Das Buch zum Sonntag (58)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Gaius Iulius Caesar: Der gallische Krieg

Die Eroberung Galliens durch die römischen Truppen unter Caesar ist ja hinlänglich bekannt. “Ganz Gallien ist von den Römern besetzt…” bis auf ein paar übermütige gallier, die den römischen Helden mit “Morgen, Julius!” begrüßen und im Übrigen Herakles für einen Milchmann halten.
Ehe allerdings die bekannten französischen Historiker Goscinny und Uderzo zu ihrer überzeugenden Darstellung der Ereignisse im Jahre 50 v.u.Z. gelangten, bedurfte es eines umfangreichen Quellenstudiums. Eine der spannendsten Quellen und ein auch außerhalb des unmittelbaren historischen Interesses unbedingt zu empfehlendes Werk sind die Commentarii de Bello Gallico des Prokonsuls Caesar.
Da es sich hier nicht um ein origenes literarisches Werk handelt, ein paar wenige Hintergrundinformationen, die helfen, die Großartigkeit dieser Schrift zu erkennen.
Caesar war für 5 Jahre als Statthalter* in Gallia Cisalpina (so in etwa das heutige Norditalien und ein Stück Istrien) und Gallia Narbonensis (das ist so ziemlich die heutige Provence) eingesetzt. Der Regst dessen, was im heutigen Gedächtnis als “Ganz Gallien” firmiert, war zu diesem Zeitpunkt (58 v.u.Z.) noch frei von römischer Herrschaft und buntes Stammesgebiet. Nun bestand die Hauptaufgabe von Statthaltern in Grenzprovinzen vorrangig im Schutz des Imperiums, den Caesar aber etwas weitgehend interpretierte. Er nutze die erstbeste Gelegenheit, um einem mit Rom befreundeten Gallierstamm zu Hilfe zu eilen, als dieser von einem anderen Stamm angegriffen wurde. Natürlich diente das ausschließlich dem Schutze Roms und nach erfolgreichem Zurückschlagen der Angreifer in ihr angestammtes Gebiet** blieb er dann gleich mal da. Nur zum Schutz natürlich. Eine Methode, die auch heutige Imperien noch gerne verwenden. Wenn sie einmal da sind, wird man sie nur schwer wieder los.
Caesar hatte allerdings in Rom nicht nur Freunde, was der Endpunkt seiner Biographie ja auch nahe legt, und war zudem verpflichtet, dem Senat daheim über seine Tätigkeit zu berichten. Aus diesen Berichten nun entstand das heute empfohlene Werk. Mit dem Wissen im Hintergrund, daß hier jemand sein keineswegs im Einklang mit geltendem Recht stehendes Verhalten zu rechtfetigen sucht, ließt sich das ganze noch einmal vergnüglicher.

Von all diesen sind die Belger die tapfersten, weil sie von der Verfeinerung und Kultur unserer Provinz am weitesten entfernt sind, nur ganz selten Kaufleute zu ihnen kommen und verweichlichende Waren einführen, auch weil sie nächste Nachbarn der Germanen rechts des Rheins sind, mit denen sie ständig Krieg führen. Aus diesem Grund sind auch die Helvetier tapferer als die übrigen Gallier, da sie fast täglich in Gefechte mit den Germanen verwickelt sind, indem sie diese von ihren Grenzen abwehren oder selbst in deren Land Krieg führen.

(S. 7)

Neben einer gelungenen Ohrfeige für die Senatoren daheim, deren Lebensführung ja noch weitaus verfeienerter und kultivierter ist als diejenige in der Provinz, zeichnet uns GI Caesar in wenigen Worten ein wahres Schreckensbild der Bewohner dieses barbarischen Galliens. Die Leute dort haben also nichts anderes zu tun, als sich permanent mit den schrecklichen germanen zu prügeln und die Helvetier gar noch fast täglich, ja noch schlimmer, die wagen es sogar, sie anzugreifen. Man hat den Schauder der gutmütigen Senatoren geradezu bildlich vor Augen. Diese Barbaren…
In den folgenden Kapiteln wird dieses Bild der kriegslüsternen und verräterischen Helvetier weiter gestrickt, der unaufmerksame Leser wird schnell den Eindruck gewinnen, bei ihnen handele es sich um pathologische Brandstifter, die nur darauf warteten, dem römischen Reich oder seinen Verbündeten zu schaden und überhaupt eine Gefahr für den Weltfrieden darstellen.
Was die Jungs aus den Schweizer Bergen tatsächlich wollten, war ein neues Siedlungsgebiet zu finden, wozu sie in Verhandlungen mit diversen gallischen Stämmen standen. Liest sich beim guten Caesar allerdings nur zwischen den Zeilen, was allerdings das intellektuelle Vergnügen beim Dechiffrieren erhöht.

Da sie allein die Sequaner nicht bereden konnten, schickten sie Gesandte an den Häduer Dumnorix, um durch seine Fürsprache von ihnen die Erlaubnis zu erhalten. Dumnorix besaß durch Beliebtheit und Freigebigkeit bei den Sequanern großen Einfluß und war auch ein Freund der Helvetier, weil er aus ihrem Stamm die Tochter des Orgetorix geheiratet hatte; und da er die Königswürde anstrebte, wünschte er einen Umsturz und wollte sich möglichst viele Stämme durch persönliche Gefälligkeit verpflichten. Er übernahm also den Auftrag, bestimmte die Sequaner, die Helvetier durch irh Gebiet ziehen zu lassen, und veranlaßte sie, Geiseln untereinander auszutauschen, die Squaner für ungehinderten Durchzug der Helvetier, die Helvetier für einen Marsch ohne Gewalt und Rechtsverletzung.

(S. 17)

Böse Ränke werden da also geschmiedet, hinterhältige Ehrgeizlinge bestechen fremde Stämme zur Erlangung persönlicher Vorteile. Und das alles vor den Augen Roms. Gruselig. Da kann es nur eine Reaktion geben:

Caesar erhält Nachricht, die Helvetier wollten durch das Land der Sequaner und Häduer ins Gebiet der Santoner ziehen, die in der Nachbarschaft von Tolosa wohnen, das schon zur Proviinz gehört. Damit war, wie er erkannte, die große Gefahr für die Provinz verbunden, kriegslustige Menschen und feinde des römischen Volkes in einer sehr fruchtbaren Gegend mit offenen Grenzen als Nachbarn zu bekommen. Er übergibt deshalb den Oberbefehl über die angelegte Befestigung dem Legaten Titus Labienus und eilt selbst in großen Tagesstrecken nach Oberitalien. Hier hebt er zwei Legionen aus, führt drei Legionen aus den Winterquartieren bei Aquileia und eilt mit diesen fünf Legionen auf kürzestem Weg über die Alpen ins jenseitige Gallien. In den Alpen besetzten die Keutronen, Graiokeler und Katurigen beherrschende Punkte und versuchten, dem Heer den Weg zu versperren. Caesar schlug sie in mehreren Gefechten und kam von Ocelum, dem letzten Ort der diesseitigen Provinz, nach sechs Tagen ins Gebiet der Vokontier im jenseitigen Gallien;

(S. 17)

Puh. Da hat Rom aber nochmal Glück gehabt, daß dieser Caesar da so schnell reagiert hat. Und bemerkt man die Hinterhältigkeit der gallier nicht auch daran, daß sie sich ihm in den Weg stellen wollten, als er zur Rettung Roms mal eben schnell durch ihr Gebiet musste? Ganz üble Burschen.
Beinahe hätten doch da die Gallier eine gallische Angelegenheit nach gallischer Sitte untereinander geregelt. Das geht ja mal gar nicht. Da blieb Caesar gar keine andere Wahl, hier waren klar römische Interessen in Gefahr, da musste man eben auch mal ein paar Verträge ignorieren, sonst würden die verräterischen und vertragsbrüchigen Helvetier ja ganz in der Nähe von Nachbarn wohnen.

Man darf davon ausgehen, daß nicht alle Senatoren auf Caesars Vernebelungstaktik hereinfielen, aber ich bin sicher, bei etlichen verfehlte seine Rhetorik ihre Wirkung nicht. Und mir jedenfalls ist es immer eine freude, wenn ich ihn erwische und mir denke: “Moment mal, da war doch aber…”)
Was im oben zitierten Beispiel auch recht deutlich wird, ist Caesars präziser, schnörkelloser Stil (übrigens: immer in der dritten Person – es handelt sich ja auch ganz klar um den sachlichen bericht eines Außenstehenden 😉 ). Der macht vor allem dann Spaß, wenn die Geschehnisse an Fahrt gewinnen, denn dann geht es auch im Text Schlag auf Schlag. Und Verhandlungen wirken zwar im Vergleich durchaus zäh, bleiben aber stets gut lesbar. Bemerkenswert finde ich auch seinen konsequenten Verzicht auf Umschreibungen oder Synonyme aus stilistischen gründen. Nö, wenn aufgebrochen wird, dann wird eben aufgebrochen. Da reist man nicht ab oder begibt sich woanders hin – nein, man bricht auf. Für Sprachästheten sicher grenzwertig, aber die können sich ja gerne Alternativen denken.
Was übrigens für Lateinschüler den Vorteil hat, daß die Hälfte des Textes schon mal übersetzt ist, wenn man einmal “proficisci” kapiert hat. 😉

In Sachen Selbstbeweihräucherung ist mir der Churchill zwar näher, aber auch hier handelt es sich um ein großartiges Werk der politischen Memoiren, einem Genre, in dem zugegebener Maßen recht heftig gedroschen werden muß, eh die Spreu sich vom Weizen trennen läßt.

Zum Schluß noch der Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

Für eine Einschätzung der besten Übersetzung sehe ich mich nicht in der Lage, dafür habe ich mein AltphilologieStudium etwas zu zeitig abgebrochen. Verwendet für die obigen Zitate habe ich die Tusculum-Ausgabe, die es glücklicherweise auch als Studienausgabe gibt:

C. Iulius Caesar: Der Gallische Krieg / De Bello Gallico. Lateinisch-deutsch. hrsg. und übersetzt von Otto Schönberger. Artemis & Winkler Düsseldorf / Zürich. 7. Auflage 2009. ISBN: 978-3-7608-1352-3


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*er erhielt außerdem noch Illyricum, aber der Balkan interessiert in diesem Zusammenhang nur peripher. 😉
**die Helvetier. Bekanntermaßen sind die seitdem dort auch nicht mehr rausgekommen.

Nebelwerfer. Eine Polemik.

Ich wollte ja eigentlich nicht. Dieses Mal, sagte ich mir immer wieder, dieses Mal gibst Du nicht auch noch Deinen Senf dazu.
Aber der innere Senfproduzent ließ sich von der angeordneten Kurzarbeit überhaupt nicht beeindrucken und da zu viel Senf im Bauch den Magenschleimhäuten schadet, muß ich nun doch.
Es wäre denn auch sehr einfach, die ganze GoogleStreetView-Geschichte als Sommerlochkasperade abzutun, einmal herzlich über die Leute zu lachen, die sich bei ihrem Protest gegen die Abbildung ihrer Häuser mit Famen und Haus in Presse und Fernsehen präsentieren oder den Kopf zu schütteln über den unfaßbaren Unsinn, der über den Dienst des beliebten Zwischennetzunternehmens verbreitet wird.
Könnte man. Und dann zur Tagesordnung übergehen.
Wenn es da nicht diesen GO-Antrag gäbe, der einen Punkt auf die Agenda bringt, den ich für gewichtig halte:

awillburger/status/21913178130

Betrachtet man die Aufregung um dieses Thema, die in keinerlei Verhältnis zur Sache stehen, und vor allem, wer sich da so ins Zeug legt, so flüstert der innere Wisnewski doch sofort: Da soll abgelenkt werden. Da wird vertuscht. Die planen doch eine ganz große Sache.
Es braucht freilich keines verschwörungstheoretischen Feingespürs, um die simple Ablenkungstaktik zu erkennen und so ist denn der oben zitierte Tweet auch nur einer unter unzähligen ähnlich gelagerten Äußerungen. Während ich aber für Frau Aigners heroischen Kampf gegen Windmühlen wenigstens noch eine verständliche Motivation ins Felde zu führen wüsste (was soll sie auch machen mit ihrem belächelten Ministerium, ihrer offensichtlichen Überforderung, die sich in sinnfreier Symbolpolitik – das angekündigte Löschen ihres Facebookaccounts wird Zuckerberg auf der eigenen Relevanzskala wohl irgendwo zwischen einem umgefallenen Sack Reis und einem zerstörten Blumenkübel einsortiert haben – manifestiert), ist mir die Motivation unseres offiziellen PolitikJournalismus völlig unbegreiflich.
Wieso steigt man denn darauf ein? Warum in alles in der Welt hält man es für wichtiger jede Äußerung irgendeines Menschen mit politischem Mandat nachzuplappern und zu verbreiten, anstatt mal ernsthaft Fragen zu stellen?
Wo ist denn die große mediale Kampagne zur Netzneutralität, wenn man denn schon über Google reden will? Tagelange Berichterstattung von Tagesschau bis Bild wäre hier doch viel eher angebracht.
Wo die erbosten Volksmassen, die sich doch sicher finden ließen, deutete man auch nur an, was im SWIFT-Abkommen eigentlich drin steht?
Wie wäre es denn gewesen, über die erstaunliche Zurückhaltung der Regierung in Sachen EU-Datenschutzrichtlinie zu berichten anstatt über eine Belanglosigkeit wie StreetView? Man stelle sich vor, jedes Mal, wenn Frau Aigner ihre Meinung dazu Kund getan hätte, wäre ihre Untätigkeit in dieser Sache thematisiert worden.
Stellt sich die Frage: Warum passiert das nicht? Wenn die Regierenden, aus nachvollziehbaren, wenn auch keineswegs ehrenwerten Gründen, Nebelkerzen wirft, wieso wird dann noch die Nebelmaschine angeworfen, wo es doch nötig wäre, ein Windgebläse aufzustellen?
Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, daß unser Haupstadtjournalismus inzwischen so sehr Hauptstadt geworden ist, daß ihm der Journalismus abhanden gekommen ist. Wieso setzt nicht die achso wichtige und gerühmte Vierte Gewalt die Themen, sondern läßt sie sich mundgerecht vorkauen?
Braucht es denn etwa der Äußerung einer Frau Aigner, damit ein Thema ein Thema wird? Habt ihr bei all den super-konspirativen Mittagessen mit Hinter- und Vorderbänklern vergessen, wer eure Zeitungen macht? Wißt ihr noch, was investigativ ist? Themenfindung? Recherche, anyone?
Wißt ihr noch, warum sich Zeitungen mal durchgesetzt haben? Weil sie Neues berichteten, analysierten und in Zusammenhänge stellten. Wär doch schön, wenn es so etwas wieder gäbe, ne?

Und die spannende Frage, die sich mir zum Abschluß stellt: Warum in alles in der Welt lassen wir das mit uns machen?

Schließen möchte ich mit einem Kommentar des Hausheiligen, Getroffene mögen bellen:

An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte . . .
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann . . .
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann . . .
Ja, dann verdienst dus nicht besser.

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8493f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 237-238)


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Von Sachsen und anderen Anhaltern

Der Tag fing schon nicht gut an. Zwar erfüllte der Wecker getreulich seine Pflicht, lag aber unglücklicher Weise in unmittelbarer Reichweite meiner Hand, so daß die teuflische Funktion “Snooze-Taste”, deren Erfinder von allen zum pünktlichen Aufstehen verpflichteten Zeitgenossen wohl schon hundertmal verflucht wurde, problemlos nutzbar war. Ich stand also eine Stunde später als geplant auf. Was den sorgfältig geplanten Zeitplan gehörig ins Schwanken brachte, aber kompensierbar war.
Weiterlesen “Von Sachsen und anderen Anhaltern”

Das Buch zum Sonntag (57)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Wladimir Kaminer: Russendisko

Bereits in den ersten Wochen dieser Buchempfehlungsreihe wurde aus der geneigten Leserschaft der Wunsch an mich herangetragen, auch einmal Literatur zu empfehlen, die nicht zu ergründen sucht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und da ich schon immer mal den Satz “Auf Wunsch einer einzelnen Dame” schreiben wollte, soll es heute also einmal nicht problemschwanger zugehen.
Auf Wunsch einer einzelnen Dame empfehle ich der geneigten Leserschaft heute eine Erzählungssammlung, auf deren Autor ich durch das wohlbekannte Morgenmagazin des öffentlich-rechtlichen Fernsehfunks aufmerksam wurde. Als er dort 2001 die Rubrik “Kaminer in Berlin” gestaltete und über das Berliner Leben aus seiner Sicht berichtete, überschritt er meine Interessensschwelle, die damals Bestellertiteln gegenüber noch weit höher lag als heute, da ich seinerzeit noch sehr intensiv die Hochnäsigkeit des sich für intellektuell haltenden Lesers pflegte, der also jegliche Literatur, die hohe Verkaufszahlen erreicht, zwangsläufig für minderwertig hält.
“Russendisko” ist das Debut dieses offenbar hyperaktiven Kunstschaffenden, denn in den letzten 10 Jahren sind nicht weniger als 14 weitere Bücher von ihm erschienen – neben diversen Kulturprojekten, die er, wie die titelgebende “Russendisko”, auch noch betreibt. Redundanzen sind dabei zwangsläufig, schließlich lautet sein Schaffensmotto: “Nie etwas ausdenken, sondern dem Leben vertrauen.” – und so bunt ein Leben auch sein mag, manchmal wiederholt sich dann doch die eine oder andere Geschichte. Was aber wiederum ja seinem Motto entspricht, was jeder, der schon einmal Großmutters Lebensgeschichten lauschte, bestätigen kann.
“Russendisko” empfehle ich aus diesem umfangreichen Oeuvre deshalb, weil hier der lakonische Stil Kaminers noch am ausgeprägtesten ist – und daher wunderbar mit den teilweise absurden Geschichten, die er erzählt, kontrastiert.
Im heute empfohlenen Werk erfahren wir viel über seine Ankunftszeit in Deutschland (1990) und die ersten Jahre hier, seine Kinder- und Jugendzeit in der Sowjetunion und seine bemerkenswerte Familie.
Auch wenn Christoph Links mit seinem Titel “Das wunderbare Jahr der Anarchie” etwas anderes meint, so scheint er mir doch treffend zu sein, für das, was sich in den Monaten vor dem Oktober 1990 abspielte.

Wir drei waren vom Leben im Heim nicht sonderlich begeistert und suchten eine Alternative. Der Prenzlauer Berg galt damals als Geheimtipp für alle Wohnungssuchenden, dort war der Zauber der Wende noch nicht vorbei. Die Einheimischen hauten in Scharen nach Westen ab, ihre Wohnungen waren frei, aber noch mit allen möglichen Sachen voll gestellt. Gleichzeitig kam eine wahre Gegenwelle aus dem Westen in die Gegend: Punks, Ausländer und Anhänger der Kirche der Heiligen Mutter, schräge Typen und Lebenskünstler aller Art. Sie besetzten die Wohnungen, warfen die zurückgelassene Modelleisenbahn auf den Müll, rissen die Tapeten ab und brachen die Wände durch. Die Kommunale Wohnungsverwaltung hatte keinen Überblick mehr. Wir drei liefen von einem haus zum anderen und schauten durch die Fenster. Andrej wurde glücklicher Besitzer einer Zweizimmerwohnung in der Stargarder Straße, mit Innentoilette und Duschkabine. Mischa fand in der Greifenhagener Straße eine leere Wohnung, zwar ohne Klo und Dusche, aber dafür mit einer RFT-Musikanlage und großen Boxen, was seinen Interessen auch viel mehr entsprach. Ich zog in die Lychener Straße. Herr Palast, dessen Name noch auf dem Türschild stand, hatte es sehr eilig gehabt. Nahezu alles hatte er zurückgelassen: sdaubere Bettwäsche, ein Thermometer am Fenster, einen kleinen Kühlschrank, sogar Zahnpasta lag noch in der Küche auf dem Tisch. Etwas zu spät möchte ich Herrn Palast für dies alles danken. Besonders dankbar bin ich ihm für den selbst gebauten Durchlauferhitzer, ein wahres Wunder der Technik.

(S. 28f.)*

Liest man Kaminer, so gewinnt man tatsächlich den Eindruck, daß bei aller Abgedroschenheit des dazu passenden Spruchs die literarische Verfremdung des eigenen Erlebens doch gelegentlich überbewertet wird. Er wirkt auf mich wie ein staunendes, höchst aufmerksames Kind, das mit großen Augen und gespitzten Ohren durch das das Leben geht und abends erzählt, was tagsüber so alles gesehen und gehört hat. So kommt denn eine Merkwürdigkeit zur nächsten. Dieses Buch ist voller bemerkenswerter Figuren und ihrer eigenartigen Lebensgeschichten. Kaminer begegnet erstmals in seinem Leben einem Franzosen, soll für einen Clubmanager eine “russische Liebesgelegenheit” organisieren und hilft einer Bekannten, einen Fluch loszuwerden. In diese Geschichte hören wir noch einmal kurz rein:

Wir fanden die Geschichte ziemlich komisch, denn seit Ewigkeiten hatte Marina die Kulturlosigkeit ihres Mannes bekämpft. Er saß immer nur zu Hause vor dem Fernseher und zeigte keinerlei Interesse am intellektuellen öffentlichen Leben. Und was passierte? Der Kerl gab irgendwann nach, ging ins Ballett und fiel prompt auf die erste Tänzerin herein, die er in seinem Leben gesehen hatte. Man hätte die Reaktion eines 45-jährigen Mannes, der vorher noch nie eine Ballerina aus der Nähe gesehen hatte, voraussehen können. Allerdings befand Marina, dass sie verhext sei, nämlich von der verstorben Mutter ihres ersten Mannes, und dass sie bestimmt sterben müsse, wenn es uns nicht gelänge, für sie in Berlin eine Hexe zu finden, die sie wieder fit machte.
Da ich mich auf dem Hexensektor überhaupt nicht auskannte, wandte ich mich an einen Freund, der in der Familie als ortskundig galt. Er schlug uns gleich zwei Hexen vor, die seiner Meinung nach dieser Aufgabe gewachsen seien: Eine chinesische und eine afrikanische.

(S. 68f.)

Diese unaufgeregte Erzählweise, die ganz darauf vertraut, daß die Absurdität menschlichen Verhaltens allein die Geschichten trägt, schafft eine ironische Distanz, die dem geneigten Lesenden ein andauerndes Schmunzeln auf die Lippen zaubert. Und ich zumindest bekam eine ungefähre Vorstellung, warum Berlin für viele derart anziehend ist und es schwer fällt, einmal dort angekommen, wieder wegzuziehen.
Trotzdem aber, auch wenn ich damit dem Wunsch der oben erwähnten Dame eventuell mal wieder zuwiderlaufe**, es steckt doch etwas mehr drin in so manchen Erzählungen. Man muß nur genau zuhören.
Es steht aber jedem frei, sie einfach als Erzählungen zu lesen, die ein Schlaglicht werfen auf das Leben in einer deutschen Großstadt. Und inwieweit man über das Leben nachdenken möchte, sei jedem selbst überlassen.

Ich wünsche jedenfalls viel Vergnügen mit einer der

lieferbaren Ausgaben.

P.S. Sehr viel Freude macht übrigens auch Kaminers titelgebende Veranstaltungsreihe “Russendisko” selbst. Mit seinem Gespür für Absurditäten stellt er höchst bemerkenswerte Erzeugnisse osteuropäischer Musik vor. In Leipzig zum Beispiel das nächste Mal am 2. Oktober. Wer Interesse hat, sollte nicht zu lange zögern, die Karten sind erfahrungsgemäß schnell weg.


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*zitiert nach: Kaminer, Wladimir: Russendisko. Manhattan im Wilhelm Goldmann Verlag. München 2002
**Deutschlehrer dieser Welt: Die CC-Lizenz läßt es unproblematisch zu, dieses Beispiel für die Gegenüberstellung der Verwendung von “wieder” und “wider” zu benutzen. Gern geschehen. Interessierte Schulbuchverlage dürfen sich gerne bei mir melden.

Erinnerung: Gachmuret feat. Der Hausheilige & Kollegen – live.

Wem es im März nicht vergönnt war, der Lesung aus Texten des Hausheiligen beizuwohnen oder wem es so gut gefallen hat, daß eine Wiederholung wünschenswert wäre, hat nun die Gelegenheit dazu, mir erneut zu lauschen.
Im Programm des diesjährigen Sachsen-Anhalt-Tages, der in diesem Jahr in Weißenfels stattfindet, gibt es den Programmpunkt “Stille Schätze”, mit dem ein Kontrapunkt zum Volksfesttrubel des übrigen Programms gesetzt werden soll.

Am 21. August zwischen 12 und 13 Uhr werde ich also im Novalis-Pavillon zu erleben sein.

Auf dem Programmzettel stehen neben dem Hausheiligen dieses Blogs bereits Alexander Sergejewitsch Puschkin, sowie die Weißenfelser Geistesgrößen Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, Joachim Wilhelm Freiherr von Brawe und Frank Fischer.

Für alle, die nicht ortskundig sind, hier eine Anfahrtsskizze.

Wir sehen uns dann nächste Woche. 😉

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Das Buch zum Sonntag (56)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Die Trennung von Geschichtsschreibung und Literatur ist recht jung. Ein Wolfram von Eschenbach hätte kaum Gehör gefunden, behauptete er die Fiktionalität seines “Parzival”. Denn selbstverständlich berichtete er von wahren Ereignissen. Die Mehrdeutigkeit des Wortes “Geschichte” ist ja kein Zufall. Genausowenig wie der zweite Literaturnobelpreis, der an einen deutschen Historiker (oder sollte ich schreiben: den deutschen Historiker? ;)) vergeben wurde.
Und so richtig und wichtig es ist, historiographische Werke auf belegbare Aussagen zu stützen, so bleibt doch festzuhalten, daß Geschichte keine exakte Wissenschaft ist – und es auch nicht sein kann. Alles, was wir zu wissen meinen, ist letztlich Interpretation. Es kann alles auch ganz anders gewesen sein.*
Das Bemühen um größtmögliche Exaktheit der Geschichtswissenschaft führte gerade im zwanzigsten Jahrhundert zu einer Verödung der Sprache und einer gerade unlesbar zu nennenden Fachsprache. Die mag sicher bei der Diskussion um die korrekte Bewertung der Einträge in den Sundzollbüchern notwendig und hilfreich sein, Geschichte aber will erzählt sein. Erst in der Erzählung nämlich entsteht ein gültiges, ein umfassendes Bild dessen, was war – oder zumindest gewesen sein könnte.
Oder, wie Golo Mann selbst in seinem “Plädoyer für die historische Erzählung” 1979 schrieb:

Keine Theorie gibt uns oder erklärt uns oder entschlüsselt uns die Fülle geschichtlicher Wirklichkeit; man bekommt sie niemals ganz in die Hand, sie ist unerschöpflich; darum muß man sie immer von verschiedenen Seiten angehen, um möglichst viele und weite Gegenden des unbekannten Kontinents zu erkunden.

Daß dies keine Absage an wissenschaftliches Arbeiten ist, dafür steht in meinen Augen Golo Mann.
Seine “Deutsche Geschichte”, erschienen 1958, entwirft, ausgehend von der französischen Revolution (das 19. Jahrhundert muß spätestens dort begonnen werden, denn keine Entwicklung der darauffolgenden Jahrzehnte ist ohne Bezug zur Revolution zu verstehen) bis zu den Tagen der Niederschrift, auf gut 1000 Seiten ein detailliertes und farbenprächtiges Panorama.
Hier mal ein Beispiel aus der Zeit der Paulskirche und dem Versuch einer ersten deutschen Republik:

Zu der Sorge, welche radikale Ausbrüche und Handstreiche bereiteten, kam eine andere, verwirrende: das Problem der fremden Nationalitäten.
Man hatte den Fünfzigerausschuß ergänzen, ihn repärsentativer für Deutschland machen wollen und darum auch einige Österreicher dazu gebeten, darunter den Prager Publizisten Professor Palacký. Die Voraussetzung war, daß Böhmen, wie von alters her, zu Deutschland gehörte. Palacký antwortete, er sei Tscheche und nicht Deutscher. Die Deutschen könnten ihre Republik machen, das sollte ihm willkommen sein; er aber als Tscheche habe damit nichts zu tun. Er sei übrigens nicht bloß Tscheche, sondern Österreicher; Österreich sei das Reich, das den kleinen west- und südslawischen Völkern einen gemeinsamen Schutz gewährte und durchaus nicht zerstört werden dürfte.

S. 205**

Der Nationalismus betrat die Bühne. Während also die liberale Versammlung der Nationalversammlung noch von einem mittelalterlichen, bunten Deutschland träumte, war man andernorts bereits mit ganz anderen Gedanken beschäftigt. Doch vielleicht war die Stelle oben noch nicht sehr geschickt ausgewählt, handelt es sich doch eher um indirekte Rede als eigene Formulierungen Manns.***
Versuchen wir also mal eine andere Stelle, einen Ausschnitt aus dem Portraits Bismarcks, in dem sich manifestiert, was sich die heutige Geschichtsschreibung kaum noch wagt. Der Mut zur Farbe:

Oft, besonders in jüngeren Jahren, äußerte er einen dreisten, fast humorisisch karikierten Standeshochmut, nannte alle bürgerlichen Politiker, die “links” von ihm standen, “Schneider” und höhnte, wenn er bei diplomatischen Diners neben einer Kaufmannsgattin zu sitzen kam. Wenn das übertrieben war, wenn er in seinem Auftreten den Reiter und Jäger, den Soldaten, den Herrn vom Lande bewußt spielte, so war er es auch wieder seiner wahren Natur nach. Bildung, Klugheit, Ehrgeiz, Weltläufigkeit, Geschäftsgewandtheit mag man mit dem Milieu der Mutter in Zusammenhang bringen. Was aber seinen Talenten wirkende Einheit gab, die untergründige Kraft, der Wille, die Roheit, deren er fähig war, die unersättliche Erwerbsgier, die sich nicht so sehr auf Geld wie auf Land und Wald richteten, sie waren bismarckischer Natur. Einen intellektuellen Bürger aus ihm machen, der sich als Baron maskierte, hieße das großartig-wirre Bild seines Charakters vereinfachen. Landkind war er wirklich, ein Liebhaber des Waldes und der Tiere; seine Grundansichten über Menschen und Gesellschaft blieben bis zuletzt von ländlich-patriachalischen Eindrücken seiner Jugend mitbestimmt.
Übrigens ist die Frage, was Bismarck von der väterlichen und was er von der mütterlichen Familie hatte, doch nur in unsicheren Grenzen sinnvoll. Sein Bruder Bernhard war ein durchschnittlicher Krautjunker. Der Genius kommt von nirgendwo.

(S. 318)

Da hat man doch jemanden vor Augen, nicht wahr? Das Portrait wird noch weitaus plastischer und differenzierter, der Effekt ist aber, denke ich, bereits ahnbar. In den folgenden Kapiteln, wenn dem geneigten Leser dieser Mensch in seinen öffentlichen Rollen und Handlungen entgegentritt, dann hat er ein Bild im Kopf, dann kann sich vor dem inneren Auge eine Geschichte abspielen, dann wird Geschichte erfahrbar. Was natürlich nicht heißt, daß die Analyse zu kurz kommt – auch wenn Mann den heutigen Ansprüchen der Struktur- und Sozialgeschichte nicht mehr genügen mag, er bewegte sich 1958 aber vollkommen auf der Höhe der Zeit. Es mag also sein, daß die aktuelle Debatte verschiedene Dinge anders sieht – aber im oben beschriebenen Sinne bleibt dieses Werk “wahr”.

Es ist uns im Laufe der Jahrzehnte des Geschichtsunterrichts gelungen, ein Fach, an dem ein geradezu natürliches Interesse seit Kindertagen besteht (wie es denn früher gewesen sei gehört zum Standardfragerepertoire Heranwachsender), derart zu veröden, daß daraus demonstratives Desinteresse geworden ist.
Als Antidot sei heute herzlichst Golo Mann in einer der

lieferbaren Ausgaben

empfohlen.

*Hierzu noch eine kleine Anektode. Ich war immer sehr stolz darauf, diesen Grundsatz formuliert zu haben, in der festen Überzeugung, es handele sich dabei um eine originäre Denkleistung meinerseits. Und dann war ich am 31.10.2009 in der Golo-Mann-Ausstellung im Lübecker Buddenbrookhaus und entdeckte dort groß und unübersehbar an einer Tafel ein nahezu wortgleiches Zitat Manns. Da ich gleichzeitig nicht behaupten kann, diesem Satz nie zuvor begegnet zu sein, auch wenn mir eine bewußte Erinnerung fehlt, erfüllte sich damit wohl ein anderes Diktum des geschätzten Historikers: “Wir alle sind, was wir gelesen.”

**zitiert nach: Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Fischer Taschenbuch Frankfurt/Main. limit. Sonderausgabe 1999

***widerstehen konnte ich trotzdem nicht, ich mag dieses “Die Deutschen könnten ihre Republik machen, das sollte ihm willkommen sein.” – das Kopfradio assoziiert da sofort Sostschenkos “Agitiert nur, agitiert nur


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Das Buch zum Sonntag (55)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Franz Schuh: Hilfe! Ein Versuch zur Güte

Franz Schuh, der in diesem Blog bereits empfohlen wurde, ist ein glänzender Essayist*. Was meine Aufgabe hier nicht eben leichter macht, denn beim Herangehen an die heutige Empfehlungsaufgabe las ich mich an jeder aufgeschlagenen Stelle sofort fest und folgte den Gedankengängen des Autors über viele Seiten, während derer er immer mal wieder vom Wege abging, links und rechts ein paar Blümen pflückte, einen pittoresken Strauß band, nur um ganz unvermittelt wieder auf dem Pfade des Grundgedankens aufzutauchen, ihm einige Schritte zu folgen, ehe eine verführerisch duftende Pflanze ihn wieder in Wiese, Wald oder Lichtung driften ließ. So, wie das im Essay auch sein sollen. Und als wahrer Könner seines Faches entläßt er den Lesenden denn auch aus keinem Text, ohne tatsächlich am Ausgangspunkt anzuknüpfen.
Im heute empfohlenen Band arbeitet sich Franz Schuh am vieldeutigen Begriff der Güte ab. Denn “gut” vermag nun so einiges sein.
So geht er beispielsweise der Frage nach, was denn von der medial aufwändig inszenierten Güte begüterter Gesellschaftsmitglieder zu halten sei:
Weiterlesen “Das Buch zum Sonntag (55)”

Sadako

Kriege fordern immer Opfer. Und diese sind keineswegs nur heroisch im edlen Zweikampfe für Gott, Kaiser und Vaterland gefallene Ritter.
Das sind so Märchen.
Und gerade das zwanzigste Jahrhundert hat dem Kriege die Mittel an die Hand gegeben, seine wahre Natur, seine ganze Fratze in größter Deutlichkeit zu offenbaren. Wer heute noch allen Ernstes behauptet, es handele sich beim Krieg um ein ehrenwertes Geschäft, lügt.
Es gäbe sehr viel aufwallendes zu diesem Thema zu sagen. Ich möchte mich heute aber nicht in Rage schreiben, sondern einfach eine Geschichte erzählen.
Es ist die Geschichte von Sadako Sasaki, einem jungen Mädchen, am 07. Januar 1943 in Hirsohima geboren und dort aufgewachsen. Ein junges, sportliches Mädchen, bei der im Alter von 12 Jahren Leukämie festgestellt wurde. Im Krankenhaus erinnerte sie sich einer alten japanischen Legende, nach der demjenigen ein Wunsch erfüllt wird, der 1000 Kraniche* faltet. Im festen Glauben daran, gesund zu werden, wenn sie es schaffte, eintausend Kraniche zu falten.
Oder nein, es gibt Berufenere, die Sadako Sasakis Geschichte erzählen können:

Familie Sasaki

Ich bin aufgewachsen mit der täglichen, bedrohlichen Angst vor der Atombombe. Keineswegs war ich mir in meiner Kindheit sicher, den nächsten Morgen zu erleben. Die Vorstellung, von einem Menschen bliebe nach Einsatz dieser Waffe nichts mehr als sein in den Stein gebrannter Schatten, prägte meine Kindheit. Ich weiß nicht, wie andere meiner Generation das erlebten oder wie es für später Geborene war – aber für mich war diese Angst real. Jeder Tag konnte der letzte sein. Jeden Tag konnte es geschehen, daß die kurz vorm Kollabieren stehenden imperialistischen Staaten unseren friedliebenden Staat überfallen. Und dabei selbstverständlich vor dem Einsatz furchtbarster Waffen nicht zurückschrecken würden.
Man mag da heute drüber lächeln, man mag das als Indoktrination eines pervertierten Staates abtun – das kann alles sein. Ich weiß nur nicht, ob es mir lieber wäre, es amüsant zu finden, wenn mit Atompilzen Kleidung beworben wird.**
Fakt ist aber, daß es noch immer tausende solcher Bomben gibt und daß wir alles andere als sicher sein können, daß morgen keine über unseren oder den Köpfen anderer explodieren wird.
Es gibt Schätzungen, nach denen unter Berücksichtigung der Spätfolgen 98% der Bevölkerung Hiroshimas an der Bombe gestorben sind. Nun sind solche Schätzungen immer mit Vorsicht zu genießen, da es nicht immer einfach ist, eine singuläre Ursache für zum Teil komplexe Todesursachen zu finden, aber eines hat uns “Little Boy” gelehrt: Selbst wer einen Bombenangriff überlebt, kann nicht sicher sein, überlebt zu haben, den Schrecken überstanden und verarbeiten zu können – so grausam der Verlust von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Frau, Kind, Freunden auch gewesen sein mochte – wer der Hölle von Coventry oder Dresden entkommen war, konnte doch sicher sein, sie hinter sich gelassen zu haben.
Die plötzlich erkrankte, fröhlich aufgewachsene, sportbegeisterte Sadako aber lehrt uns: Ihr könnt euch nie sicher sein. Die Bombe verfolgt euch euer ganzes Leben lang. Wer immer mit ihr in Berührung kam, wird keinen Tag sicher sein können, wird nie abschließen können. Für die Bewohner Hiroshimas fiel die Bombe jeden Tag aufs Neue.
Das vergangene Jahrhundert ist voller Grausamkeiten, voller unvorstellbaren Grauens. Es dürfte schwer fallen, ein allgemeingültiges Symbol dafür zu finden. Für mich ist es das kurze Leben dieses japanischen Mädchens, das nichts weiter getan hat, als auf der Welt zu sein und über deren Leben entschieden wurde, daß es weniger wert sei als das eines alliierten Soldaten.***

Man erzähle mir nicht, Krieg sei ein ehrenwertes Geschäft.

* Kraniche sind in Japan symbolträchtige Tiere. Sie stehen für langes Leben, Glück, die Seele. Origami-Kraniche sind also unverzichtbarer Bestandteil aller Zeremonien, die mit Lebensstationen verbunden sind. Im hier bereits empfohlenen “Roppongi” von Josef Winkler erscheint im Moment des Todes des fernen Vaters dem in Japan weilenden Autor ein weißer Kranich, der sich an einem nahen See niederläßt. Das trifft es ganz gut.
** Die Werbung war bei mir ein voller Erfolg. Ich habe seitdem nie wieder ein Geschäft dieser Marke betreten.
*** So beispielsweise Churchill in seinen Memoiren. Das dramatische an dieser Sache ist, daß es schwer fällt, dessen Gedankengang (Bombe-Schock-Kapitulation, ergo: keine weiteren eigenen Verluste) zurückzuweisen. Die Logik des Krieges ließ keine andere Bewertung zu. Genau das ist aber das Problem.