Das Buch zum Sonntag (52)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Leichte Urlaubslektüre ist dieses Buch eher nicht. Gerade deshalb wäre aber vielleicht gerade ein Urlaub genau der richtige Zeitpunkt, um es zu lesen. Denn Littell hat hier einen sehr dichten Roman geschrieben, der in kleinen Portionen und nur zwischendurch kaum zu erfassen sein dürfte.
Ich möchte daher auch nur ein paar wenige Aspekte herausgreifen, die es mir Wert erscheinen lassen, dieses Werk zu lesen.
Erzählt werden die fiktiven Erinnerungen eines Fabrikbesitzers aus Frankreich, Dr. iur. Maximilian Aue, SS-Offizier, französisch-deutscher Herkunft, intellektuell, homosexuell und an nahezu allen entscheidenden Orten des Krieges im Osten dabei.

Blobels Argumente waren gar nicht so dumm: Wenn der höchste Wert das Volk ist, zu dem man gehört, und wenn der Wille dieses Volkes in seinem Führer verkörpert ist, dann, in der Tat, haben Führerworte Gesetzeskraft. Trotzdem war es von entscheidender Bedeutung, die Notwendigkeit der Führerbefehle für sich selbst zu verstehen und anzunehmen: Wenn man ihnen bloß aus preußischem Gehorsam, aus knechtischer Gesinnung folgte, ohne sie zu verstehen und zu akzeptieren, das heißt sich ihnen zu unterwerfen, war man lediglich ein Schaf, ein Sklave und kein Mensch.”

(S. 147)*

Hier schimmert kurz auf, was für mich einen der stärksten Punkte, die für dieses Buch sprechen, ausmacht: Littell unternimmt den Versuch, die Protagonisten der NS-Nomenklatura in ihrem Weltbild Ernst zu nehmen. Was könnten diese Menschen gedacht haben, wie sah es wohl in ihnen aus, wenn sie das alles wirklich geglaubt haben? Was, wenn sie wirklich und ernsthaft annahmen, im Recht zu sein? Das Richtige und Gute zu tun?
Und nur wenige Sätze nach dem obigen Zitat kommt das auch mehr oder weniger direkt zur Sprache, wenn Max Aue über die gefangenen und verhörten Offiziere der Roten Armee nachdenkt, von denen die offizielle Propaganda verlautbarte, daß sie Untermenschen seien:

[…] und ich konnte mich der Einsicht nicht verschließen, dass auch sie Menschen wie wir waren, Menschen, die nur das Beste wollten, die ihre Familie und ihr Vaterland liebten. Trotzdem hatten diese Kommissare und Offiziere den Tod von Millionen ihrer eigenen Landsleute verschuldet, sie hatten Kulaken deportiert, die ukrainische Landbevölkerung verhungern lassen, die Bourgeois und Abweichler unterdrückt und erschossen. Unter ihnen gab es natürlich Sadisten und Verrückte, aber auch gute Menschen, die aufrichtig das Beste für ihr Volk und die Arbeiterklasse wollten, und wenn sie irrten, so blieben sie doch guten Glaubens. […] auch bei unseren Feinden vermochte sich ein gute und ehrlicher Mensch davon zu überzeugen, dass er schreckliche Dinge tun müsse.

(S. 147f.)

Max Aue ist in meinen Augen ein höchst unwahrscheinlicher Charakter. Mir ist das alles ein bißchen sehr viel, was Littell da in ihn hineinlegt. Aber: Er ist eine intellektuelle Herausforderung, eine Aussage, die sich auf den ganzen Roman anwenden läßt. Selbst wenn man all die unzähligen Intertextualitäten nicht versteht, bleibt hier eine Herausforderung bestehen. In seiner scheinbaren Kälte, die doch eigentlich viel mehr Exaktheit ist, fordert das Buch den Lesenden heraus. Es ist kein Vergnügen, es macht an keiner Stelle Spaß, diesen Roman zu lesen, aber es war mir gleichzeitig unmöglich, mich ihm zu entziehen. Indem Littell hier sehr glaubwürdig aufzeigt, wie die Elite des NS-Staates gedacht und gehandelt haben könnte, welche Grundlagen das Handeln und Denken dieser ja keineswegs einfach nur tumben, gewaltsüchtigen Gestalten (die es auch gab und die er hier auch nicht ausklammert) hatte, wirft er der heutigen Erinnerungskultur, die ja in Wirklichkeit eine Verdrängungskultur ist, den Fehdehandschuh hin.
Wie auch immer man sich also zu diesem Werk positioniert, ich halte es für wichtig, es zu lesen, denn es ist ein starkes Buch. Befremdend, vielleicht. Herausfordernd, bestimmt. Schön, auf keinen Fall. Notwendig, unbedingt.

Und um den Fehdehandschuh auch der geneigten Leserschaft hinzuwerfen, sei noch folgender Dialog zitiert, der mitten in der Schilderung des Vormarsches der deutschen Truppen samt der Maßnahmen zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung auftaucht:

“Pjatigorsk gefällt Ihnen also?”, fragte mich Voss. Ich lächelte, ich freute mich, ihn hier anzutreffen. “Ich habe noch nicht viel gesehen”, sagte ich. “Wenn Sie Lermontow mögen, ist die Stadt eine echte Pilgerstätte. Die Sowjets haben in seinem Hause ein hübsches kleines Museum eingerichtet. Wenn Sie mal einen freien Nachmittag haben, gehen wir es besichtigen.” – “Gerne. Wissen Sie denn auch, wo das Duell stattgefunden hat?” – “Das von Petschorin oder das von Lermontow?” – “Das von Lermontow.” – “Hinter dem Maschuk. Da gibt es natürlich ein grässliches Denkmal. Und stellen Sie sich vor, wir haben sogar eien seiner Nachkommen ausfindig gemacht.” Ich lachte: “Nicht möglich.” – “Doch, doch. Eine Frau Jewgenija Akimowa Schan-Girej. Sie ist sehr alt. Der General hat ihr eine Pension ausgesetzt, geoßzügiger bemessen als die der Sowjets.”

(S. 352f.)

Lieferbar ist der Roman in

diesen Ausgaben.

*zitiert nach: Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Berlin Verlag, Berlin 2008.

P.S. Mit meinem Versuch, dieses der geneigten Leserschaft ans Herz zu legen, werde ich dem Roman mitnichten gerecht werden. Aber zum Glück gibt es Menschen, die das können. Frank Fischer hat im Umblätterer seinerzeit 10 Aspekte des Werkes untersucht. Da aber eine nicht zu unterschätzende Spoilergefahr besteht, sollte dieser Link erst nach erfolgter Lektüre benutzt werden.

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