Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:
Peter Høeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels
Das Bildungssystem und seine Rolle in der Gesellschaft samt seinen Auswirkungen für den Einzelnen ist ein großes Thema. Wenn auch durchaus nicht gerade überrepräsentiert in der Literatur. Aber im heute empfohlenen Buch spielt das eine Rolle. Neben einigen anderen Fragen, denen Høeg nachspürt, ist es eben genau das: Wie können und wollen wir Kinder bilden und erziehen und wie gehen wir mit denen um, die sich nicht wie vorgesehen entwickeln? Was sich vor den Augen des Lesers abspielt, ist ein Experiment auf mehreren Ebenen, es ist das des Autor, des lyrischen Ichs und eben auch eines der handelnden Personen.
Ich hatte von Høeg vorher nur Fräulein Smilla gelesen, über die vielleicht auch noch zu reden sein wird, und er war mir als ein Autor in Erinnerung geblieben, der eine Spannungsgeschichte überraschend einfühlsam erzählen kann (der durchaus nicht schlechte Film übrigens enttäuschte mich genau deshalb, was da an Differenzierungen in den Personen fehlt, ist schon erheblich).* Im Plan von der Abschaffung des Dunkels geht es weit weniger dramatisch zu als bei Fräulein Smilla, dafür erleben wir einen sehr genauen, sehr tiefen Einblick in die Seelen von zum Scheitern verurteilten Menschen. Die Protagonisten seines Romanes sind für die sie umgebende Gesellschaft nicht greifbare, nicht fassbare Gestalten, sie funktionieren nicht so, wie das für sie vorgesehen ist. Sie denken anders, sie fühlen anders und sie spüren, daß sie im Konflikt mit dieser Welt stehen. Høeg macht das hier am metaphysischen Konzept der Zeit deutlich. Sein alter ego steht in Konflikt mit der Zeit, der Zeit als solcher. Und damit der Welt an sich, in der er nicht leben kann.
Ich erinnerte mich an zwei Dinge. Jesus hatte von der Zeit gesprochen. Die Leute hatten ihn gefragt, ob er ihnen das ewige Leben versprechen könne, also Freiheit von der Zeit. Darauf hatte er nicht wirklich geantwortet. […] Statt dessen hatte er dem jungen Mann, der ihn danach gefragt hatte, gesagt, was er tun solle, wenn er hier und jetzt zum Leben eingehen wolle. […]
Was soll man tun, wenn man hier und jetzt zum Leben eingehen will? Darauf hatte Jesus geantwortet. Das war das eine, was ich dachte.
Das anderer war: Vielleicht hatte Jesus auch versucht, die Zeit zu berühren, vielleicht war das sein Plan. In seinem Laboratorium, nicht im Stall mit der Krippe, sondern später. hatte er seine Gedanken gesammelt, um den Plan hinter allem zu verstehen. Dann hatte er zu denen, die ihm folgten, gesagt, sie sollten hinausgehen in die Welt und diesen Plan verraten, auch wenn das die natürliche Abneigung der Leute gegen sie erregen würde, so daß sie verfolgt und isoliert würden. Das sollten sie tun, damit alles, was geheim war, bekannt würde. Dann war er hinabgestiegen ins Totenreich.
(S. 138)**
Und auch Høegs Protagonisten wollen wissen, wollen sehen, was hinter allem steckt, welchem Plan, welchem Ablauf ihre Welt, die in diesem Falle eine Internatsschule mit hehrem Ruf ist, folgt. Beeindruckend, wirklich beeindruckend für mich ist seine Art, berührend zu schrieben. Es gibt Szenen in diesem Buch, die ich nur mit Tränen in den Augen lesen kann, weil sie mich so tief rühren. Wer weiß, welche Saiten er da trifft und womöglich läßt sich das nur schwer nachvollziehen und sehr wahrscheinlich hätte ich dieses Buch ganz anders gelesen, wäre ich noch nicht Vater. Doch die Frage, wie das, was wir “für die Kinder” tun, tatsächlich auf diese wirkt, ist eine kaum zu überschätzende. Um so schlimmer, wenn die Handelnden dann die Fähigkeit verlieren, ihr Handeln zu reflektieren, wenn sie im besten Glauben, das Richtige und Beste zu tun, verheerendes anrichten.
Ich habe jedenfalls selten so intensiv mit den Protagonisten eines Romanes mitgefühlt, mitgelebt, mitgelitten und mitgefiebert wie bei diesem.
Ehe ich nun vollständig in Gefühlsduselei abdrifte, mal noch eine kleine Stelle, die mir bei meinem heldenhaften Kampf für die Abschaffung der Bewertung in den musischen Fächern*** ob ihrer Plastizität sicher nützlich gewesen wäre:
Er zog sie hervor und faltete sie auseinander, es war eine Zeichnung auf einem großen weißen Bogen von der Sorte, die aus dem zeichensaal nicht entfertn werden durften.
Sie war mit Bleistift gemacht. Es gab eine Handlung, zwei Männchen bewegten sich von Bild zu Bild wie in einem Comic. Es war eine Kette von Gewalt.
Auf der Zeichnung waren eine Menge Leute, die erschossen wurden, unter anderem ein Mann und eine in einem Raum, vielleicht war es ein Krankenzimmer, vielleicht ein Klassenraum.
Abgesehen davon, daß es hart war, das anzusehen, war es, so unglaublich das schien, besser als die Wirklichkeit, also war er nicht auf allen Gebieten unfähig.
Er wollte dann wieder weiter die Wände entlang, doch allmählich kamen die Mogadons bei ihm an.
“Ich habe null Sterne gekriegt.”, sagte er.
[…]
“Versuch, den Hintergrund auszufüllen”, sagte ich. “Karin Ærø hält nichts von einem leeren Hintergrund, es darf nicht zuviel weißes Papier zu sehen sein, wenn man fertig ist.”
(S. 52f.)
Wer wissen will, ob der Tipp etwas taugt, möge nachlesen. 😉
Die Zahl der Bildungsromane ist durchaus nicht klein, jedoch genausowenig, wie sich Fräulein Smilla trotz eindeutiger Kriminalhandlung sinnvoll im Krimiregal unterbringen läßt, sperrt sich dieser stille, innige, empathische Roman gegen eine Genreisierung. Mich hat er jedenfalls über weit mehr als über Schule nachdenken lassen. Er geht viel tiefer.
Lieferbar ist das Buch derzeit in
*Ja, der Anteil an männlichen Buchkäufern hielt sich, zumindest meiner Erfahrung nach, sehr in Grenzen. Und wenn kauften sie es fast immer mit dem Ziel, es zu verschenken. Zumindest offiziell. 😉
**zitiert nach: Høeg, Peter: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels. Rowohlt Taschenbuch Reinbek. 13. Aufl. 2009
***Zugegeben, andere kämpfen mit 17 für größere Ziele. Aber alle Weltrevolutionsfans, die ich damals traf, erweckten in mir kein großes Vertrauen in einen baldigen Ausbruch eben dieser.