Mit neuen Augen – Ein Bericht

Der folgende Text erschien im Januar 2013-Rundbrief der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft und berichtet von der Jahrestagung eben dieser im Herbst in Rheinsberg. Ich veröffentliche ihn nun auch hier, um auch der geneigten Leserschaft die Möglichkeit zu geben, sich einen Eindruck verschaffen zu können:

Mit neuen Augen – Ein Bericht

„Zufall? Es gibt keinen Zufall, oder er sieht doch ganz, ganz anders aus, als man gemeinhin denkt …“1

Wenn es kein Zufall war, dann war es also ein anderer Grund. Aber es war zumindest keine abgesprochene Begegnung am 15. März 2012, als ich die Ehre hatte, Bernt Brüntrup zu den Zuhörern meiner Tucholsky-Lesung auf dem Leipziger Messe-Gelände zu zählen. Der rührige Schatzmeister dieser Gesellschaft hatte, wie wenige Mitlesende überraschen dürfte, keinerlei Scheu, mich im Nachgang anzusprechen und es war eben diese Begegnung, die mir den letzten Anstoß gab, das Eintrittsformular auszufüllen. Die Jahrestagung in Rheinsberg fand mich also als frischgebackenes Neumitglied, durchaus unsicher, ob ich mich im Kreise derer, die sich schon so viel länger mit Tucholsky beschäftigten, dieser Ehre würdig erweisen könnte.
Das Tagungsthema „Tucholsky und die Frauen“ war sicher angesichts des Tagungsortes ein durchaus naheliegendes, aber nichtsdestotrotz ja ein schier unerschöpfliches. Rolf Hosfeld eröffnete den Reigen mit der These, Tucholsky habe eine große Sehnsucht nach Nähe verspürt, gleichzeitig aber eben diese Nähe nicht aushalten können. Das wirkte durchaus schlüssig, wie auch seine ganze Biographie eher eine Neudarstellung schon bekannter Erkenntnisse als echter Neugewinn ist2, jedenfalls überzeugender als die Einschätzung Tucholskys als „Erotomane“, die mir eher zeitgenössische Verunglimpfung als belegbarer biographischer Tatbestand zu sein scheint. Die auf Hosfelds Vortrag folgende Diskussion lässt sich im Wesentlichen als Dokumentation eines Missverständnisses zusammenfassen. Der Autor meinte nicht dieses Publikum und das Publikum meinte nicht diesen Biographen. So redete man trefflich aneinander vorbei und leider verpufften die wenigen interessanten Ansätze zur Debatte schnell wieder.
Nichtsdestotrotz, es war ein lebhafter Auftakt und was kann einer Tagung besseres passieren? Mit der unmittelbaren Gegenüberstellung der beiden Ehefrauen Tucholskys und ihrer unterschiedlichen Schicksale war der Samstagvormittag der emotionale Höhepunkt des Wochenendes erreicht. Der Vortrag von Frau Dr. Sunhild Pflug über Else Weil am Samstagmorgen wird mich noch lange Zeit beschäftigen. Über Else Weil war bis vor wenigen Jahren recht wenig bekannt, was nicht nur Zufall ist. Wohl aber diesem zuzuordnen ist der Anstoß, der zum heutigen Kenntnisstand führte. Ein schlichter Gästebucheintrag von 1998 im Rheinsberger Museum, gezeichnet von Else Weils Nichte aus London, führte zu einem Fundus, mit dessen Hilfe zumindest Schlaglichter auf dieses tragische Leben geworfen werden können. Es ist die Erinnerung an Menschen, die Geschichte konstituiert. Und auch wenn sich nur wenige Menschen an die Frau erinnern werden, die einst der Rheinsberger Claire Modell stand – sie darf nicht vergessen werden. Diese starke, selbstbewusste Person, die an den Umständen ihrer Zeit scheiterte und die von Tucholsky in vielen Punkten nicht so behandelt wurde, wie es mindestens der Anstand verlangt hätte3, die als Ärztin den Großteil ihres Erwerbslebens als Kindermädchen verbrachte und die letztlich von den Nazis ermordet wurde – diese Frau darf nicht vergessen werden.
Ganz anders freilich verhält sich dies bei Mary Gerold-Tucholsky, die Ian King sehr lebhaft vorstellte, über deren Leben wir recht viel wissen und wohl noch mehr wissen könnten, hielte sie nicht zu Lebzeiten und auch testamentarisch die Hand darauf. Für das Andenken Tucholskys war sie in glatter Glücksfall, es gibt Schriftsteller und Künstler, die es in Sachen Witwen schlechter getroffen hat. Für eine biographische Forschung, die über den öffentlichen Menschen hinausgeht gäbe es sicherlich Herangehensweisen, die weniger strikt sind als es Mary Gerold-Tucholsky war. Doch so sehr dies für uns neugierige Nachgeborenen, die wir gerne den ganzen Menschen so genau wie nur möglich kennenlernen wollen, die wir gerne verstehen wollen, warum gerade seine Beziehungen zu Frauen so waren, wie sie nunmal waren, die uns sein verhalten manchmal schwer nachvollziehbar bleibt und die wir ahnen, dass Mary Gerold-Tucholsky dazu eine Menge hätte sagen können, unbefriedigend sein mag: Es war zum einen ihr gutes Recht, über ihr Privatleben nicht mehr bekannt zu geben als sie bereit war. Denn schließlich war es auch ihr Leben, waren es auch ihre Gefühle, ihre Verletzungen, ihre Glücksmomente und darüber zu schweigen hat sie jedes Recht der Welt. Auch wenn dies einer Generation Facebook, die für ein Mikrogramm Aufmerksamkeit ihr gesamtes Seelenleben bereitwillig der ganzen Welt zur Verfügung stellt, damit Konzerne ihre Werbung zielgerichteter streuen können, schwer nachvollziehbar sein mag, aber es gibt einen Unterschied zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zum anderen aber halte ich es für einen Glücksfall, dass eben über Jahrzehnte einzig Tucholskys Werk im Fokus stand und damit seine Texte allein es waren, die seinen Nachruhm, seine anhaltende Wirkung begründeten. Wohin sich das allgemeine Interesse entwickelt hätte, hätte Mary Gerold-Tucholsky eine andere Position bezogen, kann erahnen, wer sich mit Lisa Matthias und ihrem unseligen Lottchen-Buch beschäftigt.
Wie viel wiederum aus dem wenigen erkennbar und darstellbar ist, deutete die Lesung Klaus Bellins an. Wer dessen Buch noch nicht gelesen hat4, sollte dies umgehend nachholen. Mag es nun Zufall sein oder nicht: Aber zeitgleich zur geplanten Dampferfahrt veranstaltete die NPD mitten in Rheinsberg, in Sichtweite des Schlosses (und unmittelbar vor meiner gewählten Unterkunft) eine „Mahnwache gegen hohe Spritpreise“. So lächerlich dieser Anlass, so langweilig (selbst für Nazis) die Umsetzung mit dem stundenlangen Abspielen einer dreiminütigen Bandschleife auch war – es war wichtig, dort anwesend zu sein, Präsenz zu zeigen und sich entgegenzustellen. Ich bin froh, dass einige Tagungsteilnehmer ebenfalls dort waren. Für mich war auch dies eine Art, an Else Weil zu erinnern. Noch ergriffen von Frau Dr. Pflugs Darstellung ihres Lebens und besonders ihres von Flucht, Internierung und Ermordung geprägten Endes, fand ich es unerträglich, dass ausgerechnet vor dem Schloss, mitten in der Stadt, in der sie ihre vielleicht besten, schönsten Stunden mit Tucholsky verlebte, heute die Nazis stehen und erzählen, eine volks- und raumorientierte Politik würde all unsere Probleme lösen. Das war ich mir, ihrem Andenken und dem Werk des kleinen dicken Berliners, der mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte.5
Und dann gab es noch einen ganz besonderen Moment, für den ich Herrn Böthig überaus dankbar bin: Das Museum hat nämlich einen ganz besonderen Schatz: Die Nr. 1 der ledernen Sonderausgabe von „Rheinsberg“, in eigener Schachtel, gewidmet und mit eigenem Monogramm für Claire Pimbusch. Das Gründungsdokument des Museums sozusagen, in einem exzellenten Zustand und jeden Cent der 10.000 € Anschaffungskosten wert. Ich freue mich auf die angekündigte Faksimile-Ausgabe und bin bis dahin froh, das Buch in den Händen gehalten zu haben. Und damit möchte ich diesen Bericht eines Neumitglieds beenden, denn über den Film des Abends wollen wir lieber den Mantel des Schweigens legen.
Es war mir eine große Freude, an dieser Tagung teilgenommen zu haben. Ich habe selten bereichernde Tage verbracht und durfte viele interessante, begeisternde Menschen kennenlernen. Die durchaus unterschiedlichen Herangehensweisen und Positionen zu Tucholsky stehen durchaus in Korrespondenz zur Vielfältigkeit seines Lebens und Werkes und so freue mich auf viele Jahre gemeinsamer Arbeit und weiterer gemeinsamer Erlebnisse. Und ich hoffe doch, dass der Zufall auch dabei seine Hände im Spiel haben wird.


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1aus: Erfolgreiche Leute. In: Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 10075 (=Digitale Bibliothek, Band 15). Directmedia Berlin 1999. (vgl. Tucholsky-DT, S. 661, Rowohlt Verlag)
2Hierzu schließe ich mich vollumfänglich der Einschätzung Friedhelm Greis´ an. Und bekräftige meinerseits noch einmal, dass dies Hosfeld nicht anzukreiden ist. Denn es gibt immer noch Menschen da draußen, die Tucholsky nicht kennen (so merkwürdig uns das erscheinen mag) und an jene ist diese äußerst gut zu lesende Biographie gerichtet.
3Wer immer in Versuchung geraten sollte, in Tucholsky, der alles in allem wirklich ein großartiger Mann war, einen mustergültigen Heiligen zu sehen, betrachte dieses Kapitel seines Lebens und sollte damit dieser Versuchung widerstehen können. Wenn sich Menschsein durch Fehlerhaftigkeit dokumentiert, so war er wohl nur selten so sehr Mensch.
4Bellin, Klaus: Es war wie Glas zwischen uns. Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky. Verlag für Berlin und Brandenburg. 2. Auflage (1. Aufl. der ungek. Neuausgabe) Berlin 2011.
5So Kästners weit bekannte Einschätzung Tucholskys im Vorwort zur 1946er Anthologie „Gruß nach vorn“. Diverse Ausgaben, zuletzt: Kästner, Erich (Hrsg.): Gruß nach vorn. Eine Auswahl.

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