Das Buch zum Sonntag (70)

Prolog: Wie die ganz wunderbare @missmarple76 formulierte, war bei mir heute „Intra-familiärer Kleinstbackwerkerzeugungssonntag“. Zudem hatte die Traumtochter™ einen nachmittäglichen Chor-Auftritt und sich der Faszination eines Weihnachtsmarktes im Dunkeln zu entziehen, kann von Kindern im präpubertären Alter schlicht nicht verlangt werden. Gestern Abend war ich viel zu müde (Stichworte: Buch = wunderbares und wertiges WeihnachtsGeschenk >> Buchhandel >> Adventssamstag). So viel dazu. Nun zur Sache.

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft:

Victor Klemperer: LTI

Bedenkt man, daß schon Humboldt meinte, mit dem Erlernen einer neuen Sprache lerne man eine ganze Kultur, ist es sehr erstaunlich, wie lange es bis zum liguistic turn dauerte. Das hat zwar nichts mit dem heutigen Buch zu tun, aber ich wollte das schon immer mal sagen und ehe ich jetzt noch anderthalb Jahre auf einen günstigen Moment warte, bringe ich das lieber mal heute an.
Wobei es in einem Punkt dann doch etwas mit Klemperers „Notizbuch eines Philologen“ zu tun hat: Dem genauen Blick auf die Sprache, um zu verstehen, was geschieht.
Klemperer schaut sehr genau hin. Welche Wrter, welche Wendungen offiziell und alltäglich verwendet werden, wie sich der Gebauch und der Wortschatz ändert und kommt dabei zu sehr aufschlußreichen Beobachtungen.

Was nach außen das Gesicht eines unschuldigen Friedensspiels zur Erhaltung der Volksgesundheit zu wahren hat, muß tatsächlich eine Vorbereitung zum Kriege sein und auch im Bewußtsein des Volkes als etwas derart Ernstes geschätzt werden. Es gibt jetzt eine Hochschule für Sport, ein Sportaakademiker ist jedem anderen Akademiker mindestens gleichgestellt – in den Augen des Führers ihm sicherlich überlegen. Die Aktualität dieser Wertschätzung dokumentiert sich um die Mitte der dreißiger Jahre in der Benennung von Zigaretten und Zigarillos und wird durch sie gefördert: man raucht „Sportstudent“ und „Wehrsport“ und „Sportbanner“ und „Sportnixe“.

(S. 295)*

Es fällt mir schwer, bei Klemperer nur kurz zu zitieren. Zu stringent sind seine Ausführungen, zu sehr widerstrebt es, etwas davon wegzulassen. Seine Überlegungen sind sehr scharfsinnig, sehr genau und mit einer bemerkenswerten Distanz geschrieben, die mich bei der Erstlektüre durchaus überraschte. Denn Klemperer hätte nun wahrlich jeden Grund wohl auch jedes Recht gehabt, ein wütendes Pamphlet zu schreiben. Dies ist vielleicht eine der größten Stärken dieses Buches, daß es keineswegs unbewegt oder unberührt aus sicherer Entfernung entstand, sondern auf unmittelbarem Erleben, auf tätiger und täglicher Beobachtung beruht. Und doch ist, bei aller akademischen Faszination, derer sich der Philologe keineswegs entziehen kann (die wahrscheinlich sogar notwendig ist, um überhaupt so genau beobachten zu können, es bedarf dafür ja einer gewissen Sensibilität für Worte, Sprache und deren Gebrauch) und die eine merkwürdige Ambivalenz erzeugt, der Impuls, der ihn bewog, dieses Buch zu veröffentlichen, ist immer sichtbar:

Wie viele Begriffe und Gefühle hat sie geschändet und vergiftet! Am sogenannten Abendgymnasium der Dresdner Volkshochschule und in den Diskussionen, die der Kulturbund mit der Freien Deutschen Jugend veranstaltete, ist mir oft und oft aufgefallen, wie die jungen Leute in aller Unschuld und bei aufrichtigem Bemühen, die Lücken und Irrtümer ihrer vernachlässigten Bildung auszufüllen, am Gedankengut des Nazismus festhalten. Sie wissen es gar nicht; der beibehaltene Sprachgebrauch der abgelaufenen Epoche verwirrt und verführt sie.

(S. 10)

Es geht um die Demaskierung der Sprache, um das Dahinterschauen, das Nachdenken darüber, welche Denkweise hinter einem bestimmten Sprachgebrauch steckt. Denn Worte werden nie zufälli8g gewählt. Sie sind immer Ausdruck einer Weltsicht. Und wenn denn Klemperer einmal der Furor packt, dann beim plumpen Heroismus, den er als ganz wesentliches Merkmal nazistischer Denkweise sieht.

Ich nenne derartiges einen komischen Rückfall; denn da der Nationalsozialismus auf Fanatismus gegründet ist und mit allen Mitteln die Erziehung zum Fanatismus betreibt, so ist fanatisch während der gesamten Ära des Dritten Reiches ein superlativisch anerkennendes Beiwort gewesen. Es bedeutet die Übersteigerung der Begriffe tapfer, hingebungsvoll, beharrlich, genauer: eine glorios verschmelzende Gesamtaussage all dieser Tugenden, und selbst der leiseste pejorative Nebensinn fiel im üblichen LTI-Gebrauch des Wortes fort. An Festtagen, an Hitlers Geburtstag etwa oder am Tag der Machtübernahme, gab es keinen zeitungsartikel, keinen Glückwunsch, keinen Aufruf an irgendeinen Truppenteil oder irgendeine Organisation, die nicht ein „fanatisches Gelöbnis“ oder „fanatisches Bekenntnis“ enthielten, die nicht den „fanatischen Glauben“ an die ewige Dauer des Hitlerreiches bezeugten.

(S. 80f.)

Was man nun so Furor nennen kann. Diese Stelle kam nicht zuletzt deshalb in die Auswahl, weil sie zeigt, wie ungemein gut lesbar Klemperer ist. Es ist ja manches Mal erstaunlich, wie schlecht manche Philologen mit der Sprache umzugehen vermögen. Dieser hier kann es ganz hervorragend. Ich bin davon überzeugt, daß dieser schmale Band n Regalmeter historischer Literatur zu ersetzen vermag. Weniger, weil die Historiker unnütze Arbeit verrichten, ganz im Gegenteil, mögen sie nur alles, so exakt wie es ihnen ihre Wissenschaft erlaubt, erforschen, prüfen und nachweisen. Wer aber verstehen will, wie und warum im Dritten Reich gedacht wurde, der möge Klemperer lesen.
Wer das nicht möchte, möge bitte trotzdem Klemperer lesen. Denn eines kann LTI auf jeden Fall ganz hervorragend vermitteln: Sensibilität für den Gebrauch von Sprache. Sensibilität dafür, was wir alltäglich so hören, hin- und übernehmen. Welche Schlagworte wir uns von wem vorkauen lassen. Wie wir gesellschaftliche Gruppen bezeichnen. LTI ist über seinen ursprünglichen und unmittelbaren Aufklärungszweck hinaus vor allen Dingen ein Plädoyer dafür, selbst zu denken. Und zwar mit aller Konsequenz. Das macht das Leben sicher nicht einfacher, aber es hilft, sich die Sicht auf die Welt nicht verkleistern zu lassen und so in eine (Denk-)Richtung zu geraten, in die man gar nicht wollte.
Kaum etwas könnte in diesen hysterischen Zeiten wichtiger sein als das Nachprüfen dessen, was da eigentlich wie und von wem erzählt wird.

Beim Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben

sei erwähnt, daß diese hier die wohl künftig maßgebende, weil korrigierte und verbesserte Edition ist.


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*zitiert nach: Klemperer: LTI. Reclam Leipzig. 16. Auflage 1996

Sagt mal, geht’s noch?

Bizarr.
Was sich in diesem Lande gerade abspielt, ist einfach nur bizarr.
Wenn Terror eine Idee hat, dann die, dasjenige System zu destabilisieren, gegen den er sich richtet. Das ist immer dann ein probates Mittel, wenn man sich in einer unterlegenen Position sieht. Und nicht selten führt das auch zum Erfolg, denn der große Vorteil an dieser taktik ist die eigene Unsichtbarkeit. Man bildet einen Gegner, der nicht zu fassen ist, der immer und überall auftauchen kann und genauso schnell wieder verschwindet (auf Selbstmordattentäter zu setzen ist dabei übrigens ein bemerkenswerter Schachzug, denn es entfällt dabei die Notwendigkeit, über Fluchtwege, das Unbemerktbleiben nach der Tat nachzudenken, was die Planungen unglaublich vereinfacht und völlig neue Optionen eröffnet). Ein zu fassender, damit letztlich nicht zu definierender Gegner aber ist extrem gefährlich. Wer immer sich mit Militärgeschichte befaßt hat, weiß, daß Unberechenbarkeit ein kaum zu bemessender strategischer Vorteil ist. Freischärler aller Zeiten arbeiteten da nach demselben Prinzip. Und das sollte man sich erst einmal vergegenwärtigen, denn ich glaube, daß es zum Verständnis unbedingt notwendig ist, sich dieser Traditionslinien bewußt zu sein. Dann nämlich erst kann es gelingen, zu verstehen, was die Leute antreiben könnte.
Ich bin sicher, sehr viele in der geneigten Leserschaft kennen dieses Bild aus dem Schulunterricht:

Goya

Weiterlesen „Sagt mal, geht’s noch?“

Das Buch zum Sonntag (69)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte

Tucholsky gilt gemeinhin, und das nicht zu Unrecht, als Meister der kleinen Form. Merkwürdigerweise hat das hierzulande, wo man eine geradezu kultische Verehrung für den Roman hegt, tatsächlich einen pejorativen Anklang. Zumindest die Hochkritik akzeptiert einen Schriftsteller ja erst, wenn er endlich einen von ihr akzeptierten Roman vorlegt (hier sei exemplarisch an das seinerzeitige sehnsuchtsvolle Warten des Feuilletons auf den „großen Roman“ von Judith Hermann erinnert, nachdem man ihre Erzählungen himmelhoch lobte – und dabei offenbar die Möglichkeit, daß dies genau das zu ihr und ihrem Erzählstill passende Genre sein könnte, nicht ernsthaft in Betracht zog). Mir erscheint das etwas mekrwürdig, aber in einer eigenartigen Interaktion zwischen meinungsbildenden Kritikern, verlegerischen Verkaufserwartungen und Konsumentenverhalten entstand nun die Merkwürdigkeit, daß auf nahezu jedem erzählerischen Werk „Roman“ steht – völlig unabhängig davon, ob das nun zutrifft oder nicht.
Ich bin kein Literaturwissenschaftler, ob Schloß Gripsholm also zu Recht als Roman firmiert oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen (ich sage mal: Nö.) Es ist aber zumindest der längste zusammenhängende Text, den Tucholsky publizierte. Und ist für mich auch eher eine Sammlung exzellenter, wunderbarer Miniaturen, die durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten werden, als ein Roman.
Es geht schon ganz wunderbar los mit einem (fiktiven) Briefwechsel zwischen Rowohlt und Tucholsky, aus dem ich nur eine kleine Stelle zitieren möchte, nicht zuletzt, weil ich sie selbst immer wieder gerne verwende:

Die Leute wollen neben der Politik und dem Aktuellen etwas haben, was sie ihrer Freundin schenken können. Sie glauben gar nicht, wie das fehlt. Ich denke an eine kleine Geschichte, nicht zu umfangreich, etwa 15-16 Bogen, zart im Gefühl, kartoniert, leicht ironisch und mit einem bunten Umschlag.

(S. 150)*

So denken Verleger. 😉
Was nun folgt, ist eine kleine Geschichte, nicht zu umfangreich, zart im Gefühl, leicht ironisch – und nicht selten tatsächlich kartoniert mit buntem Umschlag. Der Lesende darf teilhaben an den Urlaubsabenteuern des Erzählers mit seiner Freundin Lydia, die einen mehrwöchigen Urlaub in Schweden verbringen.
Lydia („die Prinzessin“) gehört nun zu meinen liebsten literarischen Frauenfiguren. Stets gradeaus und vorneweg, forsch, aber nicht gefühllos, bestimmend, aber irgendwie auch zum Knuddeln.

„Frau Kremser hat gesagt“, begann Lydia, „ich soll mir meinen Pelz mitnehmen und viele warme Mäntel – denn in Schweden gibt es überhaupt keinen Sommer, hat Frau Kremser gesagt. Da wäre immer Winter. Ische woll nich möchlich!“ Frau Kremser war die Haushälterin der Prinzessin, Stubenmädchen, Reinmachefrau und Großsiegelbewahrerin. Gegen mich hatte sie noch immer, nach so langer Zeit, ein leise schnüffelndes Mißtrauen – die Frau hatte einen guten Instinkt. „Sag mal … ist es wirklich so kalt da oben?“
„Es ist doch merkwürdig“, sagte ich. „Wenn die Leute in Deutschland an Schweden denken, dann denken sie: Schwedenpunsch, furchtbar kalt, Ivar Kreuger, Zündhölzer, furchtbar kalt, blonde Frauen und furchtbar kalt. So kalt ist es gar nicht.“ – „Also wie kalt ist es denn?“ – „Alle Frauen sind pedantisch“, sagte ich. „Außer dir!“ sagte Lydia. – „Ich bin keine Frau.“ – „Aber pedantisch!“ – „Erlaube mal“, sagte ich, „hier liegt ein logischer Fehler vor. Es ist genauestens zu unterscheiden, ob pro primo …“
„Gib mal ´n Kuß auf Lydia!“ sagte die Dame. Ich tat es, und der Chauffeur nuckelte leicht mit dem Kopf, denn seine Scheibe vorn spiegelte. Und dann hielt das Auto da, wo alle bessern Geschichten anfangen: am Bahnhof.

(S. 153)

Die Sommergeschichte plätschert sodann vor sich hin. Die beiden betreiben allerlei Blödsinn, vergnügen sich nach Verliebtenart und es kommt auch durchaus zu dramatischen Entwicklungen, die zu einer guten Tat anregen. Das alles wird aber immer wieder unterbrochen von scharfsinigen Beobachtungen und melancholisch anmutenden Betrachtungen über die Welt, die Liebe und die Freundschaft.

Sich auf jemanden verlassen können! Einmal mit jemand zusammen sein, der einen nicht mißtrauisch von der Seite ansieht, wenn irgend ein Wort fällt, das vielleicht die als Berufsinteressen verkleidete Eitelkeit verletzen könnte, einer, der nicht jede Minute bereit ist, das Visier herunterzulassen und anzutreten auf Tod und Leben … ach, darauf treten die Leute gar nicht an – sie zanken sich schon um eine Mark fünfzig … um einen alten Hut … um Klatsch … Zwei Männer kenne ich auf der Welt; wenn ich bei denen nachts anklopfte und sagte: Herrschaften, so und so … ich muß nach Amerika – was nun? Sie würden mir helfen. Zwei – einer davon war Karlchen. Freundschaft, das ist wie Heimat. Darüber wurde nie gesprochen, und leichte Anwandlungen von Gefühl wurden, wenn nicht ernste Nachtgespräche stattfanden, in einem kalten Guß bunter Schimpfwörter erstickt. Es war sehr schön.

(S. 197f.)

Für diejenigen in der geneigten Leserschaft, die für die Entwicklung eines Autors ein Faible haben, sei empfohlen, Rheinsberg und anschließend Schloß Gripsholm zu lesen. Wo der 22jährige noch ein wahrhaft unbeschwertes (Rheinsberg ist vielleicht der einzige Prosatext Tucholskys, den ich als rundherum „unbeschwert“ bezeichnen würde) Bild eines verliebten jungen Paares zeichnet und sich diese naive Verliebtheit auch im Sprachstil ausdrückt, kann man in Schloß Gripsholm einen Autor genießen, der gereift ist, der auch ein wenig desillusioniert ist, der vor allem aber über eine breite Palette an sprachlichen Möglichkeiten verfügt. Und: Der einen untrüglichen, scharfen Blick besitzt. Wer dem Protagonisten folgt, wird einen Menschen erkennen, der doch bei allem Theater, das er um seine Person veranstaltet, sich doch nur wünscht, aus seiner Einsamkeit gelöst zu werden. Inwieweit nicht nur für Peter Panter, sondern auch für dessen Schöpfer gilt, mögen die Biographen beurteilen.
Ich möchte noch schließen mit einer versteckten Liebeserklärung ans Norddeutsche, an die ich immer wieder denken muß, wenn ich hier unten im Süden Menschen von „da oben“ begegne – und die einer der Gründe ist, warum ich durch Lübeck immer mit einem versonnnen Lächeln laufe:

Da stand sie schon mit den Koffern vor ihrem Haus – „Hallo!“ „Du bischa all do?“ sagte die Prinzessin – zur grenzenlosen Verwunderung des Taxichauffeurs, der dieses für ostchinesisch hielt. Es war aber missingsch.
Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein geliebtes Platt zurück. Lydia stammte aus Rostock, und sie beherrschte dieses Idiom in der Vollendung. Es ist kein bäurisches Platt – es ist viel feiner. Das Hochdeutsch darin nimmt sich aus wie Hohn und Karikatur; es ist, wie wenn ein Bauer in Frack und Zylinder aufs Feld ginge und so ackerte. Der Zylinder ischa en finen statschen haut, över wen dor nich mit grot worn is, denn rutscht hei ümmer werrer aff, dat deit he … Und dann ist da im Platt der ganze Humor dieser Norddeutschen; ihr gutmütiger Spott, wenn es einer gar zu toll teibt, ihr fest zupackender Spaß, wenn sie falschen Glanz wittern, und sie wittern ihn, unfehlbar …

(S. 152)

Gerade beim Hausheiligen kann ich natürlich unmöglich den Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben

auslassen.


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*zitiert nach: Tucholsky, Kurt: Texte 1931 (=Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Band 14), Rowohlt. Reinbek 1998

Zirkus Sarrazini

Es ist ja alles nicht so einfach. Die Kollegen und Kolleginnen in der geneigten Leserschaft werden mir stoßseufzend zustimmen (übrigens gibt es für Stoßseufzer auch kaum einen besseren Tag als den heutigen): Kunden, die sich einen Buchtitel, einen Autor oder die Farbe des Umschlags korrekt gemerkt haben, sind selten.* Und natürlich sind immer die doofen Buchhändler schuld (was übrigens sehr unfair ist, denn ein wenig Sachkenntnis und flexibles Denken gehört schon dazu, aus der Kundenanfrage „Guten Tag, ich suche das Buch ‚Der Kampf'“ auf diesen Titel zu kommen). Jedenfalls hieß das Buch „Deutschland schafft sich ab“ bereits nach wenigen Tagen intern nur noch das „Zirkusbuch“, seit der erste Kunde nach dem „Buch von dem Sarrasini“ fragte. Ich habe mich persönlich ja sehr zeitig aus der entstehenden Debatte verabschiedet. Zum einen, weil ich nicht bereit bin, mit jemandem zu diskutieren, der sich seine „Fakten“ einfach ausdenkt. Zum anderen, weil die Debatte kaum diese Bezeichnung verdiente. Mir fiel es schwer, in diesem Themenkomplex die Contenance zu wahren, weil es gar zu viel war, worüber ich mich aufregen müsste – was meiner Hausärztin wohl nicht gefallen hätte.
Glücklicherweise gibt es aber Menschen mit stärkeren Nerven. Und so sei auch heute wieder auf ein anderes Blog verwiesen. Der zum Bookmarken empfohlene Gregor Keuschnig analysiert sehr genau, sehr tiefgründig und sehr unaufgeregt Sarrazins Machwerk, die anschließende Debatte, warum er eigentlich gelesen wird und überhaupt alles drumherum.

Oder anders: Ein Beitrag, der in meinen Augen unbedingt der maßgebliche Text zum Thema werden sollte.

Zur Lektüre bitte hier entlang.

Und zur Belohnung fürs Lesen gibt es auch noch ein Video:


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*Bei der Gelegenheit noch ein Hinweis in eigener Sache: Neben der durchaus merkwürdigen Funktion, die Suchanfrage nach Umfang einzuschränken, kann bei Lehmanns inzwischen auch nach Coverfarbe gesucht werden – dies als freundlicher Hinweis für die KollegInnen, mir hat das bereits einige Male geholfen, denn glücklicherweise muß die Farbe nur beinhaltet sein und nicht dominieren, was ja meist das Hauptproblem bei der beliebten Anfrage: „Ich weiß nicht mehr, wie das Buch oder der Autor hieß. Aber es war grün.“ ist. Zum Ausprobieren bitte hier entlang. Funktioniert recht gut und wird sicher immer besser, je weiter die Datenbank verbessert wird (Wir haben ja gerade erst gerelauncht. 😉 )

Viel Lärm um Nichts

Zum Wochenendeende sei noch ein Verweis auf eine andere Seite im Netz gegeben. Bekanntermaßen lebt das Zwischennetz ja genau von diesen Verknüpfungen.
Dem seien aber noch einige einleitende Worte vorausgeschickt.
Ich kann unmöglich auf den Blog von Tobias Wimbauer verweisen ohne zugleich auf diesen Beitrag im „Umblätterer“ aufmerksam zu machen, in dem das Phänomen Wimbauer vorgestellt wird.
Da nicht auszuschließen ist, daß sich in der geneigten Leserschaft immer noch Menschen befinden, die die Großartigkeit der „Südharzreise“ von Frank Fischer nicht einsehen, sei auch auf meine diesbezügliche Empfehlung noch einmal dringendst verwiesen.
Und ehe ich tatsächlich zum Link komme, dessen Ziel diesen Beitrag hier verursachte, sei daran erinnert, daß es auch eine Lesung der Südharzreise mit mir gab.
Wer nun getreulich allen Verweisen gefolgt ist und sich vom Gefundenen nicht davon abhalten ließ, hierher zurückzukommen, der darf denn auch dem Verweis auf Tobias Wimbauers Blog folgen, in dem sich ein Video der Autorenlesung mit Frank Fischer findet.

Viel Vergnügen.


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Das Buch zum Sonntag (68)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Thomas Lang: Bodenlos

Mein Beruf bringt es mit sich, daß ich weit seltener von anderen auf Bücher hingewiesen werde als umgekehrt. Zudem stellt sich im Laufe der Jahre durchaus eine geiwsse Sättigung ein. So habe ich beispielsweise schon sehr lange kein Fantasy-Buch mehr zur Hand genommen, weil mir der Reiz, ein- und dieselbe Geschichte nun noch einmal mit anderen Namen und Orten zu lesen, abhanden gekommen ist (ja, ich weiß, es gibt Ausnahmen – es soll ja sogar Fantasy-Autoren geben, die keine Zyklen schreiben).*
Mit einiger Skepsis also nahm ich mich des Buches von Thomas Lang an. Denn im Rückentext tauchte die böse Phrase auf, er erzähle von einer Jugend in den achtziger Jahren. Das Buchhändlergehirn assoziiert da sofort sehr Ungutes.
Was ich dann aber las, belehrte mich eines Besseren und vor allem, auch den Rest des Rückentextes zur Kenntnis zu nehmen. Denn ja, hier geht es um eine Jugend in den achtziger Jahren in einem Kaff bei Köln, dessen größte Attraktion der nahegelegene Militärstützpunkt ist. Und gleichzeitig auch wieder nicht. Thomas Lang erzählt hier sehr dicht, sehr empathisch, sehr fein komponiert eine Jugend, wie sie so wohl nur zu dieser Zeit an diesem Ort sein konnte – und sie gleichzeitig doch überall sonst und irgendwann in den letzten drei Jahrzehnten hätte sein können.
Lang erzählt hier keine Geschichte, der Plot des Romanes ließe sich problemlos in wenigen Sätzen zusammenfassen. Aber er erzählt von der Lebens- und Gedankenwelt eines 18jährigen auf der Suche nach sich, seinem Platz in der Welt und einem Lebensmodell, daß zu seinem unbestimmten Rebellionswillen paßt. Es mag bei der geneigten Leserschaft nun die Frage aufkeimen, was an einem Buch, in dem kaum etwas passiert und das von den immer wieder ähnlichen Problem Spätpubertierender erzählt, lesenswert sein soll.
Zunächst einmal begeht Lang nicht den Fehler, den Generationenbücher begehen (und damit wären wir schon beim entscheidenden Grund, warum dieses nur scheinbar eines ist): Er vermeidet jegliches vereinnahmendes „Wir“, es gibt kein Zustimmung heischendes Namedropping und keine augenzwinkernden Referenzen an die seinerzeitige Popkultur. Außerdem arbeitet er mit einer erstaunlichen Stilsicherheit, die sich auch in einer sehr feinsinnig eingesetzten Vielfalt von Erzähltechniken ausdrückt. Mir ging es jedenfalls so, daß ich nie wußte, was als nächstes kommen würde. Da gibt es Perspektivwechsel, Umkehrungen der Chronologie oder Zeitsprünge. Aber: Alles sehr unaufdringlich. Hier will uns niemand zeigen, was er alles gelesen hat oder was er alles kann, sondern es steht einzig und allein die Erzählung im Vordergrund. Das ist denn auch die große Stärke des Buches: Lang erzählt einfach. Er wertet nicht, er missioniert nicht, er erklärt nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber er hat sehr genau beobachtet.

Im Arbeitszimmer seines Vaters gab es eine Reihe der Hundert größten Erzähler oder etwas in der Art. Die Bände wirkten unbenutzt. Nie nahm Jan einen von ihnen in die Hand, er konnte sich nicht einmal erinnern, je auf ihren Rücken die Namen der darin vertretenen Schriftsteller gelesen zu haben. Die Bücher kamen ihm nicht anders vor als die zahlreichen Kakteen, Gummibäume und sonstigen Topfpflanzen, die das Haus zuwucherten und die er nicht benennen konnte.
Die Namen der richtigen und wichtigen Autoren erlauschte Jan in Gesprächen auf dem Pausenhof. Er lief in die kleine Füchtener Buchhandlung und durchsuchte die Drehständer mit Taschenbüchern oder blätterte lange und sinnlos in den ausliegenden Wälzern der Großhändler. Immer fand er etwas. Da seine Augen nur nach Namen suchten, denen er schon einmal begegnet war, erschien ihm das Reich der Literatur nicht so unfassbar groß. Er hielt es für durchaus denkbar, irgendwann alles gelesen zu haben.

(S. 38f.)**

Ein paar wenige Sätze, einige Bilder und doch hat man sofort einen jungen Mann und sein Verhältnis zu den Eltern vor Augen. Vielleicht noch ein Beispiel:

Der Borgen kam Jan fremd vor. Es hatte sich nicht viel geändert hier, aber die Leute waren andere, neue Schüler, die auf die leer gewordenen Stühle vorgerückt waren wie sie die in die nächste Stufe aufrücken und einen neuen Abijahrgang bilden würden. Wie Jan und sein Jahrgang würden sie in quälender Langsamkeit ans Ende des Fließbands geschoben und von dort in ein Wännchen fallen – fertig zum Abstransport, all ihr neuen Glieder der Gesellschaft.

(S. 409f.)

Es gibt noch eine Stelle, die mich grübeln ließ. Neben all den gewöhnlichen und nicht ganz so gewöhnlichen Problemen und Krisen, die Jan Bodenlos in diesem Roman durchlebt und die keineswegs spezifisch für eine bestimmte Generation sind, gibt es doch eine ganz grundsätzliche Haltung, für die mir eine gewisse gesellschaftliche Situation unumgänglich ist und die somit vielleicht typisch ist, wenn auch in meinen Augen nicht unbedingt nur für Achtziger, so doch für die Jugend in einer Gesellschaft, die unbedingten Fortschritt, das Motiv des „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben.“ nicht mehr braucht. Denn wieviel besser sollen es die Kinder denn noch haben? Drei Autos? Zwei Häuser? Noch eine Spülmaschine? Und das macht dann jugendliches Leiden an der Welt etwas eigenartig.

Nirgends etwas Schnes, dachte er, nirgends Aussicht etwas zu verstehen, keine Hoffnung nicht immer allem ausgeliefert zu sein. Die Idee, dass sein Rätseln ein Ausdruck von Überfluss sein könnte, die eingebildete Qual eines Menschen, der mehrere Optionen hat, kam ihm nicht. Bis zu einem gewissen Grad hing er an seinem Unglück.

(S. 446)

Zum Abschluß sei noch eine Szene zitiert, die sehr viel mit mir und meiner Lesebiographie zu tun hat. Ich habe in ungefähr dem selben Alter wie Jan Bodenlos die beiden französischen Existentialisten Camus und Sartre gelesen und übrigens aus ganz ähnlichen Motiven („Die richtigen und wichtigen Autoren…“). Wobei, es kam bei mir noch hinzu, daß ich eine Biographie über Camus sah, in der ein unheimlich cooler Typ in schwarzem Mantel, mit Sonnenbrille und lässiger Fluppe im Mund abgebildet war. Sowas kann einen Philosophen sehr interessant machen. 😉
Was das für verheerende Auswirkungen haben kann, zeigt sich in einer wunderbaren Szene. Wir befinden uns in einem Zeltlager der Abiturienten, eine junge Dame mit unverhohlenem Interesse an Jan unterhält sich mit ihm über die Notwendigkeit politischen Protestes gegen Atomkraftwerke und Raketenstützpunkte. Und was macht er? Er wendet seine erworbenen Erkenntnisse an:

„Philosophisch gesehen macht es keinen Unterschied, ob wir draufgehen oder nicht.“
„Du meinst, es ist dir egal?“
„Rational betrachtet macht es keinen Unterschied. Wenn die menschliche Existenz durch nichts gerechtfertigt ist, dann ist sie auch gleichgültig. Demnach macht es keinen Unterschied, ob die Welt besteht, oder ob sie durch Umweltzerstrung, Krieg oder fehlende Nachkommenschaft erlischt.“
Tina sah ihn schweigend an; ihr Blick wurde von Satz zu Satz glanzloser, ohne dass Jan es bemerkt hätte.
„Du machst mich unheimlich traurig“, erwiderte sie schließlich.
„Warum leben wir denn? Vielleicht nur, um ewig eine Antwort auf genau diese Frage zu suchen.“ Jan ahnte allmählich, welchen Fehler er beging.

(S. 427)

Sehr romantisch, nicht wahr? Sollten junge Menschen mitlesen: Die Belanglosigkeit der menschlichen Existenz ist kein geeignetes Flirtthema. Dann lieber bedeutungsvoll schweigen. 😉

Käuflich zu erwerben ist das Buch in dieser

lieferbaren Ausgabe.

So, aber ehe hier endgültig Schluß für heute ist, noch ein Schmankerl für die Freunde der unaufdringlichen Intertextualität:

Jan lag vor seinem Zelt auf der neu gekauften Isomatte und las ein bisschen Sartre. Nur ab und zu verscheuchte er die Fliegen.

(S. 419)


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*ich wäre kein guter Literatur-Kritiker. Nach wenigen Jahren hätte ich ein derartiges Stadium von Ungnädigkeit erreicht, daß es kaum noch möglich wäre, meinen Ansprüchen gerecht zu werden.
**aus: Lang, Thomas: Bodenlos. oder Ein gelbes Mädchen läuft rückwärts. C.H. Beck München 2010

Das Buch zum Sonntag (67)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Das Nibelungenlied

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grôzer arebeit,
von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.

Ich weiß, es ist nicht besonders originell, einen Text über das Nibelungenlied mit diesen Worten zu eröffnen.* Doch ich finde diese vier Zeilen einfach wunderbar. Genau genommen bräuchte man nun kein weiteres Wort über dieses Epos verlieren. Es ist alles gesagt. Hier wird exakt das geliefert, was diese Ankündigung verspricht. Über einen Mangel an berühmten Helden, großer Mühsal, an Freuden, Festen, Tränen, Klagen und gar tapferer Männer Kämpfe kann sich ein Leser des Nibelungenliedes nun wahrlich nicht beklagen.
Ich bin mir sehr sicher, keiner der Verfechter der angeblichen christlichen Leitkultur würde das Nibelungenlied nicht als Bestandteil eben dieser sehen. Auch wenn freilich dieses große Epos von „Liebt eure Feinde“ (Mt. 5,44) und „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Mt. 6,12) so weit entfernt ist wie nur irgend möglich. Überhaupt gehört das Nibelungenlied zu den bedauernswerten Werken der Literaturgeschichte, bei denen inzwischen die Rezeptionsgeschichte das Werk selbst überlagert. Oder anders: Ein unbelastetes, vorurteilfsfreies Lesen ist nahezu unmöglich geworden. Das aber ist schade und ich kann nur empfehlen, es zumindest zu versuchen. Wie sehr viele Heldenlieder dieser Zeit ist auch das Nibelungenlied Ausdruck eines hybriden Weltbildes. Es gibt dafür weitaus stärkere Beispiele („Parzival“ oder, ganz großes Kino: „Beowulf“, aber dazu ein anderes Mal), doch auch im Nibelungenlied läßt sich noch sehr schön sehen, wie hier versucht wird, eine Jahrhunderte alte Traditionslinie in ein neues Weltverständnis zu implementieren. Und so können Drachen und Tarnkappen sehr einträchtig neben Kriemhilds Gewissensbissen stehen, ob sie denn nun wohl einen Heiden heiraten könne.

Si sprach ze Rüedegêre: „het ich daz vernomen,
daz er niht wære ein heiden, sô wold´ ich gerne komen,
swar er hete willen, und næm´ in z´einem man.“
dô sprach der marcgrâve: „die rede sult ir, vrouwe, lân.

Er hât sô vil der recken in kristenlîcher ê,
daz iu bî dem künige nimmer wirdet wê.
waz ob ir daz verdienet, daz er tóufet sînen lîp?
des muget ir gerne werden des künic Étzélen wîp.“

(B1261-62)**

In der Übersetzung von Siegfried Grosse liest sich dann so (für diejenigen in der geneigten Leserschaft, deren Mittelhochdeutsch gerade etwas schwächelt. 😉 ):

Sie sagte zu Rüdiger: Wüßte ich nur, daß er kein Heide
wäre, so würde ich gern überall, wohin er wünschte, kommen
und ihn zum Gemahl nehmen.“ Der Markgraf antwortete:
„Das sollt Ihr nicht sagen, Herrin.

Es dienen ihm so viele Männer christlichen Glaubens,
daß Euch in der Nähe des Königs niemals Heimweh überkom-
men wird. Vielleicht auch erreicht Ihr, daß er sich taufen läßt?
Deshalb könnt Ihr gern die Frau des Königs Etzel werden.“

(S. 381)***

Es ist diese bemerkenswerte Mischung aus einzig emotional begründeten Zielen und den umständlich-perfiden, aber stets eiskalt durchdachten Methoden, mit denen sich die Protagonisten gegenseitig auslöschen, die mich am Nibelungenlied reizt. Und der, zumindest für den modernen Leser, geradezu naive Sprachstil, in dem hier von Ungeheuerlichkeiten berichtet wird. Auch wenn es dabei freilich zu bedenken gilt, daß die Lieder ja zum mündlichen Vortrag gedacht waren, komplexe Satzgebilde mithin genretypisch ausbleiben – der Reiz dieser Diskrepanz sich also wirklich erst dem modernen Leser öffnet: Er ist eben da. Und natürlich rezipiere ich diese großartige Untergangssaga ganz anders als dies jemand vor 800 Jahren getan hätte.
Welcher Autor auch immer hinter dem Nibelungenlied steht, er hätte heute gutes Geld als Serien-Drehbuch-Autor verdienen können. Getrieben von einem Treue- und Ehrverständnis, das stets nur gilt, wenn es zum eigenen Vorteil gereicht, gefangen in einem Weltbild, das auf Verrat nur blutige Rache als Antwort bereitzuhalten vermag, bleibt keiner der Protagonisten ohne Schuld. Und doch werden die Charaktere ausreichend differenziert, so daß es genug Identifikationspotential für jeden gibt. So stürzen die Burgunden denn in ihren Untergang, sich selbst listig wähnend und dabei übersehend, daß auch die anderen listig sein könnten (und doch halte ich es für keinen Zufall, daß es ausgerechnet Hagen, mit Verrat bestens vertraut, ist, der Kriemhilds finale Einladung skeptisch betrachtet). Empathie jedenfalls ist ganz offenbar keine Tugend mittelalterlicher Recken. Zugegeben, wenn es gilt, einen Drachen zu erlegen, ist Empathie auch nicht besonders hilfreich, aber andererseits hätte sie vielleicht geholfen, zu verstehen, was Kriemhild in die Arme eines metzelnden Barbarenkönigs treibt. Obwohl ich hier fair bleiben möchte: Gunters größte List bestand darin, Siegfried eine Tarnkappe aufsetzen zu lassen. Die Idee, daß jemand in ein fremdes Land ziehen könnte, um den dortigen Herrscher zu heiraten, dessen Vertrauen und das seiner Gefolgsleute zu gewinnen, nur um dann eine Banketteinladung auszusprechen, hinter der sich ein finaler Rachetriumph versteckt – das ging eindeutig über seinen geistigen Horizont. 😉

Es lohnt sich unbedingt auch heute noch, das Nibelungenlied zu lesen, schon allein, um zu erkennen, wie stark Traditionslinien sind. Nicht nur im Werk selbst, sondern eben in der Art, in der wir heute Mythen erzählen, welche Werte und Ideen uns heute wichtig sind. Und wohin blinder Glaube an die eigene Überzeugung führen kann.
Und außerdem ist es ein großes Vergnügen, mitzuleiden, mitzuschmachten und mitzuintrigieren beim großen „Wermitwemgegenwenundwarumeigentlich“.

Mit den lieferbaren Ausgaben ist das nun so eine Sache. Zwar hat man sich weitgehend auf die Textfassung von Bartsch/de Boor geeinigt, aber welche Übersetzung nun zu empfehlen sei, das ist ein weites Feld. Wem daran liegt, den Zauber der Dichtung nachempfinden zu können, dem sei von Simrocks Nachdichtung nicht abgeraten, auch wenn meine persönliche Empfehlung eher dahin geht, es mit einer zweisprachigen Ausgabe zu versuchen, bei der dann die neuhochdeutsche Fassung gerne etwas holprig, dafür aber eben korrekt sein darf. Oder aber gleich die wunderbare, kommentierte Lesung von Peter Wapnewski zu hören. Denn vorgelesen entfaltet das Nibelungenlied erst seine ganze Wirkung.


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*Immerhin habe ich aber den Beitrag zu Caesars Gallischem Krieg nicht mit „Gallia est omnis…“ eröffnet.
**alle Zitate nach: Bartsch/de Boor/Grosse: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003
***Hier plant also eine Frau, sich in einen fremden Kulturkreis zu verheiraten, in dem die Mehrheit einem anderen Glauben anhängt, es aber bereits eine Parallelgesellschaft ihrer eigenen Religion gibt, zu der sie ihren künftigen Ehemann künftig zu bekehren gedenkt. Deutsches Nationalepos. Das lasse ich mal einfach so stehen.