Neujahr.

Neujahrsansprachen rangieren auf der Hitliste der beliebtesten Zeitvertreibe eher nicht unter den Top Ten. Durchaus nicht zu Unrecht, denn, mal ehrlich, was soll man da schon groß sagen?
Die Auguren heutiger Tage (Wirtschaftsweise, Weltuntergangspropheten, Wirrköpfe sonstiger Couleur) lagen alle schonmal gründlich daneben. Verständlich, daß es da einen Hang zum Unkonkreten gibt, was die Ansprachen Offizieller natürlich noch öder macht. Denn schließlich wissen wir ja Dank Doc Brown, daß die Zukunft ein unbeschriebenes Blatt sei – jegliche Aussagen zum neuen Jahr sind also reine Orakelei.
Insofern gibt es nur eine gültige Neujahrsansprache, nämliche diese hier:

Laßt alle Hoffnung fahren.

Nichtsdestotrotz möchte ich den Hausheiligen zu Wort kommen lassen. Denn ganz so defaitistisch wie das depressive, Sartre zitierende Kastenweißbrot muß man die Sache nicht angehen.

Und eine Stimme sagte: „Und 1919?“ „Ja, und 1919?“ riefen alle. Das neue Jahr erhob sich und machte eine Verbeugung. In der Hand trug es eine kleine, elegante, lederne Reisetasche. „Was haben Sie dadrin?“ fragte 1918. „Darin trage ich ein Heilmittel für die da unten!“ sagte es. Und da wurde es ganz still.
„Darin trage ich den guten Willen. Ich darf es euch noch nicht sagen, was noch alles – aber das verspreche ich euch: wenn sie einer zu Räson kriegt, der gute Wille bekommt´s fertig. Der gute Wille der Niedergetretenen und der gute Wille der an die Freiheit Gekommenen. Der gute Wille der Staaten, nicht mehr Menschen zu knuten und einzusetzen wie totes Material – Menschen sind um ihrer selbst willen da! – Der gute Wille der Familie, Menschen zu erziehen und nicht nur zukünftige Onkel und Tanten und Vereinsmitglieder. Der gute Wille des Menschen, zu wissen, wofür er da ist, auf der bunten Erdkugel -: um seiner selbst willen, um seiner selbst willen, um seiner selbst willen!“
Und kaum hatte das Jahr ausgesprochen, da klangen großmächtige Glocken in den Saal, die Türen sprangen auf, und ein fernes brausendes Rufen drang durch die Luft. „Da – seht!“ sagte einer. Und obleich die alten Jahre das Schauspiel schon so oft gesehen hatten, kamen sie doch alle an die Tür und schauten: da hing die Erde groß und leuchtend in der Luft, wie ein ungeheurer Ball, es puffte und knallte und glühte auf ihr – da feierten sie Neujahr – „Ich muß gehen!“ sagte 1919 und verschwand.
„Prosit Neujahr!“ riefen die Jahre hinter ihm drein. Und ein ganz junges Jahr, das noch lange nicht herankommt – sein Name fängt mit zwei Nullen an -, krähte mit einer furchterregend pipsigen Stimme, im Diskant: „Und mach´ einmal Frieden da unten, du!“ – Und da lachten alle die alten Jahre brausend.
Und so wollen wir auch, wir, ich und du, in das neue, unbekannte Jahr hinübergehen, lachend, trotz alledem!“

*

All der gute Wille freilich nützt erst dann etwas, wenn er zur Tat wird („die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“**). Wünschen, Hoffen, Glauben, Beten – alles ganz wunderbare Sachen und wer die Kunst der Kontemplation beherrscht, dürfte daraus auch Ruhe und Kraft gewinnen. Wer aber wirklich etwas ändern will, wird um die Tat nicht herumkommen.
Und so mag das Schlußwort heute Gerhard Schöne gehören.


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*zitiert nach: Die Jahre. in: Tucholsky, Kurt: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Texte 1914-1918 (=Bd. 2), Rowohlt. Reinbek 2003. S. 455
**nach: Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, Bd. 1, S. 385.

Leben und so.

„Das Leben, erzähl mir bloß nichts vom Leben.“ So läßt Douglas Adams den stets depressiven Roboter Marvin („Seht mich an, ein Gehirn von der Größe eines Planeten, und man verlangt von mir, euch in die Kommandozentrale zu bringen. Nennt man das vielleicht berufliche Erfüllung? Ich jedenfalls tu’s nicht.“) Menschen antworten, die ihn über eben dieses etwas belehren wollen. Nun, in der Tat, das Leben als solches ist kein Zuckerschlecken, es gibt unschöne Dinge und wenn man mal ein bißchen darüber nachdenkt, wofür die Krone der Schöpfung ihre bisherigen Leben so verwendet hat, kommen einem durchaus ernsthafte Zweifel, ob es sich bei „Leben“ überhaupt um ein sinnvolles Konzept handelt. Dies ist aber freilich nur die Draufsicht.
Anders stellt sich die Sache nämlich dar, wechselt man die Perspektive. Für denjenigen, der gerade lebt, hat das Leben einen völlig anderen Stellenwert. Genau genommen ist das Leben, das wir haben, wohl das einzige, worauf wir mit Sicherheit bauen können. Was davor war, was danach kommt – dies ist alles höchst ungewiß, ganz egal, was die zahlreichen Propheten so alles behaupten mögen.

Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.

*

So sehr sich die Intensität meiner Begeisterung für „Der Club der toten Dichter“ heute von der in meiner Jugend unterscheidet, eines bleibt doch bestehen: Der unbedingte Wille zur Lebensbejahung. Der Drang, jeden Tag auszukosten, bis zum letzten Tropfen auszuleben, denn mors certa, hora incerta – es könnte jeder Tag der letzte sein. Schon morgen, schon heute, beim nächsten Schritt auf die Straße kann es vorbei sein. Und ganz egal, was danach kommen mag, die Zeit, die uns hienieden beschieden ist, sollten wir nutzen, so gut, so intensiv wir können. Carpe diem.
So richtig klar wird einem das wohl trotzdem immer erst dann, wenn [hier bitte passende höhere Macht einsetzen] sich mal wieder entschließt, jemanden plötzlich und unvorhergesehen aus dem Leben zu reißen. Es sind manchmal nur Momente – gerade eben sprach man noch mit einem lieben Menschen, machte vielleicht Pläne für die nahe und fernere Zukunft und schon im nächsten Augenblick weilt derjenige nicht mehr unter den Lebenden. Bedenkt man, wieviel einen Menschen ausmacht, wieviele Facetten, Gedanken, Gefühle, Erfahrungen dazugehören, wie wenig davon wir kennenlernen, wieviel wir voneinander also entdecken könnten, wirkt es geradezu absurd, wie endgültig, wie vollständig der Tod ist. Mit jedem Menschen geht eine ganze Welt verloren.
Also, liebe geneigte Leserschaft, auch ihr habt nur dieses eine Leben und was auch immer diese Welt euch anzutun bereit ist: Gebt. Gebt, was ihr habt, auf daß ihr nicht vergessen werdet. Nur, was ihr gebt, wird von euch bleiben. Seid euch nicht zu sicher, den nächsten Morgen zu erleben, es könnte schon jetzt das Blutgerinnsel auf dem Weg sein, das euer Gehirn verstopft, der Laster, der euch beim nächsten Spaziergang übersieht, könnte gerade den Motor starten und die SuperböllerSilvesterrakete, die nach oben fliegen irgendwie doof findet, könnte die sein, die ihr gerade entzündet.
Also, ich bitte euch: Macht was draus.

Aus nicht näher zu erörternden persönlichen Gründen fiel meine Wahl zum Abschluß dieses Beitrages auf folgendes Gedicht:

Robert Frost: The Road Not Taken

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads on to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

übernommen von hier.


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*aus: Der Mensch. in: Werke und Briefe: 1931, S. 498. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8478 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231) (c) Rowohlt Verlag

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (73)

Prolog: Ich betrachte es mal als gutes Zeichen, daß ich zu Weihnachten andere Dinge zu tun hatte als mich im Blog herumzutreiben. 😉
Daher also ein weiteres Mal die Buchempfehlung erst am Montag. Aber ist ja auch irgendwie ein Wochenanfang. Und eines ist sicher: Dieses Jahr war das die letzte Verspätung.*

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Heusen/Mikus/Michel: Das geheime Leben der Bücher vor dem Erscheinen.

Über die mittelmäßig Verrückten beim Verlag Hermann Schmidt Mainz schrieb ich hier gelegentlich schon. Dieses hier ist ein wunderbares Beispiel und sehr gut geeignet, den diesjährigen Reigen an Buchempfehlungen zu beenden, weil es das Medium als solches in den Mittelpunkt stellt. Und so wenig ich für die Beurteilung von Texten das Medium, mit dem diese transportiert werden, für relevant halte: So ein Buch, des isch scho schee**.
Offiziell wurde das Buch für Kinder und junge Jugendliche geschrieben („ab 8“, sagt der Verlag) und natürlich können diese das auch mit Genuß und Gewinn lesen. Aber vielleicht ist es ja auch ein Trick, um die noch immer latente Ablehnung des deutschen Buchpublikums gegenüber bildhaften Erklärungen zu überwinden. So nach dem Motto: Ist nicht für mich, das ist für mein/e [passende Verwandschaftsbezeichnung].
Wer wirklich wissen möchte, wie ein Buch entsteht (und da gibt es eine Menge zu lernen), dem sei dringend zu diesem großartigen Werk geraten. Das beginnt schon beim Umschlag – Ich sage nur: thermosensitives Cover(leider nur für Facebook-Nutzer).

***

Ich möchte einmal aus der Warnung des Verlages zitieren, die bereits zu Beginn des Buches erscheint, nachdem der geneigte Lesende bereits erfahren hat, was ein Vorsatz ist und was unter einem Schmutztitel zu verstehen sei:

Achtung, Achtung, hier spricht der Verlag:
„Dieses Buch könnte dein Leben verändern!“
Deshalb überlege bitte genau, ob du weiterblättern willst.
Du könntest anfangen, Milchtüten zu lesen. […] Du wirst schon nach ein paar Seiten mehr über Bücher wissen als deine Eltern. […] Du wirst möglicherweise überhaupt ein wenig komisch werden.

(S. 2f.)***

Kurz: Hier sind Enthusiasten am Werk und sie sind auf Mission. Ich kann mir kaum vorstellen, daß sich jemand der Faszination dieses Bandes zu entziehen vermag. Nicht nur, daß hier locker das Konversationswissen für das Jahrgangstreffen einer beliebigen Seckbach-Klasse steckt (bereits vor Beginn des ersten Kapitels dürfte die Behauptung zum überlegenen Nachwuchswissen erfüllt sein) – man spürt auf jeder Seite die Liebe zum Detail, die Begeisterung für die Schönheit handwerklicher Arbeit. Denn auch im Zeitalter der weitgehenden Automatisierung, des DTP und des Digitaldrucks, der Buchautomaten – ein gutes, ein schönes Buch, das ist immer noch feinste Handwerkskunst. Die Werkzeuge mögen sich geändert haben, zugegeben. Aber wer hier einmal gelesen hat, worin die Arbeit eines Typografen besteht (bzw. bestehen kann), wird so manche preiswerte Klassiker-Ausgabe künftig mit anderen Augen sehen (und dies im wahrsten Sinne des Wortes).
Die geneigten Lesenden verfolgen die Autorin und ihre kleine, zarte Idee, vom Reifen zur Geschichte, von der ersten Idee bis zum fertigen Buch, jeder Schritt wird locker, nicht selten amüsant, vor allem aber: liebevoll genau verfolgt. Wer wissen und verstehen möchte, warum es Menschen gibt, denen ein eReader selbst bei liebevollstem Design ein Graus ist, warum es Menschen gibt, die ein Antiquariat mit leuchtenden Augen betreten und Bücher betrachten, deren Inhalt ihnen nahezu egal ist, die aber das Buch und seine Geschichte, die Liebe und die Arbeit, die es brauchte, es herzustellen, spüren und fühlen wollen, die in Ehrfurcht vor einer Inkunabel mindestens innerlich in die Knie zu gehen wünschen, Menschen, die schließlich und endlich zu schätzen wissen, wenn ein Buch spüren läßt, daß es hergestellt wurde, um in die Hand genommen, betrachtet und gelesen zu werden – und eben nicht nur, um einen Käufer zu finden -, nun, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Und allen anderen auch.
Oder kurz:

Jugend dieser Welt: Lest dieses Buch.

Und drückt es anschließend euren Eltern in die Hand. Von mir aus auch umgekehrt.
Hauptsache, ihr kauft die

lieferbare Ausgabe.;)

Wer im Übrigen von meinem flammenden Plädoyer noch immer nicht überzeugt sein sollte, kann beim Verlag selbst noch einmal schauen. Oder natürlich in einer guten Buchhandlung, so wie dieser hier.


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*Ja, ich habe eine unsägliche Schwäche für Jahresendwitze. Und da seid mal froh, daß wir wir nicht 1999 schreiben. 😉
**Die eventeuell mitlesenden Dialektkundigen mögen mich korrigieren, sollte mein Ohr da falsches vernommen haben. Ich habe nämlich außerdem noch eine unsägliche Schwäche für Wendungen aus Dialekten, die ich gar nicht beherrsche. Diese Ansammlung an sch-Lauten finde ich jedenfalls sehr reizend.
***Eigentlich bräuchte ich hier gar nicht weiterschreiben. Denn: Hallo? Thermosensitives Cover! Aber es soll ja Menschen geben, die sowas gar nicht beeindruckt. *kopfschüttel*
****zitiert nach: Heussen et.al.: Das geheime Leben der Bücher vor dem Erscheinen. Verlag Hermann Schmidt. Mainz 2010

Immer noch: War Is Over. If You Want It.

„So this is Christmas / And what have we done?
Another year over / and a new one just begun.“

In der Tat, es ist ein weiteres Jahr vergangen und erneut darf ein jeder in sich gehen und grübeln, was er oder sie im letzten Jahr so getrieben hat. Für heute möchte ich aber die geneigte Leserschaft in ihrer besinnlichen Stimmung das Weihnachtsfest genießen lassen. Die allfällige Moralpredigt folgt dann in einer Woche. 😉
Allerdings scheinen mir diese Zeilen des alljährlich empfohlenen Weihnachtsleides im Jahr 2010 einer besonderen Erwähnung zu bedürfen:

And so this is Christmas
For weak and for strong
For rich and the poor ones
The world is so wrong
And so Happy Christmas
For black and for white
For yellow and red ones
Let’s stop all the fight

Den kompletten Text gibt es hier.

Ich wünsche der geneigten Leserschaft eine besinnliche Weihnachtszeit.

καὶ σὺ τέκνον

Ich weiß nicht, ob sich noch jemand erinnert, womit die Grünen vor gut 30 Jahren als Partei starteten. Vielleicht weiß es ja noch irgendjemand in dieser Partei. Veilleicht erinnert sich dort noch jemand an den Slogan von der „Anti-Parteien-Partei“, entsinnt sich des „Marschs durch die Institutionen“? An die Idee, Politik ganz anders zu machen?
Sollte da noch jemand sein, könnte der oder diejenige mir dann bitte das hier erklären?

gruene

Im Laufe der letzten Jahre haben die Grünen eine Position nach der anderen geräumt. Und da reden wir nicht nur über Kleinigkeiten. Die Friedenspartei beschloß schon Angriffskriege (Kosovo, Afghanistan), die Ökopartei genehmigte Kohlekraftwerke (Hamburg), die Partei der sozialen Bewegung beschloß Kürzungen für Kinder von Arbeitslosen (HartzIV – und ist sich heute nicht zu schade, eben diese niedrigen Sätze anzuprangern).
Nun, da es keine Positionen mehr zu räumen gab, wurde nun auch noch das letzte Feld aufgeben. Es ist nicht nur so, daß die Grünen sämtliche netzpolitischen Bemühungen der letzten Jahre nun endgültig getrost in den Skat drücken können, es ist nicht nur so, daß sie auf diesem Politikfeld mit der Zustimmung zum unsäglichen JMStV ihre Glaubwürdigkeit verloren haben (und da können noch so viele netzpolitische Kongresse veranstaltet werden), nein:
Die Idee, irgendwie anders zu sein als die anderen, der Stachel im Parteiensystem zu sein, eine Kraft zu sein, bei der es immer noch ein bißchen mehr um die Sache geht als um Personalien, die, zumindest in meinen Augen, zentrale grüne Idee, für Positionen statt Posten zu stehen, ist nunmehr endgültig und öffentlich aufgegeben worden. Wo ist da der Aufschrei der Basis? Wo ist da das Rumoren? Bitte, liebe Mitglieder der Grünen, wie könnt ihr das hinnehmen? Wir sind dagegen, aber aus parlamentarischen Zwängen stimmen wir dafür? Hallo? Ist da irgendwo noch jemand zu Hause?
Andererseits

lemke

habe ich vielleicht einfach eine falsche Vorstellung davon, wer eigentlich so Mitglied in dem Verein ist, wenn eine Woche später solche Zuwächse verkündet werden.
Mich jedenfalls hat diese ganze Angelegenheit sprachlos gemacht. Mit welcher Ruhe, ja geradezu nonchalant hier eine Partei ihr Selbstverständnis öffentlich in die Kanalisation befördert, läßt mich wirklich fassungslos zurück.
Vielleicht fassungslos, zumindest aber nicht sprachlos allerdings reagierte die Netzgemeinde. Hier mal zwei Beispiele. Zum einen dieses großartige Plakat:

lemke

(via pantoffelpunk)

Zum anderen die Mitmachplattform „Parlamentarische Zwänge„.

Und stünde ich nicht so fassungslos und sprachverloren da, würde ich vielleicht eine solche Wutrede schreiben.

Möglicherweise irre ich mich, möglicherweise sehe ich zu schwarz (Haha, Knaller.), aber, liebe Grüne, wolltet ihr nicht einmal anders sein? War nicht das Ziel, Partei zu sein, ohne daß die frustrierten Massen in dieses Lied des Hausheiligen singen und euch mitdenken? Brauchen wir tatsächlich eine APO gegen die Grünen? Also auch ihr?

Das Parlament

Ob die Sozialisten in den Reichstag ziehn –
is ja janz ejal!
Ob der Vater Wirth will nach links entfliehn,
oder ob er kuscht wegen Disziplin –
is ja janz ejal!
Ob die Volkspartei mit den Schiele-Augen
einen hinmacht mitten ins Lokal
und den Demokraten auf die Hühneraugen . . .
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!

Die Plakate kleben an den Mauern –
is ja janz ejal!
mit dem Schmus für Städter und für Bauern:
»Zwölfte Stunde!« – »Soll die Schande dauern?«
Is ja janz ejal!
Kennt ihr jene, die dahinter sitzen
und die Schnüre ziehn bei jeder Wahl?
Ob im Bockbiersaal die Propagandafritzen
sich halb heiser brüllen und dabei Bäche schwitzen -:
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
Ob die Funktionäre ganz und gar verrosten –
is ja janz ejal!
Ob der schöne Rudi den Ministerposten
endlich kriegt – (das wird nicht billig kosten):
is ja janz ejal!
Dein Geschick, Deutschland, machen Industrien,
Banken und die Schiffahrtskompanien –
welch ein Bumstheater ist die Wahl!
Reg dich auf und reg dich ab im Grimme!
Wähle, wähle! Doch des Volkes Stimme
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
is ja janz ejal -!

in: Werke und Briefe: 1929, S. 675f. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7163 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 299f.)


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Das Buch zum Sonntag (72)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Cicero: Gespräche in Tusculum

Trotz LateinLK kam ich das erste Mal mit den Tusculanae disputationes in deutscher Sprache und noch dazu im Theater in Berührung. Das nt in Halle führte seinerzeit eine Bühnenfassung auf, mit dem von mir verehrten Siegfried Voß als Cicero, wenn ich das recht memoriere. Wobei „Bühnenfassung“ vielleicht etwas hochtrabend klingt, denn genau genommen wurden eben einige Dialoge vorgetragen.
Der Dialog ist das typische Stilmittel der antiken Philosophie.

Und zwar gingen wir so vor, daß zuerst der, der etwas zu vernehmen wünschte, seine Meinung sagte und ich dann dagegen sprach. Denn dies ist, wie Du weißt, die alte sokratische Form, gegen die Meinung eines anderen zu diskutieren. Auf diese Weise, glaubte Sokrates, könne am leichtesten gefunden werden, was der Wahrheit am nächsten komme. Aber damit unsere Diksussionen bequemer lesbar seien, werde ich sie lieber in dramatischer als in erzählender Form berichten.

(Buch 1, 8 / S. 58)*

Bedenkt man, welches Ende das Leben des Sokrates nahm, ist es erstaunlich, wie sehr sich dessen Methode der Wahrheitsfindung durchzusetzen vermochte. Denn die Welt zeigte den Freunden der Wahrheit doch recht deutlich, wie wenig sie letztlich an eben dieser interessiert ist, zumindest sobald sie unbequem wird. Was ich einmal kurz zu einem Exkurs nutzen möchte, um in Anschluß an meinen Lateinlehrer mal eine Lanze für die im Nachruhm ja doch arg gebeutelte Xanthippe zu brechen. Schließlich pflegte das klassische Athen ja durchaus das Rollenmodell der schwäbischen Hausfrau**, was man nun schön finden kann oder auch nicht. Das Funktionieren eben dieses Lebensentwurfs setzt aber einen Mann voraus, der einer gewinnbringenden Tätigkeit nachgeht, auf die Haushaltskasse ausreichend gefüllt sei. Den ganzen Tag auf em Marktplatz Athener Mitbürgern aufzuzeigen, wie oberflächlich und irrig sie ihr Leben führen mag nun zwar im Dienste der Wahrheit stehen und insofern gewinnbringend sein, bringt aber zum einen nicht sonderlich viele Geldstücke ein und macht zum anderen die Geschäftsbeziehungen der Frau des Hauses durchaus problematisch, von den Auswirkungen aufs soziale Netzwerk gar nicht erst zu reden. Die gute Xanthippe hatte also durchaus Anlaß zur Klage.
Die griechischen Philosophen und ihre Überlegungen stehen durchaus im Mittelpunkt der Tusculanischen Studien, Cicero zitiert hier umfänglichst. Neben einem wunderbaren Überblick über die griechische Philosophie erhält man hier durchaus auch einen Einblick in römisches Denken, auch wenn sich das nicht immer sauber differenzieren läßt. Freude macht dabei vor allem Ciceros überragendes stilistisches Talent, weshalb den dazu fähigen in der geneigten Leserschaft auch unbedingt das lateinische Original empfohlen sei. Aber auch in der Übersetzung ist das spürbar. Sicherlich gibt es leichtere Lektüren, aber noch immer bleiben die Überlegungen der klassichen Antike zu vielen Fragen der menschlichen Existenz bedenkenswert. Und sie sind kaum besser aufbereitet als beim alten Egomanen Marc. T.

A: Ich habe es ja getan und sogar öfters; solange ich es lese, bin ich überzeugt, aber sobald ich das Buch beiseite gelegt habe und ich für mich allein über die Unsterblichkeit der Seele nachzudenken anfange, entgleitet mir irgendwie jene ganze Überzeugung.
B: Wieso? Gibst Du zu, daß die Seelen entweder nach dem Tode weiterleben oder im Tode selbst zugrundegehen?
B(sic!): Gewiß.
B: Und wenn sie weiterleben?
A: So gestehe ich zu, daß sie glückselig sind.
B: Wenn sie aber untergehen?
A: Daß sie nicht unselig sind, weil sie dann ja überhaupt nicht existieren. Dies zuzugeben hast Du mich schon kurz zuvor gezwungen.
B: Wie und warum kannst Du dann behaupten, daß der Tod Dir als ein Unglück erscheine? Da er uns doch entweder glückselig macht, wenn die Seelen weiterexistieren, oder jedenfalls nicht unglücklich, wenn wir keine Empfindungen mehr haben.

(1, 24-25 / S. 67)***

Ich habe ja eine Schwäche für literarische Selbstdarsteller und es scheint mir kein unzulässiger Spoiler zu sein, darauf hinzuweisen, daß die Rededuelle nie zu Gunsten von Ciceros Kontrahenten ausgehen. Seine Gesprächspartner haben stets die Ehre, scheinbar gute oder gültige Behauptungen von sich zu geben, die dann Stück für Stück und geradezu genüßlich seziert und widerlegt werden. Wie im obigen Beispiel, das einige Absätze vorher mit der simplen Aussage „Der Tod scheint mir ein Übel zu sein.“ begann. Das mag vielleicht nicht jedem liegen, ich aber finde das immer wieder höchst amüsant. Da sitzt also eine Runde durchaus nicht armer römischer Bürger (also wahrscheinlicher Weise liegen sie) beisammen, konsumiert guten Rotwein (es ist zwar keine Weinliste überliefert und der Johnson schweigt sich zu diesen Jahrgängen auch aus, aber es würde mich doch sehr wundern, wenn sie das antike Äquivalent zum AldiTetrapakWein genossen) und denkt darüber nach, wie die Welt wohl beschaffen sei und wie ein gutes Leben zu führen sei. Und Cicero, Retter der Republik, also letztlich ja mindestens der Welt, erklärt ihnen wohlformuliert und allwissend, wie sehr sie auf dem Holzweg sind. Da haben die anderen bestimmt gedacht: „Na, wie gut, daß wir den Marcus Tullius haben.“
So ähnlich dachten sie ja schon im Senat, als sie Cicero in die Wüste schickten, was ja überhaupt erst der Anlaß war, der diesem die Gelegenheit zu seinen Studien gab. Bei Cicero klingt das natürlich anders:

Als ich mich endlich von meiner Arbeit als Verteidiger vor Gericht und von den Pflichten als Senator ganz oder doch zum großen Teil befreit sah, da kehrte ich – vor allem auf Deine Mahnung hin, Brutus – zu jenen Studien zurück, die ich im Geiste zwar festgehalten, unter dem Zwang der Umstände aber zurückgestellt hatte und die während langer Zeit liegen geblieben waren.

(1, 1 / S. 55)

Die Trauben waren wohl arg sauer.
Von vielen griechischen Philosophen und ihren Gedanken wissen wir heute nur durch Ciceros Vermittlung, weil die Originalschriften verloren gegangen sind. Ein Gutteil der griechischen Philosophie wird also auf ewig mit dem Namen Marcus Tullius Cicero verbunden bleiben. Gloria aeterna, gegen die er wohl nichts einzuwenden hätte.

Und so sei zum Abschluß noch auf die

lieferbaren Ausgaben

verwiesen.


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*zitiert nach: Cicero: Gespräche in Tusculum. übersetzt von Olof Gigon. Bibliothek der Antike. dtv München 1991
**Was von Frau Merkel wohl außerhalb dieser Metapher bleiben wird?
***Diese Stelle gehört übrigens immer noch zum Beispiel, daß Cicero wählte, um seine Methode zu illustrieren, die er im ersten Zitat vorstellte. 😉

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (71)

Prolog: Was auch immer über Landluft erzählt wird, zumindest mich Großstadtbewohner macht sie müde. Liegt wahrscheinlich am vielen Sauerstoff. Jedenfalls nach einem wunderbaren Adventswochenende bei lieben Freunden, die, öhm, landschaftlich sehr reizvoll wohnen, komme ich erst heute zur Buchempfehlung.

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Hermann Hesse: Siddhartha

Kunden zu klassifizieren ist ein beliebter Zeitvertreib, natürlich auch im Buchhandel, der demnach selbstverständlich seine eigenen Sinus-Milieus hat. Eine Kategorie jedoch wird man dort vergeblich suchen, auch wenn ich sicher bin, daß zumindest die Kolleginnen und Kollegen aus der Branche sofort ein Bild vor Augen haben: Empfindsame junge Damen in der Hesse-Phase. Für diese ist Siddhartha natürlich Pflichtlektüre. Allerdings bin ich tatsächlich der Meinung, daß es sich auch für andere Zielgruppen lohnt, dieses Büchlein zu lesen.
Denn die Faszination, die Hesses „indische Dichtung“ auf empfindsame junge Damen ausübt, ist durchaus nachvollziehbar. Er schreibt in Nachahmung alter Mythenerzählungen mit einer beeindruckenden poetischen Kraft, die ihn davor bewahrt, an der Gratwanderung zum Kitsch zu scheitern. Es geht ein gewisser Sog von seiner Erzählung aus, die mich immer bewog, weiterzulesen. Und daß, obwohl klar ist, wie das Endziel des Ewigsuchenden, als der Siddharta hier porträtiert wird, aussehen wird – eine Problematik, der jede Literatur, die sich an mehr oder weniger historischen Personen und Begebenheiten orientiert, unterliegt. Können zeigt sich dann also in der Ausformung des Wie, in der Gestaltung der Personen. Und Hesses Siddharta ist überaus gelungen. Gerade das jugendliche Sehnen und Suchen nach anderen Regeln, anderen Werten als denen der Altvorderen, das Streben nach Höherem oder doch zumindest Neuem, das fängt Hesse sehr gut ein.

Die Waschungen waren gut, aber sie waren Wasser, sie wuschen nicht Sünde ab, sie heilten nicht Geistesdurst, sie lösten nicht Herzensangst. Vortrefflich waren die Opfer und die Anrufungen der Götter – aber war dies alles? Gaben die Opfer Glück? Und wie war das mit den Göttern? War es wirklich Prajapati, er die Welt erschaffen hat? War es nicht Atman, Er, der Einzige, der All-Eine? Waren nicht die Götter Gestaltungen, erschaffen wie ich und du, der Zeit untertan, vergänglich? War es also gut, war es richtig, war es ein sinnvolles und höchstes Tun, den Göttern zu opfern? […] Ach, und niemand zeigte diesen Weg, niemand wußte ihn, nicht der Vater, nicht die Lehrer und Weisen, nicht die heiligen Opfergesänge!

(S. 11)*

Hier haben wir denn die Grundthemen, die sich durch das ganze Werk ziehen werden, schon angedeutet: Das Suchen nach dem Großen, Einen, Ganzen, nach der Erlösung, dem Aufgehen in der Welt, dem Loslösen und ganz Aufgehobensein – und die Frage, wer dies und wenn ja, wie erreichen könnte. Gibt es dafür eine Lehre, eine Regel? Sind die Regeln, die wir haben, die Götter, die wir anbeten, nicht nur ein Vehikel, das uns hilft, dieses Leben zu überstehen, weil der wahre Weg viel zu beschwerlich, zu weit, zu unerreichbar ist?
Sehr schön illustriert dies auch folgender kurzer Dialog, einer der wenigen Stellen, die mich zu einem Schmunzeln bewegten:

Unterwegs sagte Govinda: „O Siddharta, du hast bei den Samanas mehr gelernt, als ich wußte. Es ist schwer, es ist sehr schwer, einen alten Samana zu bezaubern. Wahrlich, wärest du dort geblieben, du hättest bald gelernt, auf dem Wasser zu gehen.“
„Ich begehre nicht, auf dem Wasser zu gehen“, sagte Siddharta. „Mögen alte Samanas mit solchen Künsten sich zufriedengeben.“

(S. 26)

Der geneigte Leser folgt Siddhartas Weg zur Erlösung mit allen Höhen und Tiefen, mit seinen Irrungen, seinen Seitenwegen und Abzweigen – und derer sind es einige. Und natürlich muß er zunächst soweit wie nur irgend denkbar vom Wege abkommen, ehe er die gesuchte Erlösung finden wird. Und, dieser Seitenhieb sei mir noch gestattet, es ist kein Wunder, daß die Geschichte eines jungen Mannes, der aus einem gehobenen Haushalt stammt, der sich um seinen Lebensunterhalt nie Gedanken machten mußte, der nichts anderes an Künsten vorzuweisen hat als Warten, Denken und Fasten und dessen einzige Sorge also darin besteht, sich selbst zu finden (und beziehungsweise, sich selbst loszuwerden, um im buddhistischen Sinne im großen ganzen Einen aufzugehen), eine ganz bestimmte Klientel besonders anspricht.

Nichtsdestotrotz: Wäre mir unmittelbar nach Beendigung der Lektüre ein Buddhist begegnet – gut möglich, daß ich heute in orangefarbenem Gewand nach dem Om suchen würde. Dieses Buch ist im wahrsten Sinne schön. Es ist ein Buch zum Versinken, zum Treibenlassen. Man kann darin eintauchen und geht erfrischt daraus hervor.
Oder, wie es der Hausheilige formulierte:

Hermann Hesse hat, fern vom Problematischen, immer gut gespielt: seine naturalistischen Schilderungen sind fast unübertroffen, kräftig im Ton, bunt in
der Farbe, sauber, voll Blut und Luft und Atmosphäre . . .

**

Suhrkamp bemüht sich redlich um Hesse, und so ist denn die Zahl

der lieferbaren Ausgaben

beträchtlich.

P.S. Im Übrigen behaupte ich, daß dieses schmale Büchlein einen ganz hervorragenden Einblick in buddhistische Denkweisen bietet. Wofür gelehrte Abhandlungen recht umfangreiche Lektüre erfordern, erschließt sich hier auf nur wenigen und zudem sehr viel leichter zu lesenden Seiten. Aber ich bin kein Religionswissenschaftler und beim besten Willen kein Buddhismus-Experte, ich mag mich da also auch irren. 😉


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*zitiert nach: Hesse, Hermann: Siddharta. Eine indische Dichtung. Suhrkamp Frankfurt/Main 2007. ISBN: 978-3-518-45853-2

**aus: Der deutsche Mensch. in: Werke und Briefe: 1927, S. 645. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 5367 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 295) (c)Rowohlt Verlag