Das Buch zum Sonntag (59)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Joachim Wilhelm von Brawe: Brutus

Bühnenwerke gehören auf die Bühne. Nur wenige Menschen kämen auf die Idee, vor Besuch eines Lichtspielhauses sich zunächst einmal das Drehbuch zu besorgen und dieses intensiv zu lesen, zu interpretieren und überhaupt mal so richtig durchzuarbeiten. Nein, wenn überhaupt, dann findet solch tiefgehende Rezeption erst nach dem Filmbesuch statt, weil der Film entsprechend beeindruckte oder eben sonst ein weitergehendes Interesse verursachte.
Generationen von Schülern aber lesen Schillers “Kabale und Liebe” von vorne bis hinten, in verteilten Rollen, abschnittsweise und unter wohlmeinender Begleitung von Königs Erläuterungen (bitte ggf. durch die jeweils bevorzugte Interpretationshilfe ersetzen). Da wird also intensiv das Drama durchleuchtet und wenn die Schüler schon brav waren, dann dürfen sie das auf diese Weise bereits gedanklich sezierte Stück auch mal im Theater sehen. Woraufhin sich die Lehrenden wundern, daß bei den wenigsten sich Begeisterung einstellen mag. Was natürlich an der schlimmen Jugend liegt, die mal wieder kein Verständnis für wahre Kunst hat. Ich behaupte aber im Gegenzug: Würden die Schüler zu jeder gelesenen Szene ein Bild im Kopf haben, die Worte beim Lesen im Kopf verbinden können mit der Darstellung auf der Bühne – dann stellte sich ein ganz anderer Umgang mit dem Stück ein. Weil selbstverständlich der Eindruck ein ganz anderer ist. Kopf und Herz sind noch frei und empfänglich für die Schauspielkunst und noch nicht besetzt von germanistischen Interpretationsdiskursen. Was nebenbei gerade bei Schiller, der doch so auf die Empfänglichkeit des Zuschauers setzt, überaus tragisch ist. Aber gut, man kann vielleicht nicht von jedem erwarten, daß er die Interpretationen, die er predigt, vorher auch schon mal verstanden hat.

Insofern mag es die geneigte Leserschaft also verwundern, daß ich heute ein Drama zur Lektüre empfehle. Ich täte dies auch nicht, läge seine letzte Aufführung nicht bereits über 200 Jahre zurück und bestünde ernsthafte Aussicht, daß eine Wiederaufführung in naher Zukunft zu erwarten wäre. Vor die Wahl gestellt zwischen Lesen oder gar nicht erst zur Kenntnis nehmen, erstrahlt das Lesen natürlich mit wunderbarer Gloriole.
Von Joachim Wilhelm von Brawe gibt es zwei Dramen, den “Freygeist” und eben den “Brutus”. Während es der “Freygeist” in das Repertoire vieler deutscher Bühnen seiner Zeit schaffte, blieb vergleichbarer Ruhm seinem Zweitwerk verwehrt. Doch dazu später mehr.
Im “Brutus” erzählt Brawe die Geschichte eines Mannes, der sich als Rächer eines von einem übermächtigen Imperium unterdrückten Volkes sieht, sich zu diesem Behufe in eben jenes integriert, als Bürger Vertrauen gewinnt, um dann in einer entscheidenden Situation mit einer einzigen Aktion Rache zu üben, dabei sein eigenes Leben opfernd.
Nicht gerade das typische Setting des Aufklärungsdramas, nicht wahr? Und genau deshalb verdient es weit mehr Aufmerksamkeit als die, zugegebener Maßen steigende, Beachtung in literaturhistorischen Zirkeln.
Was Brawe hier in seiner Verquickung von Gründungsmythen, Sendungsbewußtsein und persönlichen Konflikten anstellt, ist höchst faszinierend. Die Guten und Wahrhaften, die strahlenden Helden sind hier überhaupt nicht mehr vorhanden. Ein jeder irrt, fehlt und richtet Unheil an. Er zeichnet das Bild einer sich im scheinbaren Abwehrkampf gegen zerstörerische Tendenzen selbst zerstörenden Welt, in der jeder meint, die einzige Wahrheit zu kennen und bereit ist, diese durchzusetzen.

[…]Versöhnst Du so
Den Zorn, den deine Weichlichkeit gereizt,
Vermeßner? sprichst du durch dieß freche Lob
Noch meinem Hasse Hohn? Ruft nicht das Blut,
Das in dir glüht, zur Rache dich? War es
In jenem Krieg´, als Roms unmenschlich Joch
Italien zum alten Muthe zwang,
Nicht Brutus Vater, der mein ganz Geschlecht
Vertilgte, weil es nicht der Römer Stolz
Vergötternd ehrte, weil ihm der Geist
Des freyen Samniums erwachte? – Tag
Des Grauns! Verhaßter Tag! als dieser Held,
Mein Vater, und um ihn ein blühend Chor
Ihm gleicher Söhne von dem stolzen Beil,
Das schon so oft vom Mord der Edelsten
Geraucht, ertödtet fielen, als mich selbst
Die glückliche Verachtung kaum erhielt,
Die meine Kindheit traf, als mich das Blut
Des Vaters überfloß, und Rache bat.
O Tag! Nein, dich vergeß ich nie – […]

(I/6, 231-249)*

Zum Zeitpunkt des Geschehens (wir befinden uns im Vorfeld der Schlacht bei Philippi) liegen diese Ereignisse nun schon knapp ein halbes Jahrhundert zurück, aber solche Kleinigkeiten hindern ja auch heute niemanden daran, sich Gründe für seinen überbordenden Haß zurechtzulegen.
Und auch heute noch finden sich Leute, die auf ihre superschlauen Pläne, mit denen sie die Offenheit und Toleranz einer Gesellschaft zu ihren Zwecken ausnutzen, furchtbar stolz sind (selten übrigens macht diese Formulierung derart Sinn):

[…]Erblick in mir
Der Römer größten Feind, den Samnier.
Ihr schläfertet zu niederträchtger Ruh
Und feigem Frieden zwar Italien,
Durch eure Tyranney empöret, ein;
Gehorsam trug ihr Joch die Erde: nur
Nicht ich; in mir nur lebte noch der Krieg,
Dem hofnungslos die Nationen feig´
Entsagten. Euch bekämpfte nur verdeckt
Mein Haß, da öffentlich stets wider ihn
Roms stolzer Genius den Sieg erstritt.
Mir war dieß stolze Bürgerrecht, das ihr
Mir gabt, zu eurem Fall ein günstger Weg.
Ich säete durch eifersüchtge Furcht
Zukünftgen Krieg in eurer Großen Herz.

(IV/7, 1270-1284)

In den Nachrufen auf den gerade einmal zwanzigjährig verstorbenen Dramatiker wurde das zeitige Ableben eines der größten Talente seiner Zeit betrauert. Und auch wenn ich nach dem “Brutus” geneigt bin, zu glauben, daß er es nicht leicht gehabt hätte. Denn ob das durch Tucholsky vermittelte Credo Jacobsohns, Erfolg sei Mißverständnis, auch für das 18. Jahrhundert gilt, vermag ich nicht zu beurteilen, auf jeden Fall aber gilt es für den Mißerfolg. Damals wie heute. Und nach allem, was ich bisher über die zeitgenössische Rezeption lesen konnte, deutet doch vieles darauf hin, daß Brawes Hang zum “genialisch-fundamentalistischen Rächer”** auf Dauer wenig Verständnis seines bürgerlichen Publikums erwarten durfte. Nach der Lektüre des “Brutus” jedenfalls bedauerte ich sein frühes Versterben durchaus auch aus egoistischen Motiven: Ich hätte gar zu gerne noch mehr von ihm gelesen – oder gar gesehen.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Nachwort der 2007er Ausgabe des “Brutus”:

Lessing´scher Humor oder eine ähnliche Brechung sucht man in den Stücken Brawes vergebens, denn er ist in der Umsetzung seiner thematischen Obsession radikal. Wo gerächt wird, gibt es nichts zu lachen.

(S.87)

Und natürlich für die kaufwilligen Lesenden auch einen Verweis auf die

lieferbare Ausgabe.


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*zitiert nach: Brawe, J.W.v.: Brutus. Ille & Riemer. Leipzig/Weißenfels 2007
**Frank Fischer

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