Neujahrsansprachen rangieren auf der Hitliste der beliebtesten Zeitvertreibe eher nicht unter den Top Ten. Durchaus nicht zu Unrecht, denn, mal ehrlich, was soll man da schon groß sagen?
Die Auguren heutiger Tage (Wirtschaftsweise, Weltuntergangspropheten, Wirrköpfe sonstiger Couleur) lagen alle schonmal gründlich daneben. Verständlich, daß es da einen Hang zum Unkonkreten gibt, was die Ansprachen Offizieller natürlich noch öder macht. Denn schließlich wissen wir ja Dank Doc Brown, daß die Zukunft ein unbeschriebenes Blatt sei – jegliche Aussagen zum neuen Jahr sind also reine Orakelei.
Insofern gibt es nur eine gültige Neujahrsansprache, nämliche diese hier:
Laßt alle Hoffnung fahren.
Nichtsdestotrotz möchte ich den Hausheiligen zu Wort kommen lassen. Denn ganz so defaitistisch wie das depressive, Sartre zitierende Kastenweißbrot muß man die Sache nicht angehen.
Und eine Stimme sagte: „Und 1919?“ „Ja, und 1919?“ riefen alle. Das neue Jahr erhob sich und machte eine Verbeugung. In der Hand trug es eine kleine, elegante, lederne Reisetasche. „Was haben Sie dadrin?“ fragte 1918. „Darin trage ich ein Heilmittel für die da unten!“ sagte es. Und da wurde es ganz still.
„Darin trage ich den guten Willen. Ich darf es euch noch nicht sagen, was noch alles – aber das verspreche ich euch: wenn sie einer zu Räson kriegt, der gute Wille bekommt´s fertig. Der gute Wille der Niedergetretenen und der gute Wille der an die Freiheit Gekommenen. Der gute Wille der Staaten, nicht mehr Menschen zu knuten und einzusetzen wie totes Material – Menschen sind um ihrer selbst willen da! – Der gute Wille der Familie, Menschen zu erziehen und nicht nur zukünftige Onkel und Tanten und Vereinsmitglieder. Der gute Wille des Menschen, zu wissen, wofür er da ist, auf der bunten Erdkugel -: um seiner selbst willen, um seiner selbst willen, um seiner selbst willen!“
Und kaum hatte das Jahr ausgesprochen, da klangen großmächtige Glocken in den Saal, die Türen sprangen auf, und ein fernes brausendes Rufen drang durch die Luft. „Da – seht!“ sagte einer. Und obleich die alten Jahre das Schauspiel schon so oft gesehen hatten, kamen sie doch alle an die Tür und schauten: da hing die Erde groß und leuchtend in der Luft, wie ein ungeheurer Ball, es puffte und knallte und glühte auf ihr – da feierten sie Neujahr – „Ich muß gehen!“ sagte 1919 und verschwand.
„Prosit Neujahr!“ riefen die Jahre hinter ihm drein. Und ein ganz junges Jahr, das noch lange nicht herankommt – sein Name fängt mit zwei Nullen an -, krähte mit einer furchterregend pipsigen Stimme, im Diskant: „Und mach´ einmal Frieden da unten, du!“ – Und da lachten alle die alten Jahre brausend.
Und so wollen wir auch, wir, ich und du, in das neue, unbekannte Jahr hinübergehen, lachend, trotz alledem!“
All der gute Wille freilich nützt erst dann etwas, wenn er zur Tat wird („die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“**). Wünschen, Hoffen, Glauben, Beten – alles ganz wunderbare Sachen und wer die Kunst der Kontemplation beherrscht, dürfte daraus auch Ruhe und Kraft gewinnen. Wer aber wirklich etwas ändern will, wird um die Tat nicht herumkommen.
Und so mag das Schlußwort heute Gerhard Schöne gehören.
*zitiert nach: Die Jahre. in: Tucholsky, Kurt: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Texte 1914-1918 (=Bd. 2), Rowohlt. Reinbek 2003. S. 455
**nach: Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, Bd. 1, S. 385.