltet, eine Schule zu kennen, die einen solchen Bildungsauftrag erkennen läßt.
Doch wie gesagt, dazu kein Wort.
Denn das sind alles Nebenschauplätze. Hervorragend geeignet für Pressekonferenzen, Profilneurosen oder emotionale Wahlkämpfe (“Die Kinder, die Kinder!”).

Entscheidend aber ist auf´m Platz. Was in diesem Falle meint: Im Klassenzimmer.

Es gibt die verschiedensten Erklärungen dafür, warum unsere Schulbildung schlecht ist (uneins ist man sich ja, worin genau die mangelnde Qualität besteht, aber schlecht ist sie wohl auf jeden Fall). Und so wird denn auch trefflich darüber gestritten, welche Stellschrauben des Systems anders justiert werden müssten, wer wo wieviele Jahre und wieviele Unterrichtsstunden in welchen Unterrichtsfächern mit welcher Wichtung zueinander mit welcher Anzahl von Klausuren und Leistungskontrollen bei welchem Umfang von Hausaufgaben “beschult” wird.
Es gibt kein treffenderes Wort für das tiefsitzende Problem unserer Schulbildung als den administrativen Ausdruck dafür, was IN der Schule geschieht: Dort werden Kinder “beschult” (deshalb gibt es übrigens auch kein Streikrecht für Schüler – strukturell gesehen wäre das in etwa so als würde der Leisten beim Schuhmacher streiken, weil er nicht bespannt werden möchte oder der Käse im Supermarkt, weil er nicht gelagert oder verkauft werden will). Das öffentliche Nachdenken über Schule endet spätestens an der Tür zum Klassenzimmer, was bizarr ist, weil Schule da überhaupt erst beginnt, wirksam zu werden. Die Frage, ob Schüler etwas lernen und was sie lernen entscheidet sich nirgendwo sonst. Wenn daran also etwas geändert werden soll, dann hilft nur ein Blick in den Unterricht selbst und auf diejenigen, die diesen Unterricht gestalten. Dann müsste auch darüber nachgedacht werden, wie die Lehrenden eigentlich aus- und weitergebildet werden und ob sie überhaupt in der Lage sind, dem umfangreichen Bildungsbegriff, der einer modernen Schule zu Grunde liegt, zu erfassen und umzusetzen.
Die zu beobachtenden Lernerfahrungen von Schülern legen den Verdacht nahe, daß dem eher nicht so ist. Das ist auch nicht weiter überraschend, begünstigt die Lehrerausbildung ja auch eher Menschen, die in der Lage sind, administrative Anweisungen präzise umzusetzen – und eben keinen Schritt davon abweichen, geschweige denn darüber hinausgehen (es würde jetzt endlos werden und ich bin da emotional vorbelastet, aber vielleicht hilft hier ja auch die eigene Erinnerung an die Stunden, in denen mehr oder weniger nervöse Studenten vorne an der Tafel waren und unter dem gestrengen Blick der Fachdidakterin hinten in der letzten Reihe versuchten, eine Stunde zu gestalten: Seid versichert, es geht überhaupt nicht darum, ob die Stundengestaltung Sinn macht, welche methodischen Erwägungen gemacht wurden und ob die Schüler dabei etwas lernen, nein, wichtig ist das Schema und dessen Umsetzung. Funktioniert hat das ganze dann, wenn “die Klasse” nicht unruhig wurde und brav die im Konzept vorgesehenen Antworten liefert – vielleicht erinnert sich der eine oder andere auch noch an die innigen Bitten der Klassenlehrer(in) im Vorfeld, bitte nett zu sein und mitzuarbeiten…)

Die pädagogische Freiheit der Lehrenden ist ein hohes Gut und sie ist eine wunderbare Idee. Sie hilft aber rein gar nichts, wenn die Lehrenden gar nicht in der Lage sind, diese Freiheit auch zu nutzen, sondern sie stattdessen als Abwehrbollwerk nutzen, um lästige Eltern oder lästige Kollegen abzuwehren, die sie mit methodischen Vorschlägen behelligen.
Hierzu mal kurz den Hausheiligen:

Laß dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: »Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!« – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.

*

Was im Übrigen dann besonders dramatisch wird, wenn man überlegt, daß die erfolgreichsten Schulen ausgerechnet die sind, die sich auf ein schlüssiges pädagogisches Gesamtkonzept geeinigt haben (also Schulen wie diese oder jene). Schulen also, die Lehrenden wie Lernenden Freiräume lassen, gleichzeitig aber klare, erkennbare Rahmen setzen. Wenig ist dem Lernen unzuträglicher als Unberechenbarkeit. Wenn alle 45 Minuten eine vollkommene Neuorientierung stattfinden muß, weil urplötzlich wieder ganz andere Dinge wichtig sind, ganz andere Regeln gelten, ein völlig anderer Umgang miteinander herrscht, so ist das nicht eben der ideale Nährboden für gutes Lernen (man denke nur mal an das eigene Lernen und die Ritualisierung der dazugehörigen Vorgänge und Situationen).
Ein solches Vorgehen freilich läßt sich weder auf ein paar griffige Fromeln reduzieren, noch wäre es zu popularisieren (das ginge nur, wäre das Interesse der Eltern tatsächlich so weit gehend und würde nicht bei “Da mußt Du eben lernen/zuhören/aufpassen” enden), geschweige denn gäbe es einfache Antworten. Es wäre harte, intensive, tägliche Arbeit.

Nein, da wird lieber noch ein neues Schulstrukturkonzept entworfen und heiß diskutiert, anstatt endlich den Schulen den Raum, die Ruhe und das Personal zu geben, die sie bräuchten, um wirklich gut zu werden.

Wirklich traurig ist aber, daß das alles schon längst bekannt ist. Die Bildungskommission NRW hat in ihrem Bericht auf all diese Punkte bereits 1995 hingewiesen. Und sie hat weiterhin Recht. Es bedürfte eines Systemwandels, eines völlig anderen Herangehens an Bildung – ein paar kosmetische Operationen, und das ist alles, was seither in der Schulpolitik passiert, bringen uns nicht weiter.

*aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932, S. 95. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8811 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 49)

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Datenschutz und so. Ein Lesetipp

Immer wieder kommt es vor, daß ich in den Weiten des Netzes auf Texte stoße, in denen Themen sehr viel besser aufbereitet werden als ich das vermag. Sei es, weil ich mir selbst keine schlüssige Meinung bilden kann, sei es, weil es einfach Menschen gibt, die besser schreiben können.

Heute empfehle ich mal einen Text drüben bei Antje Schrupp, von der ich gelernt habe, daß “Gender” allen dogmatischen Gräben zum Trotz, ein ernstzunehmendes Thema ist, zum Datenschutz und dem persönlichen Umgang damit. Ich finde, sie macht dort auf einen höchst bemerkenswerten Aspekt aufmerksam, der auch mir etwas zu kurz kommt.

Lektüre und Debatte also bitte dort.

Verschwindende Künste (2)

Heute: Briefe schreiben

Ich bin kein Freund des Kulturpessimismus. Für dessen Berechtigung ist die abendländische Kultur in den letzten Jahrtausenden ein bißchen zu oft untergegangen. Aber wie ich bereits vor einigen Monaten schrieb, gehen nichtsdestotrotz durch den technologischen Wandel Kulturtechniken mangels Bedarf verloren.
Dazu gehört das Briefe schreiben. Nun meine ich damit nicht, daß Menschen nicht mehr schriftlich miteinander kommunizieren. Ganz im Gegenteil, so viel schriftliche Kommunikation war wohl nie.
Aber genauso wie sich der Umgang mit und die Produktion von Musik durch die Digitalisierung verändert, so verändert sich auch der Umgang mit und die Erstellung von Texten. Deren Struktur wird durch das andere Medium und deren Möglichkeiten massiv beeinflußt. Eine email liest sich ganz anders als ein klassischer, handgeschriebener Brief.
Und ich glaube, daß dies tatsächlich etwas mit dem Material zu tun hat. Einen Füllfederhalter in die Hand zu nehmen, ein schönes Papier auszusuchen, vielleicht ein passendes Heißgetränk, den gewählten Platz zum Schreiben freiräumen und ein paar reinigende Handbewegungen, begleitet von einem Pusten, das die letzten Staubkörner entfernt, um so dem zu beschreibenden Papier den gebührenden Auftritt zu ermöglichen. Eine kurzes Sammeln, ein kleiner Schluck aus der Tasse und dann die ersten Worte, denen bald noch mehr folgen. Ein Fließenlassen, ein Dahinschreiben , ein Versinken in Gedanken.
Es ist die Zeit, die den Unterschied macht. Die Zeit, die sich der Schreibende nimmt, die Zeit aber auch, die der Lesende aufwendet, die Zeit, die vergeht, eh der Brief den Adressaten erreicht, die Zeit schließlich, die das Schriftstück überdauert.
Sicher, es kann auch eine Email ein wunderbarer Ausdruck der Liebe und Zuneigung sein – selbst eine SMS kann ein bewegendes Dokument tiefgreifender Gefühle sein. Aber werden dereinst die Tränen der Kinder oder Enkel voll Rührung darauf tropfen, weil der Zufallsfund auf dem Dachboden ihnen ganz neue Seiten ihrer Eltern oder Großeltern offenbaren?
Natürlich führt die Unmittelbarkeit der elektronischen Kommunikation zu ganz anderem Ausdruck, zu einer ganz anderen Form, einer anderen Sprache. Und zu einer Flüchtigkeit, die in meinem romantisch-verklärten Blick nicht so recht zur Schriftlichkeit passen will. Ist die Entscheidung, einen Brief zu vernichten, noch etwas handfestes, physisches – so genügt im Email-Postfach ein Klick. Bösartige Programme löschen sogar automatisch Nachrichten, die eine bestimmte Verweildauer überschritten haben. Ich nehme jedoch stark an, schon die heute 20jährigen können dieses Unbehagen schon nicht mehr nachvollziehen – es ist insofern also nur vorausschauend, wenn die Post versucht, nun Geld mit Emails zu verdienen. 😉
Es sind ja nicht nur Briefe, die verschwinden, auch die beliebten Postkarten aus dem Urlaub werden immer weniger – wozu sollen die auch gut sein, wenn doch ein paar Klicks am Mobiltelefon mit Kamera genügen, damit alle Freunde am Urlaubserlebnis teilhaben?
Doch es bleibt etwas ganz anderes, sich einen hübschen Stapel mit Bedacht ausgewählter Ansichtskarten zu kaufen, ein Stammcafé aufzusuchen und jede Karte von Hand mit Grüßen und Adresse zu versehen, zu frankieren und am nächsten Briefkasten auf die Reise zu schicken. Das schafft eine viel innigere Verbindung als es jeder flotte Kommentar auf Facebook je könnte.*
Und mal ehrlich, ist die Intensität rituellen Verbrennens von Liebesbriefen des oder der Verflossenen durch das Löschen eines email-Ordners auch nur annähernd zu erreichen? Oder die sentimentale Rührung bei der erneuten Lektüre alter Korrespondenzen, die einem beim Durchstöbern der Umzugskartons in die Hände fallen? Die als Lesezeichen verwendeten Botschaften, die beim Aufblättern eines vor langer Zeit gelesenen Buches herausfallen und sich so wieder in Erinnerung rufen – ob uns das mit 10 Jahre alten SMS wohl auch geschehen wird?

Nun, die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen.
Ich aber werde jetzt mein Netbook schließen, meinen Federhalter** auffüllen, mein bestes Briefpapier herausnehmen und einen Brief an einen lieben Menschen schreiben.

*Was im Übrigen aber ganz ausgezeichnet zur Umwertung des Freundschaftsbegriffs paßt, der dort betrieben wird. Die Menschen, mit denen ich auf Facebook verbunden bin, sind mir keineswegs egal oder gar unsympathisch – aber es sind nun beim besten Willen nicht alles meine Freunde. Eine Freundschaft erfordert in meinen Augen ein Maß an Innigkeit und Belastbarkeit, das weder mit jedem wünschenswert, geschweige denn im erforderlichen Umfange überhaupt leistbar wäre.

**Wobei mein Modell wirklich noch zum Auffüllen ist, also nix da mit Patronen. Es wird schon ein formschönes Tintenfaß benötigt. 😉

Das Buch zum Sonntag (53)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues

Der erste Weltkrieg gilt als “Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts” und Ende des langen 19. Jahrhunderts (das üblicherweise mit der Französischen Revolution als Beginn gesetzt wird). Für diese Sichtweise gibt es einige Anhaltspunkte. Vielen Kriegsteilnehmern, vielleicht sogar einigen Protagonisten auf Regierungsebene, war nicht annähernd klar, worauf sie sich da eingelassen hatten. Der erste Weltkrieg offenbarte schnell, daß im Zeitalter der Millionenheere der Einzelne nun gar keine Rolle mehr spielte. Die einzigen Aufgaben, die noch blieben, waren das Bedienen von Artilleriemaschinen und das Füllen von Gräbe(r)n.
Was Remarque in seinem Roman gelingt, ist das Portrait einer Generation, die in 4 Jahren Krieg nicht nur traumatisiert wird, nicht nur schreckliche Dinge erlebt, sondern physisch und psychisch vollkommen zerrüttet wird, die nicht nur den Glauben (woran an auch immer) verliert, sondern auch sich selbst. Eine Generation, die jung und enthusiastisch, kaum der Schulbank entronnen, in einen unvorstellbaren Krieg zieht – und verbraucht, zerstört, lebensmüde zurückkommt.
Dieser Roman ist in meinen Augen besonders deshalb so wertvoll, weil er auf Anklagen, Entschuldigungen, Bekenntnisse verzichtet. Er erzählt einfach. Dies aber konsequent. Krieg ist kein reinigendes Stahlgewitter, in dem ein Junge zum Manne reift. Krieg ist vor allem eines: Grauen.

Haie Westhus wird mit abgerissenem Rücken fortgeschleppt; bei jedem Atemzug pulst die Lunge durch die Wunde. Ich kann ihm noch die Hand drücken; -“is alle, Paul”, stöhnt er und beißt sich vor Schmerz in die Arme.
Wir sehen Menschen leben, denen der Schädel fehlt, wir sehen Soldaten laufen, denen beide Füße weggefetzt sind; sie stolpern auf den splitternden Stümpfen bis zum nächsten Loch; ein Gefreiter kriecht zwei Kilometer weit auf den Händen und schleppt die zerschmetterten Knie hinter sich her; ein anderer geht zur Verbandsstelle und über seine festhaltenden Hände quellen die Därme; wir sehen Leute ohne Mund, ohne Unterkiefer, ohne Gesicht; wir finden jemand, der mit den Zähnen zwei Stunden die Schlagader seines Armes klemmt, um nicht zu verbluten, die Sonne geht auf, die Nacht kommt, die Granaten pfeifen, das Leben ist zu Ende.
Doch das Stückchen zerwühlter Erde, in dem wir liegen, ist gehalten gegen die Übermacht, nur wenige hundert Meter sind preisgegeben worden. Aber auf jeden Meter kommt ein Toter.

(S. 97)*

Remarque bleibt aber nicht bei simplen Schilderungen stehen. In der Veränderung, die der junge Paul Bäumer durchläuft, in den Denkweisen, die sich an der Front, nicht nur bei ihm, bilden, offenbart sich das Drama einer verlorenen Generation. Und dies wirkt umso stärker, als es Remarque gelingt, Figuren zu schaffen, die sich auch mit dem Abstand fast eines ganzen Jahrhunderts noch zur Identifikation eignen. Auch ganz ohne eigene Erfahrungen in einem solchen Krieg, fühlt und leidet man auch heute mit Paul und seinen Gefährten. Für mich bleibt “Im Westen nichts Neues” auch und gerade heute ein Antidot gegen all die hehren Beschwörungen von der Notwendigkeit des Krieges und den großen Dingen, für die es zu töten gilt.

Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wäre schön dumm, diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt. Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch einmal solch eine Chance geboten hat.
Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes Wildschwein. Nach einiger Zeit läßt Mittelstaedt aufhören, und nun beginnt die so wichtige Übung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die Knarre vorschriftsmäßig gefaßt, schiebt Kantorek seine Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kräftig, und sein Schnaufen ist Musik.
Mittelstaedt ermuntert ihn, indem er den Landsturmmann Kantorek mit Zitaten des Oberlehrers Kantorek tröstet. “Landsturmmann Kantorek, wir haben alle das Glück, in einer großen Zeit zu leben, da müssen wir alle uns zusammenreißen und das Bittere überwinden.” Kantorek spuckt ein schmutziges Stück Holz aus, das ihm zwischen die Zähne gekommen ist, und schwitzt. Mittelstaedt beugt sich nieder, beschwörend eindringlich: “Und über Kleinigkeiten niemals das Erlebnis vergessen, Landsturmmann Kantorek!”

(S. 124f.)

Natürlich wurde der Roman 1928 anders gelesen als er heute gelesen wird. Die Zeitgenossen steckten ja selbst in den Schützengräben der Westfront, im zermürbenden, sinnlosen Stellungskrieg und diese geteilte Erfahrung führt zwangsläufig zu einer anderen Rezeption als bei einer Generation, deren Kriegserfahrungen im Wesentlichen aus n-tv-Dokumentationen stammt. Einer der wichtigsten Punkte in der umfangreichen zeitgenössischen Debatte war die Frage, ob denn das alles wahr sei, was da stünde, ob der Herr Remarque dies überhaupt erlebt habe. Zum einen zeigt dies, daß die Authentizitätsfrage, die bei Frau Hegemann durchexerziert wurde, auch schon etwas älter ist, und zum anderen scheint mir eine solche Frage immer ein Versuch zu sein, von den Fragen, die ein solches Werk aufwirft, abzulenken. Dazu mal kurz den Hausheiligen:

Gegen das Buch läßt sich vielerlei sagen.
Man darf den Stilisten Remarque angreifen. (Ich tus nicht – aber so ein Angriff ist denkbar.) Man darf sagen: so ist der Krieg nicht gewesen; der Krieg war edel, hilfreich und gut – die Soldaten haben sich mit
Schokoladenplätzchen beworfen und in den Pausen ihrem Kaiser gehuldigt. Man darf sagen: Der wahre Mann beginnt erst, wenn er seinem Gegner eine
Handgranate in die Gedärme geworfen hat. Man darf vieles über, für und gegen das Buch sagen, fast alles.
Aber eines darf man nicht.
Man darf nicht den Kampf verschieben und sich die bürgerliche Person des Autors vornehmen, dessen Haltung nach einem in der Geschichte des deutschen Buchhandels beispiellosen Erfolg mustergültig ist.
Der Mann erzählt uns keine dicken Töne, er hält sich zurück; er spielt nicht den Ehrenvorsitzenden und nicht den Edelsten der Nation – er läßt sich nicht mehr fotografieren als nötig ist, und man könnte manchem engeren Berufsgenossen soviel Takt und Reserve wünschen, wie jener Remarque sie zeigt.

**

Oder, deutlich prägnanter, vom Verlag freundlicherweise auf der Rückseite der Taschenbuchausgabe abgedruckt, Stefan Zweig: “Ein vollkommenes Kunstwerk und unzweifelhafte Wahrheit zugleich.”
So bleibt denn festzuhalten, daß “Im Westen nichts Neues” kein Antikriegsroman ist, kein pazifistisches Manifest – aber gerade daraus seine starke Wirkung zieht. Ich kann (oder will?) mir nicht vorstellen, daß jemand nach der Lektüre dieses Romans uneingeschränkt und unerschüttert sich für die Notwendigkeit von Kriegen als Mittel der menschlichen Zivilisation einsetzen kann. Dazu noch ein letztes Zitat:

Das Grauen läßt sich ertragen, solange man sich einfach duckt; aber es tötet, wenn man darüber nachdenkt.
Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen, wenn wir in Ruhe sind. Wir können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da können wir uns nicht mit Gefühlen belasten, die für den Frieden dekorativ sein mögen, hier aber falsch sind. Kemmerich ist tot, Haie Westhus stirbt, mit dem Körper Hans Kramers werden sie am Jüngsten Tage Last haben, ihn aus einem Volltreffer zusammenzuklauben, Martens hat keine Beine, Meyer ist tot, Marx ist tot, Beyer ist tot, Hämmerling ist tot, hundertzwanzig Mann liegen irgendwo mit Schüssen, es ist eine verdammt Sache, aber was geht es uns noch an, wir leben. Könnten wir sie retten, ja, dann sollte man mal sehen, es wäre egal, ob wir selbst draufgingen, so würden wir loslegen; denn wir haben einen verdammten Muck, wenn wir wollen; Furcht kennen wir nicht viel – Todesangst wohl, doch das ist etwas anderes, das ist körperlich. […]
Und ich weiß: all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, versackt in uns wie ein Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die Auseinandersetzung auf Leben und Tod.

(S. 100f.)

Und nun gehet hin und lest, vielleicht aus einer der

lieferbaren Ausgaben.

*zitiert nach: Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues. Kiepenheuer & Witsch Köln. 5. Auflage 1999

**aus: Hat Mynona wirklich gelebt? in: Werke und Briefe: 1929, S. 636f. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7123f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 283) – Der Hausheilige hält Remarques Werk im Übrigen für kein originär pazifistisches Werk und zudem auch nicht für überragend. Aber immerhin für ein gutes Buch.

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P.S. Ich kann nicht über dieses Buch schreiben, ohne auf dieses Lied zu verweisen. Wer das hören kann und dann immer noch den dringenden Wunsch verspürt, Soldat zu sein – nun, der soll es auch werden. Allen anderen wäre abzuraten.

Das Buch zum Sonntag (52)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Leichte Urlaubslektüre ist dieses Buch eher nicht. Gerade deshalb wäre aber vielleicht gerade ein Urlaub genau der richtige Zeitpunkt, um es zu lesen. Denn Littell hat hier einen sehr dichten Roman geschrieben, der in kleinen Portionen und nur zwischendurch kaum zu erfassen sein dürfte.
Ich möchte daher auch nur ein paar wenige Aspekte herausgreifen, die es mir Wert erscheinen lassen, dieses Werk zu lesen.
Erzählt werden die fiktiven Erinnerungen eines Fabrikbesitzers aus Frankreich, Dr. iur. Maximilian Aue, SS-Offizier, französisch-deutscher Herkunft, intellektuell, homosexuell und an nahezu allen entscheidenden Orten des Krieges im Osten dabei.

Blobels Argumente waren gar nicht so dumm: Wenn der höchste Wert das Volk ist, zu dem man gehört, und wenn der Wille dieses Volkes in seinem Führer verkörpert ist, dann, in der Tat, haben Führerworte Gesetzeskraft. Trotzdem war es von entscheidender Bedeutung, die Notwendigkeit der Führerbefehle für sich selbst zu verstehen und anzunehmen: Wenn man ihnen bloß aus preußischem Gehorsam, aus knechtischer Gesinnung folgte, ohne sie zu verstehen und zu akzeptieren, das heißt sich ihnen zu unterwerfen, war man lediglich ein Schaf, ein Sklave und kein Mensch.”

(S. 147)*

Hier schimmert kurz auf, was für mich einen der stärksten Punkte, die für dieses Buch sprechen, ausmacht: Littell unternimmt den Versuch, die Protagonisten der NS-Nomenklatura in ihrem Weltbild Ernst zu nehmen. Was könnten diese Menschen gedacht haben, wie sah es wohl in ihnen aus, wenn sie das alles wirklich geglaubt haben? Was, wenn sie wirklich und ernsthaft annahmen, im Recht zu sein? Das Richtige und Gute zu tun?
Und nur wenige Sätze nach dem obigen Zitat kommt das auch mehr oder weniger direkt zur Sprache, wenn Max Aue über die gefangenen und verhörten Offiziere der Roten Armee nachdenkt, von denen die offizielle Propaganda verlautbarte, daß sie Untermenschen seien:

[…] und ich konnte mich der Einsicht nicht verschließen, dass auch sie Menschen wie wir waren, Menschen, die nur das Beste wollten, die ihre Familie und ihr Vaterland liebten. Trotzdem hatten diese Kommissare und Offiziere den Tod von Millionen ihrer eigenen Landsleute verschuldet, sie hatten Kulaken deportiert, die ukrainische Landbevölkerung verhungern lassen, die Bourgeois und Abweichler unterdrückt und erschossen. Unter ihnen gab es natürlich Sadisten und Verrückte, aber auch gute Menschen, die aufrichtig das Beste für ihr Volk und die Arbeiterklasse wollten, und wenn sie irrten, so blieben sie doch guten Glaubens. […] auch bei unseren Feinden vermochte sich ein gute und ehrlicher Mensch davon zu überzeugen, dass er schreckliche Dinge tun müsse.

(S. 147f.)

Max Aue ist in meinen Augen ein höchst unwahrscheinlicher Charakter. Mir ist das alles ein bißchen sehr viel, was Littell da in ihn hineinlegt. Aber: Er ist eine intellektuelle Herausforderung, eine Aussage, die sich auf den ganzen Roman anwenden läßt. Selbst wenn man all die unzähligen Intertextualitäten nicht versteht, bleibt hier eine Herausforderung bestehen. In seiner scheinbaren Kälte, die doch eigentlich viel mehr Exaktheit ist, fordert das Buch den Lesenden heraus. Es ist kein Vergnügen, es macht an keiner Stelle Spaß, diesen Roman zu lesen, aber es war mir gleichzeitig unmöglich, mich ihm zu entziehen. Indem Littell hier sehr glaubwürdig aufzeigt, wie die Elite des NS-Staates gedacht und gehandelt haben könnte, welche Grundlagen das Handeln und Denken dieser ja keineswegs einfach nur tumben, gewaltsüchtigen Gestalten (die es auch gab und die er hier auch nicht ausklammert) hatte, wirft er der heutigen Erinnerungskultur, die ja in Wirklichkeit eine Verdrängungskultur ist, den Fehdehandschuh hin.
Wie auch immer man sich also zu diesem Werk positioniert, ich halte es für wichtig, es zu lesen, denn es ist ein starkes Buch. Befremdend, vielleicht. Herausfordernd, bestimmt. Schön, auf keinen Fall. Notwendig, unbedingt.

Und um den Fehdehandschuh auch der geneigten Leserschaft hinzuwerfen, sei noch folgender Dialog zitiert, der mitten in der Schilderung des Vormarsches der deutschen Truppen samt der Maßnahmen zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung auftaucht:

“Pjatigorsk gefällt Ihnen also?”, fragte mich Voss. Ich lächelte, ich freute mich, ihn hier anzutreffen. “Ich habe noch nicht viel gesehen”, sagte ich. “Wenn Sie Lermontow mögen, ist die Stadt eine echte Pilgerstätte. Die Sowjets haben in seinem Hause ein hübsches kleines Museum eingerichtet. Wenn Sie mal einen freien Nachmittag haben, gehen wir es besichtigen.” – “Gerne. Wissen Sie denn auch, wo das Duell stattgefunden hat?” – “Das von Petschorin oder das von Lermontow?” – “Das von Lermontow.” – “Hinter dem Maschuk. Da gibt es natürlich ein grässliches Denkmal. Und stellen Sie sich vor, wir haben sogar eien seiner Nachkommen ausfindig gemacht.” Ich lachte: “Nicht möglich.” – “Doch, doch. Eine Frau Jewgenija Akimowa Schan-Girej. Sie ist sehr alt. Der General hat ihr eine Pension ausgesetzt, geoßzügiger bemessen als die der Sowjets.”

(S. 352f.)

Lieferbar ist der Roman in

diesen Ausgaben.

*zitiert nach: Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Berlin Verlag, Berlin 2008.

P.S. Mit meinem Versuch, dieses der geneigten Leserschaft ans Herz zu legen, werde ich dem Roman mitnichten gerecht werden. Aber zum Glück gibt es Menschen, die das können. Frank Fischer hat im Umblätterer seinerzeit 10 Aspekte des Werkes untersucht. Da aber eine nicht zu unterschätzende Spoilergefahr besteht, sollte dieser Link erst nach erfolgter Lektüre benutzt werden.

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Rauchzeichen

Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die andern auch nicht.

*

“Aber die Kinder, die Kinder!”

Seit Zensursulas Angriff auf die Informationsfreiheit sollten bei Begründungen für Verbote, die auf dieser Schiene laufen, bei jedem die Alarmglocken schrillen. Die armen, zu beschützenden Kinder, sind ein gar zu wohlfeiles Argument. Exemplarisch dazu mal diese Family-Guy-Folge.

Nun ist es ja nicht so, daß ich die Auswirkungen des Tabakrauches auch und gerade auf Kinder bestreite. Ganz im Gegenteil, ich finde die Debatten darum, ob Passivrauchen denn nun schädlich sei oder nicht, geradezu absurd. Denn die Auswirkungen auf die Gesundheit von Rauchern sind unbestitten – wenn dem aber so ist, so kann Passivrauchen nicht wirkungslos sein. In einem Leserbrief an die seinerzeit höchst tendenziell berichtende taz schrieb ich vom Mysterium der alles absorbierenden Raucherlunge, die benötigt würde, um diesen Effekt zu erzielen.

Was mich aber beunruhigt ist eine ganz andere Entwicklung.
Damit eine Gesellschaft existieren kann, ist es notwendig, sich selbst, die eigenen Ambitionen und Ansichten zurückzustellen – sonst wird das nix mit dem Funktionieren der Gemeinschaft. Das alte Ideal des Citoyen zielt genau darauf. Mir scheint aber, die Erkenntnis, daß wir alle nur Teil einer Gemeinschaft sind, ging irgendwo im Taumel postmoderner Dekonstruktivismusdebatten verloren. Sicherlich hängt es von der Selbstdefinition einer Gesellschaft ab, wie weit die Identifikation des Einzelnen mit ihr gehen soll und es wird auch in der freiheitlichsten Gesellschaft Lebensentwürfe geben, die geächtet sind. Diese Balance gilt es immer wieder neu auszuhandeln und die Menschen haben da im Laufe der Geschichte verschiedenste Verhandlungsstrategien entwickelt (Kriege, Revolutionen, Aufstände, Boulevardzeitungen…)
Je heterogener eine Gesellschaft aufgebaut ist, desto diffiziler ist es, Regeln für das Zusammenleben zu entwickeln, weil auf sehr viel mehr, wenn es hoch kommt, sogar konträrer, verschiedene Lebenskentwürfe Rücksicht genommen werden muß. Und desto problematischer sind fundamentalistische Gruppen. Diese nämlich, das ist per definitionem so, negieren genau diesen Zusammenhang. Im Besitz der alleinselgmachenden Wahrheit sind sie nun aufgerufen, die Menschheit zu bekehren und auf den Pfad der Tugend/Wahrheit//Erleuchtung/Freiheit [die geneigte Leserschaft sei hier aufgerufen, weitere passende Schlagworte zu ergänzen] zu führen.
Womit ich wieder einmal bei meinem Lebensthema wäre, nämlich dem persönlichen Drama von Menschen, die im festen, unerschütterlichen Glauben, für das Gute und Richtige einzustehen, Dinge tun, die von allen anderen nur als falsch, nicht selten sogar grausam, schrecklich, unmenschlich angesehen werden können.
Die Nagelprobe einer jeden Herrschaftsform ist nie, wie und auf welche Weise Macht verteilt wird, sondern immer die Frage, was die Macht der anderen für die Nichtmächtigen bedeutet, für all jene, die anders denken. Aus diesem Aspekt heraus erscheint es mir dramatisch, wenn eine solch fundamentalistisch geführte Initiative nun also Erfolg hatte. Und noch weit schlimmer, hier folge ich ganz und gar der durchaus streitbaren Julia Seeliger, daß eine Partei wie die Grünen, deren Selbstverständnis doch das pluralistische Nebeneinander und Zusammenleben verschiedenster Lebensentwürfe beinhaltet, sich dazu hinreißen läßt, hier eine Diskriminierungs-, wenn nicht sogar Kriminalisierungskampagne zu unterstützen und dabei eine Argumentationskette verfolgt, die jedem Law-and-Order-Politiker Tränen der Rührung in die Augen treiben dürfte. Damit wird einer Stimmung Vorschub geleistet, die Menschen deshalb ausgrenzt und ablehnt, weil sie ein anderes Leben führen möchten, weil ihnen andere Dinge wichtig sind als einer vor lauter irrsinniger Todesangst auf Wellnessgötzen fixierten Gesellschaftsgruppe (die dabei vollkommen zu ignorieren scheint, daß auch die “gesündeste” Lebensweise rein gar nichtsan der Sterblichkeit ändert).
Ich möchte hier aber nicht mißverstanden werden: Die Situation vor der ersten Runde der Nichtraucherschutzgesetze war ebenso unerträglich. Selbst in einer Stadt wie Leipzig, mit immerhin einer halben Million Einwohner gab es de facto keine Möglichkeit, abends auszugehen, ohne Inhalationen unbestimmbarer Mengen Zigarettenrauches in Kauf zu nehmen. Das freie Spiel des Marktes schaffte da einfach keine befriedigende Lösung. Die daraufhin beschlossenen Regelungen fand ich an sich sinnvoll, es gab weiterhin die Möglichkeiten für Raucher, die Gastronomie nach ihrem Gusto zu besuchen und Menschen, die lieber rauchfrei bleiben wollen, wurde (endlich) die Chance gegeben, dies auch zu tun.
Es ist doch aber absurd, die Ausgangssituation nun umzukehren und jetzt die Raucher auszugrenzen. Genau das aber passiert mit einem kompletten Rauchverbot. Worin besteht das Problem eines separaten Raucherraumes, den ich als Nichtraucher einfach nicht betrete? Warum müssen Menschen vor Dingen beschützt werden, die sie gar nicht bedrohen?
Anstatt also vernünftige Lösungen für ein Zusammenleben zu suchen, sucht man den Weg der Ausgrenzung.
Nun, ich bin sicher, das Rauchverbot, selbst wenn es bundesweit eingefürht würde, brächte unsere Gesellschaft nicht an den Rand des Abgrunds. Aber, ihr lieben Jubler über diesen Erfolg, heute mögen es die Raucher sein (und da gibt es noch ein paar Runden, schließlich müssen wir und die Kinder, die armen Kinder, ja noch an ein paar anderen Orten des öffentlichen Lebens geschützt werden), morgen könnte es aber bereits euer Lebensstil sein. Es sollen ja auch laute Musik, Computerspiele und Autoabgase furchtbar schädlich sein. Und Kindergärten in der Nachbarschaft sind störend. Dann diese Leute mit den Piercings und Tattoos und die mit den schwarzen Klamotten, das sind doch alles Satanisten. Und diese Schwulen, das ist doch krank. Und diese ganzen Ausländer, was die hier wollen.

Die Initiatoren halten diese Volksininitiative für ein gelungenes Beispiel dafür, wie klug es doch sei, “das Volk” abstimmen zu lassen. Ich halte es für ein gelungenes Beispiel dafür, wie mit Ressentiments Stimmung gemacht wird.

Zum Abschluß noch einmal der Hausheilige:

Den Tag über ist ihr Leben mit lauter Schildern umgattert: DU DARFST NICHT! . . . VERBOTEN! . . . UNTERSAGT! – Einmal, ein einziges Mal will der Mensch das Überflüssige tun, das dem Leben erst die richtige Würze gibt.

aus: Was machen die Leute da oben eigentlich? in: Werke und Briefe: 1930, S. 327. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7526 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 8, S. 149-150)

*aus: Der Mensch. in: Werke und Briefe: 1931, S. 497. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8477 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 230)

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Das Buch zum Sonntag (51)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Amélie Nothomb: Mit Staunen und Zittern

Juli 2010: Draußen sind 40°C, drinnen laufen die diversen Kühlgeräte auf Hochtouren und die Getränkeindustrie legt Überstunden ein.
Da ich es aber unmöglich verantworten kann, daß die geneigte Leserschaft sich in rettungslose Abhängigkeit von Softdrinks begibt, empfehle ich diese Woche ein Buch, das höchst erfrischend ist.
In Frau Nothombs Roman tritt eine hochqualifizierte junge Europäerin in ein japanisches Unternehmen ein. Wer wissen möchte, was “Clash of civilizations” wirklich bedeutet, kann das hier lernen. In diversen Reiseführern wird immer wieder behauptet, man könne als Europäer nicht nach Japan reisen, ohne sich zu blamieren. Ich halte diese These übrigens für höchstwahrscheinlich gültig, denn im Laufe der Jahrhunderte, die dieses Land sich vom Rest der Welt abgeschottet hatte, hat sich dort ein komplexes Gebilde an Verhaltensregeln entwickelt, das zu beachten jahrelange Übung benötigt*.
Und so beginnt der erste Arbeitstag von Ameliesan mit einem Fauxpas, gefolgt von einer Lehrstunde in japanischer Mitarbeiterführung:

Die “Herausforderung”, die Herr Saito mir zugedacht hatte, bestand darin, die Einladung eines gewissen Adam Johnson zu beantworten, der am kommenden Sonntag mit ihm Golf spielen wollte. Diesem Herrn mußte ich auf englisch einen Brief schreiben, der ihm Herrn Saitos Einverständnis anzeigte.
– Wer ist denn Adam Johnson? fragte ich in meiner Einfalt.
Mein Vorgesetzter seufzte gereizt und gab mir keine Antwort. War es abnorm, nicht zu wissen, wer Adam Johnson war, oder war meine Frage vielleicht indiskret gewesen? Ich habe es nie erfahren – und wer Adam Johnson ist, weiß ich bis heute nicht.
Die Sache kam mir nicht schwierig vor. Ich setzte mich hin und schrieb einen freundlichen Brief: Herr Saito freue sich schon darauf, nächsten Sonntag mit Herrn Johnson Golf zu spielen, und grüße ihn auf das herzlichste. Damit ging ich zu meinem Vorgsetzten.
Herr Saito las mein Werk durch, stieß einen leisen, verächtlichen Schrei aus und zerriß es.
– Schreiben Sie es noch mal!

(S. 7f.)

Dies wiederholt sich einige Stunden lang. Ameliesan schreibt, Saitosan gibt einen Schrei von sich und zerreißt. Ohne Kommentar, ohne Hinweis, nur ein simples: “Schreiben sie es noch mal!” Sowas kann einen zur Verzweiflung bringen, insbesondere, da nach einer gewissen Anzahl von Versuchen sich das Gefühl einschleichen muß, niemals ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen. Bei Nothomb aber beginnt hier der Spaß:

Manches an dieser Übung war nicht ohne Witz und erinnerte an das “Sterben machen, schöne Marquise, Ihre schönen Augen mich vor Liebe” des Bourgeois gentilhomme. Ich experimentierte mit Abwandlungen von grammatischen Kategorien: “Und wenn nun Adam Johnson das Verb würde, der nächste Sonntag das Subjekt, die Golfpartie das Akkusativobjekt und Herr Saito das Adverb? “Der nächste Sonntag sieht herrsaitomäßig erfreut eine Golfpartie adamjohnsonieren kommen.” Aristoteles würde staunen!

(S. 9)

Man kann erahnen, daß es für die Protagonistin nicht leicht wird, ihren Platz in der Firma zu finden. Ich habe mich beim Lesen allerdings dabei ertappt, daß mich der Fortgang der streckenweise höchst bizarren Story weit weniger gefangen nahm als die Erwartung des nächsten flapsig-ironischen Kommentars.

So wie zum Beispiel hier:

Ich hatte geglaubt, schon zu wissen, was ein Anpfiff ist. Was ich nun erlebte, bewies mir meine Ahnungslosigkeit. Über Herrn Tenshi und mich ergoß sich ein wahnsinniges, ohrenbetäubendes Gebrüll. Ich frage mich heute noch, was schlimmer war, der Inhalt oder die Form.
Der Inhalt waren die unglaublichsten Beleidigungen. Mein Leidensgefährte und ich wurden mit allen erdenklichen Schimpfworten belegt: Verräter waren wir, Nullen, Schlangen, Gauner und – der Gipfel der Schmach – Individualisten.
Die Form bot Erklärungen für vielerlei Besonderheiten der japanischen Geschichte: Um dies wütende Gebrüll zum Verstummen zu bringen, wäre ich zu allem bereit gewesen – die Mandschurei verheeren, Tausende von Chinesen zu massakrieren, mich auf Befehl des Kaiseres umzubringen, mich mit meinem Flugzeug in einen amerikanischen Panzerkreuzer hineinzustürzen, vielleicht sogar in zwei Firmen wie Yumimoto zu arbeiten.

(S. 37)

Und zum Abschluß noch eine höchst prägnante Szene, bei der ich mir von einer Landeskundigen habe erklären lassen, daß sie weit weniger surreal ist, als es dem europäischen Leser zunächst erscheint:

Ich folgte ihm in ein leeres Zimmer. Er stotterte vor Wut:
– Sie haben die Delegation der befreundeten Firma zutiefst verstimmt. Beim Servieren des Kaffees haben Sie Formeln gebraucht, die verrieten, daß Sie perfekt japanisch sprechen.
– Aber ich spreche es nun mal gar nicht so schlecht, Saito-san.
– Seien Sie still! Wer gibt Ihnen das Recht, sich auch noch zu verteidigen? Herr Omochi ist sehr böse auf Sie. Sie haben in seiner Sitzung heute vormittag die Athmosphäre vergiftet: Wie sollten unsere Partner sich gut aufgehoben fühlen, wenn eine Weiße da ist, die Ihre Sprache versteht? Von jetzt an sprechen Sie nicht mehr japanisch.
Ich machte große Augen.
– Wie bitte?
– Sie verstehen kein Japanisch mehr! Ist das klar?
– Aber wegen meiner Kenntnis Ihrer Sprache hat Yumimoto mich doch eingestellt!
– Ist mir egal. Ich befehle Ihnen, kein Japanisch mehr zu verstehen.
– Das ist unmöglich. Niemand könnte einem solchen Befehl gehorchen.
– Gehorchen kann man immer. Das muß doch auch in westliche Gehirne noch hineingehen.
“Da haben wir´s!” dachte ich, bevor ich antwortete:
– Das japanische Gehirn mag imstande sein, sich zum Vergessen einer Sprache zu zwingen. Das westliche Gehirn leistet das nicht.
Dieses extravagante Argument schien Herrn Saito einzuleuchten.
– Versuchen Sie es trotzdem! Tun Sie wenigstens so! Ich habe in bezug auf Sie Anweisungen erhalten. Wir sind uns also einig?

(S. 17)

Allerdings ist die Sache nicht ganz so einfach. Ein simples “Die spinnen, die Japaner”-Buch wäre mir zu wenig. Der merkwürdigen Faszination, die dieses seltsame Land seit langer Zeit gerade für Europäer ausübt, läßt sich auch hier nachspüren. Es sind eben nicht alles einfach gefühllose Rassisten, die einer gaijin mal zeigen wollen, wo es langgeht. Nein, hinter all diesen Fassaden, hinter den Unterwerfungsritualen, dem merkwürdig erscheinenden Ehrbegriffen stecken immer auch Menschen. Menschen, die fühlen und glauben und leiden. Und diese Menschen läßt Amélie Nothomb hier aufscheinen und es bleibt durchaus die Frage, ob das alles so verrückt ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Ich wünsche jedenfalls einen vergnüglichen Sommernachmittag mit einer

lieferbaren Ausgabe.

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Seht und bestaunt die gar große Gauckeley. Eine Twitteriade.

Für gewöhnlich locken Fernsehübertragungen von der Bundesversammlung nicht für hohe Einschaltquoten. Dies dürfte gestern anders gewesen sein. Selten war das allgemeine Interesse an der Bundespräsidentenwahl so groß.
Nun, das Ergebnis ist bekannt, Christian Wulff wurde mit der absoluten Mehrheit der Stimmen der Bundesversammlung gewählt.
Geärgert habe ich mich den Abend über allerdings nicht über dieses erwartbare Ergebnis, sondern über die Scheinheiligkeit der Gauck-Nominierer von SPD und Grünen.
Als ob hinter der Nominierung Joachim Gaucks etwas anderes stünde als parteitaktische Überlegungen. Als ob es um nichts anderes ging als darum, Frau Merkel eins auszuwischen und die Linke zu blamieren.
Zugegeben, es war ein geschickter Schachzug. Und zugegeben, sie hatten den besseren Kandidaten. Wahrscheinlich.
Ob das Kalkül aufgeht, darf mithin bezweifelt werden. Wulff ist gewählt, in 3 Wochen redet niemand mehr von den drei Wahlgängen. Das ambivalente Verhältnis der LINKEn zu DDR und Staatssicherheit hat deren Wähler bisher nicht abgehalten. Ist mir schleierhaft, warum denen das auf einmal wichtiger sein sollte als Hartz IV und Afghanistan, den Populismus-Themen also, mit denen die Gysi-Lafo-Truppe bisher gepunktet hatte. Die LINKE ist also nicht, wie @tochter_des_bb kommentierte, “kleinlich und dumm”, sondern nur konsequent. Welchen Nutzen sollte es gehabt haben, für Gauck zu stimmen? Einen Kandidaten, der konservativ bis ins Mark ist und dessen Positionen in genau den Fragen, die wichtig für deren Wähler sind, diametrale Positionen vertritt? Der Nutzen, über einen “Schatten” zu springen? Um nicht mehr “SED” genannt zu werden? Die eigene Anhängerschaft vergrätzen, damit sich SPD und Grüne feiern lassen können? Kurz: Um Leute zu beeindrucken, die nie und nimmer sie wählen werden? Das wäre doch absurd.
Nein, das Verhalten, gerade von Leuten wie Gabriel, deutete doch eher darauf hin, daß sie gar nicht wollten, daß die LINKE für Gauck stimmt. Wer zu Gesprächen vor dem letzten Wahlgang geht und dabei sagt, er habe nichts zu verhandeln, will doch auch gar kein Ergebnis erreichen. Und wie gesagt: Die Bolschewisten-Karte hat bisher nicht gezogen – ich glaube nicht, daß sie in Zukunft ziehen wird.
Dies zum einen.
Zum anderen finde ich die Schizophrenie der Kommentatoren bemerkenswert. Da lesen wir also landauf, landab davon, daß die Wahl des Bundespräsidenten bitte schön unabhängig von Parteipolitik sein solle und da wird ein Kurt Biedenkopf bejubelt, weil er eine Entwicklung bejammert, die ihn in anderen Zusammenhängen nie gestört hat (also, nur mal zur Erinnerung, auch andere Parlamentarier, nicht nur die der Bundesversammlung, sind verfassungsgemäß einzig ihrem Gewissen verpflichtet – was König Kurt aber auch nie gehindert hat, auf Fraktionszwang zu pochen…) und etwas fordert, was völlig unstrittig ist. Was die Wahlmänner in der Kabine treiben, weiß niemand. Da gibt es überhaupt rein gar nichts freizugeben. Von welchen Überlegungen sie sich leiten lassen, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt. Das Problem liegt also weniger darin, daß hier irgendjemandem etwas vorgeschrieben wird, als vielmehr darin, wer da abstimmt.
Was aber passiert dann in der Berichterstattung, in den Kommentaren? Da wird von Klatschen für schwarz-gelb gesprochen, von der mangelnden Regierungsfähig- oder Wählbarkeit der LINKEN, von den Auswirkungen auf Frau Krafts Regierungsbildung – Hallo? Juhu? Ich dachte, es solle um die Personen und das Überparteiliche gehen? Und wieso wird eigentlich gerade die einzige Partei, die genau das geforderte tat, nämlich alle Machtoptionen links (oder rechts?) liegen zu lassen und einfach nur die Kandidaten zu bewerten (und eben beide schlecht zu finden) gedisst, als hätte sie gerade den Untergang wenn schon nicht des Abendlandes, so doch mindestens der Demokratie verursacht?
Merkt das wirklich niemand?
Kommt das niemandem seltsam vor?
Mekrt wirklich keiner, daß auch Gauck hier nur eine Figur im kleingeistigen Machtspiel eines Sigmar Gabriels ist, der ja auch nie etwas anderes gelernt hat?
Welche Aussage Gabriels, Trittins, Höhns – wessen auch immer – rechtfertigt die Annahme, es sei hier um höhere Ideale gegangen?
Und welcher Pressekommentar genau rechtfertigt die Annahme, daß die politischen Journalisten etwas anderes als ein Menetekel für schwarz-gelb oder die LINKE in der Bundesversammlung gesehen haben?
Also bitte, kommen wir doch alle mal wieder ein wenig herunter und nennen die Dinge beim Namen. Es ist doch bizarr, wie hier suggeriert wird, der Politikbetrieb nehme auf einmal Auszeit und die Abgeordneten würden urplötzlich in einem Seelendilemma stecken, das ihnen schier die Brust zerreiße.
Im Übrigen ist das ganze Theater zu viel der Ehre für Herrn Wulff. Denn wie @n303n völlig richtig anmerkt, ist der nun so schlimm auch nicht. Er wird das Land vielleicht nicht weiter bringen, aber schadet er denn? Ist er nicht eher das passende Symbol einer Gesellschaft, die mit sich und ihrem Status so weit zufrieden ist und kaum noch Sehnsüchte hat? Will denn dieses Land wirkloich noch vorwärts? Eine Gesellschaft, die Merkel und Westerwelle wählt, will die wirklich noch etwas erreichen? Ich habe da so meine Zweifel. Ist da ein Frühstücksdirektor nicht eher passend? Einer, der Omas sympathisch ist und ansonsten einfach mal nett aussieht? Man darf nie vergessen, daß die Union weit schlimmeres Personal hätte aufbieten können.
Ahja, ehe ichs vergesse. Was etwas untergeht in all dem Bashing der LINKEn, wie hier, hier oder hier: Das Wahlverhalten der 121 im letzten Wahlgang war völlig irrelevant, weil nämlich, wie übrigens durchaus auch von dem einen oder anderen geahnt, einige der Versammelten Angst vor ihrer eigenen Courage bekamen. Wulff ist also mitnichten durch die Hilfe der bösen Kommunisten gewählt, das haben die Tigerenten schon ganz alleine hinbekommen.
Kurz:
Was die SPD getan hat, ist an Armseligkeit kaum zu überbieten. Anstatt sich endlich einmal zur LINKEn (nebenbei: was für ein dämlicher Parteiname, der nichts weiter ausdrückt als eine Platzreservierung im Parlament, also sozusagen Art politisches Handtuch-auf-Sonnenliegen-Spiel) zu positionieren, ihr inhaltlich entgegenzugehen, spielen sie Schmuddelkinder-Karte, die vollkommen unglaubwürdig ist, da sie ja gleichzeitig ausgiebig mit ihnen spielen wollen. Und es ist besonders deshalb armselig, weil die SPD selbst diese Rolle einst einnahm und sich vielleicht ja der eine oder andere bei den Grünen daran noch erinnert, einst selbst so behandelt worden zu sein. Wenn man der einst stolzen Sozialdemokratie dann wenigstens noch glauben würde, daß sie hier und heute auf eine Machtoption verzichten würden, wäre die Angelegenheit ja noch erträglich. Allerdings befürchte ich ja, daß sie eher ihre Großmutter an den gefräßigen Plapperkäfer von Traal verkaufen würden als auf Ministerämter zu verzichten.

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NACHTRAG (14:40): Ich habe Verweise auf die Tagespresse absichtlich unterlassen. Die schreiben auch nichts anderes als die zitierten Twitterer. 😉