Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:
Thomas Mann: Die Buddenbrooks
Zugegeben, Thomas Mann zu empfehlen, ist nicht gerade originell. Allerdings war es von Anfang an eine Linie dieser Buchempfehlungsreihe, sich um Kanonisierungen nicht zu scheren. Und das gilt auch für die Literaten, die das Pech hatten, in den bildungsbürgerlichen Heiligenstand versetzt worden zu sein.* Es scheint in der Tat so, als sei Thomas Manns Einfluß auf die deutsche Literaturproduktion und -rezeption gar nicht zu überschätzen. Wie anders als durch des Konsuls langen Schatten wäre sonst die an eine Gesetzmäßigkeit erinnernde Formel „deutsche Geschichte plus Familienroman gleich Deutscher Buchpreis“ zu erklären?
Die Buddenbrooks stehen jedoch nicht nur für absehbare Preisgewinner** Pate, sondern auch für die immer wieder gerne diskutierte Frage der Kunstfreiheit vor dem Hintergrund der Schutzwürdigkeit von Persönlichkeitsrechten. Denn natürlich war für den kommerziellen Erfolg eines derart umfangreichen Werkes (es ist rührend, den Briefwechsel zwischen Samuel Fischer und Thomas Mann zu lesen, in dem der Verleger den Autor geradezu händeringend bittet, zu kürzen) äußerst nützlich, daß so etliche ehrenwerte Bürger der ehrenwertesten Stadt Lübeck sich darin karikiert zu finden glaubten. Wäre der Roman allerdings nur das, eine armselige Kolportage, so lohnte es sich nicht, heute auch nur noch ein Wort darüber zu verlieren.
Ist es aber nicht.
Die Buddenbrooks sind ganz im Gegenteil ein wirkliches, ein dauerndes, ein großartiges Meisterwerk. Und so sehr auch unsere Schulen und Literaturexperten versuchen, diesen Schriftsteller und insbesondere diesen Roman totzuloben: Manchmal, liebe Lesende, manchmal lohnt es sich trotzdem. Manchmal steht wirklich ein Buch im Kanon, das nicht nur im literaturhistorischen Kontext spannend ist, das nicht nur exemplarisch für irgendetwas steht.
Ich habe die Buddenbrooks zum ersten Mal mit 16 Jahren gelesen und mich hatte er sofort. Da ist eine Prägnanz und Eleganz in seiner Sprache, in seinem den Roman eröffnenden Defilee der Protagonisten, die mit wenigen Sätzen vollständig beschrieben werden – mir raubte das seinerzeit den Atem und ich finde es noch heute faszinierend:
»Was ist das. – Was – ist das…«
»Je, den Düwel ook, c´est la question, ma très chère demoiselle!«
Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knieen hielt.
»Tony!« sagte sie, »ich glaube, daß mich Gott –«
Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein[…]
Alle hatten in sein Lachen eingestimmt, hauptsächlich aus Ehrerbietung gegen das Familienoberhaupt. Mme. Antoinette Buddenbrook, geborene Duchamps, kicherte in genau derselben Weise wie ihr Gatte. Sie war eine korpulente Dame mit dicken weißen Locken über den Ohren, einem schwarz und hellgrau gestreiften Kleide ohne Schmuck, das Einfachheit und Bescheidenheit verriet, und mit noch immer schönen und weißen Händen, in denen sie einen kleinen, sammetnen Pompadour auf dem Schoße hielt. Ihre Gesichtszüge waren im Laufe der Jahre auf wunderliche Weise denjenigen ihres Gatten ähnlich geworden. Nur der Schnitt und die lebhafte Dunkelheit ihrer Augen redeten ein wenig von ihrer halb romanischen Herkunft;
(S. 8)
Toll.
Thomas Mann ist neben seiner bewundernswerten Sprachvirtuosität (auch wenn wir zugeben wollen, daß es sich hier um eine andere Art Virtuosität als die einer Juli Zeh oder einer Sibylle Berg handelt, die ihre Sätze weit kürzer zu fassen pflegen) vor allem ein glänzender Beobachter. Seine Figuren sind derart lebendig gezeichnet, daß man sich ihrem Bann nur schwer entziehen kann. Und auch wenn die Buddenbrooks dank ihres für Mannsche Verhältnisse schon überbordenden Plots zu Recht als sein unterhaltsamstes Werk gelten dürfen – es sind doch vor allem seine Figuren, die das Buch auch nach über 100 Jahren noch lebendig erscheinen lassen, völlig frei von irgendwelcher Klassiker-Patina erstehen auch für den heute lesenden Betrachter Figuren, denen ihr Menschsein nicht verlorengegangen ist. Denn eines gilt in der Kunst immer wieder: Wirklich gute Typisierungen gelingen nur ohne Typen. Gerade solche Figuren wie Tony Buddenbrook, für mich eine der mir liebsten literarischen Frauengestalten oder Bendix Grünlich, in seiner anschmeichelnden Widerwärtigkeit großartig getroffen, sind es, die bei aller zeitlichen Ferne zum Geschehen (die im Übrigen bezweifelt werden darf, denn Umbrüche aufgrund veränderter Produktivverhältnisse, das Zusammenbrechen althergebrachter Lebensformen unter der Last eines allgegenwärtigen Wandels etc. kamen ja nicht nur im 19. Jahrhundert vor…) mich auch heute ausrufen lassen:
Keine Angst vor großen Namen: Leute, lest Thomas Mann. Es lohnt sich. Wirklich.
Und damit das auch gleich beginnen kann, hier der Verweis auf die
*Auch wenn wir davon ausgehen dürfen, daß Thomas Mann selbst diesen Umstand nicht mit der Vokabel „Pech“ assoziiert hätte.
**Und Weihnachtsumsatzgaranten. Ich erwarte glänzende Geschäfte mit dem Ruge. Eben auch, weil er so kompatibel mit dem ist, was allgemein unter „guter Literatur“ verstanden wird.
***zitiert aus: Mann, Thomas: Die Buddenbrooks. (=Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 1) S. Fischer Frankfurt/Main. 1997