Mit der Geißel ist das so eine Sache, zumindest metaphorisch. Denn faktisch ist die recht einfach zu identifizieren, handelt es sich doch um eine Peitsche, die für fetzige Effekte mit Widerhaken versehen wurde.
Nicht so leicht zu fassen ist sie dagegen im übertragenen Sinne. Je nach kulturellem Kontext kann die Geißel ganz verschieden auftreten. Mal als alles dahinraffende Krankheit, mal als böse fremde Macht, die alles vernichten möchte.
Sehr beliebt sind natürlich auch menschliche Eigenschaften. Gier, Rachsucht, Neid – oder auch Verblendung.
Verblendung, also das Versinken in einer Weltsicht, die nur noch Absoluta kennt, einer Weltsicht, die kein Abwägen, kein Verständnis, kein Mitleid, keine Gnade mehr kennt. Verblendung in diesem Sinne macht ein Akzeptieren anderer Lebensweisen als der eigenen unmöglich und führt zu einer Isolation, die je nach Grad nur noch Gleichgesinnte oder gar sich selbst duldet.
Nichts aber ist gefährlicher für die geistige Gesundheit als Ignoranz anderen Ideen und Gedankengängen gegenüber. Was passiert, wenn man nur noch im eigenen Saft schmort, zeigte Eva Herman, die sich seit einiger Zeit redlich bemüht, ihre umstrittene Kündigung nachträglich zu rechtfertigen. In ihrem Kommentar auf der Homepage des Kopp-Verlages hat sie nur Stunden nach dem Ereignis bereits glasklar die Schuldigen ausgemacht. Die Hippies natürlich. Die unsere Kinder (“Die Kinder, die Kinder”) zu Drogenkonsum und hemmungslosem Kopulieren verführen und überhaupt die ganzen Sitten und Werte in den Dreck ziehen. Sodom und Gomorrha. Wir werden alle sterben. Süüünder, ihr seid alle Süüüünder. Das ganze Programm (sehr schön übrigens die Fassunglosigkeit des Daniel Schulz in der taz).
Mithin handele es sich nicht einfach um ein Unglück, für das ganz simple menschliche Fehler ursächlich sein könnten, sondern um ein göttliches Strafgericht für Sünder. Wir werden alle sterben.
Nun wäre dies alles keines Wortes wert, Menschen mit merkwürdigen Ansichten gibt es in erheblicher Anzahl und die erregen, sehr zu ihrem eigenen Leidwesen, wenig Aufmerksamkeit. Ich schriebe darüber auch nichts, hätte @formschub Recht.
Leider hat er das nicht. Dafür sind die Verkaufszahlen alleine von Frau Hermans medienverschwörungstheoretischem Werk viel zu hoch. Der Trick, heftige Einwände gegen geäußerte Meinungen als gelenkten Versuch zu deuten, “die Wahrheit” zu unterdrücken, darf da als symptomatisch für die Publikationen des Kopp-Verlages gelten, der mit dieser Masche regelmäßig in der Spiegel-Bestseller-Liste landet. Um meinen Blutdruck nicht unnötig zu belasten, sei die geneigte Leserschaft auf den Eintrag bei Esowatch verwiesen. Mir geht es um etwas anderes.
Natürlich ist offiziellen Mitteilungen zu mißtrauen. Natürlich ist es wichtig und richtig, Dinge zu hinterfragen. Es gibt wahrscheinlich eine ganze Menge an Seltsamkeiten, die aufgeklärt gehören. Das gilt aber eben nicht nur für “die da oben”, da gilt auch und gerade für Leute, die meinen, alles nun aber ganz genau zu wissen und vor allem deshalb nicht gehört zu werden, weil dunkle Mächte “die Wahrheit” unterdrücken.
Es könnte nämlich auch sein, daß sie nicht durchdringen, weil sie einfach Unsinn schreiben. Es könnte auch sein, daß es hilfreich ist, mal den eigenen Kopf einzuschalten. Es könnte sein, daß einem dann auffällt, daß die ach so sensationellen Enthüllungen nichts weiter sind als eine geschickte Zusammenstellung unbelegter Behauptungen, Auslassungen oder schlichter Unwahrheiten sind. Als einziges Beispiel sei hier nur einmal auf Herrn Niggemeier verwiesen, der die Methode Ulfkotte offenlegt.
Und wenn man in der ganzen Hysterie der Sensationen mal ganz kurz innehält, dann fällt einem vielleicht auch auf, daß da ein bißchen viel in kurzer Zeit publiziert wird. Aber freilich, Oberchecker brauchen keine Recherche, die wissen alles so. Wenn ich sehe, wie in zehntausenden von Exemplaren Bücher verkauft werden, die nichts weiter enthalten als wütende Angriffe, ganz ohne Rücksicht auf so etwas banales wie Fakten oder logisches Denken, frage ich mich: Wie kommt man dagegen an?
Wenn es wirklich erst einer Eva Herman, gegen deren Gottesverständnis auch einiges einzuwenden wäre (nebenbei, habe ich da etwas beim metaphysischen Konzept “Gott” falsch verstanden, wenn ich es merkwürdig finde, daß Menschen glauben, Gottes Wille zu kennen?), braucht, um mal nachzufragen, was eine nicht unerhebliche Anzahl Menschen da liest, steht es nicht gut um unsere Gesellschaft. Und das wird ja nicht besser, das Internet hat die Möglichkeiten der Selbstreferentialität erheblich erweitert. Es ist jederzeit möglich, sich mit einer unglaublichen Anzahl von Geichgesinnten zu umgeben. So bizarr das scheint, aber in einer Zeit, in der so viel Information wie wohl in keiner Zeit vorher verfügbar ist, ist es gleichzeitig vollumfänglich möglich, alles zu ignorieren, was der eigenen Wahrnehmung und Überzeugung entgegensteht. Die Geschäftsmodelle, die auf der Grundlage des (sozialen) Verhaltens im Netz entwickelt werden, deuten an, wohin die Reise gehen könnte. Schon heute kann man sich problemlos von einem Gefällt-mir, Gefällt-Dir – Konstrukt zum nächsten hangeln. Wer mir nicht gefällt, den blocke ich halt (meine Timeline auf Twitter zum Beispiel ist eine weitgehend geschlossene Blase). Passen wir hier nicht auf, kann es durchaus geschehen, daß demnächst ein jeder in seiner “Anderen, denen das gefiel, gefiel auch dieses”-Blase lebt. Kaum etwas aber ist wichtiger, als die Fähigkeit zu kritischem Denken, was vor allem meint: Andere Meinungen zuzulassen, anzuhören und abzuwägen – um dann die eigene Position zu hinterfragen. Die vielleicht wichtigste Lehre, die ich aus meinem Geschichtsstudium mitgenommen habe, ist diese:
Es könnte alles auch ganz anders gewesen sein.
Jegliche historische Erkenntnis ist immer vorläufig, ist immer Konstruktion. Sie kann auch gar nichts anderes sein, zumindest so lange, bis der Fluxkompensator Serienreife erlangt hat. Wir waren halt nicht dabei.
Sprich: Der eigene Irrtum ist nie auszuschließen.
Insofern mag auch ich mich irren und das ist alles gar nicht so schlimm. 3 Millionen tägliche BILD-Exemplare und Kopp-Bücher mit sechsstelligen Auflagen brauchen mir vielleicht gar keine Sorgen machen.
Trotzdem verweise ich auf das noch immer maßgebliche Buch zum Thema, in dem am Beispiel des durchaus unsäglichen Herrn Scholl-Latour die Mechanismen dieser sogenannten Experten ganz ausgezeichnet dargestellt werden.
Und der Hausheilige? Was hat der dazu zu sagen? Der spottet mal wieder:
Nach Lektüre aller Leitartikel aber zeigt uns dieser
Vorgang aufs neue:
die Vergänglichkeit der irdischen Werke;
die Größe Deutschlands;
die Wahrheit des christlichen Gedankens;
die Notwendigkeit der Beibehaltung der Simultan-Schule;
die Schurkerei des Bolschewismus
sowie
die Dringlichkeit des Baus einer neuen Eisenbahnbrücke im Kreise Oldenburg-Nord
(Nichtgewünschtes bitte zu durchstreichen!)
P. S. Wie wir soeben von unserm Spezialkorrespondenten erfahren, handelt es sich nicht um den Pont de l’Alma, sondern um die Tower Bridge; auch ist diese Brücke nicht in die Luft geflogen, sondern sie wird frisch gestrichen. Eine Änderung unsres grundsätzlichen Standpunktes kann dies natürlich nicht herbeiführen.
Ereignisse haben manchmal unrecht – die Zeitung hat es nie.
*
Zum Abschluß noch ein Hinweis. Im Gegensatz zu allem, was ich in journalistischen Publikationen gelesen habe, hat mich dieser Beitrag wirklich intensiv berührt. Und ich möchte den gar nicht weiter kommentieren, weil er ganz für sich allein steht und gültig bleibt.
aus: Der Pont de l´Alma fliegt in die Luft! in: Werke und Briefe: 1928, S. 364f. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 6044f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 6, S. 165f.)
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