Friedensfahrer möcht’ ich am liebsten sein

Es ist schon eine ganze Weile her, dass das letzte Mal »TV-Total« gesehen habe. Die Gründe, warum mich diese Sendung einmal reizte und dies nun nicht mehr der Fall ist, überlasse ich der Erforschung dazu berufener Menschen (Psychotherapeuten zum Beispiel oder Biographen – mal sehen, wer schneller ist). Worum ich aber Herrn Raab damals wirklich beneidete war seine offenkundige Möglichkeit, sich bei »Raab in Gefahr« jeden »Kleine-Jungs-Traum« zu erfüllen, der ihm einfiel. Wobei »Neid« die Sache nicht ganz trifft, da ich ihm das wirklich aus ganzem Herzen gegönnt habe – wie ich ja jedem Menschen seine Optionen gönne.
Am Pfingstsonntag nun fuhr ich mein erstes Radrennen, sportlich nicht weiter von Belang, es war die 30km-Strecke des Jedermann-Rennens im Rahmen der »neuseenclassics« in Zwenkau. Flach, kurz und zu einer Uhrzeit, zu der die meisten Menschen noch nicht einmal ans Aufstehen denken würden. Viel unbedeutender geht es kaum. Aber für mich war es großartig. Warum? Nun, da wollen wir Psychotherapeuten und Biographen mal Futter geben:

1988 endete die 12. Etappe der Friedensfahrt in Halle, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Wir wohnten nicht weit vom Ziel entfernt und so konnte ich in Ruhe die Fernsehübertragung anschauen und kurz vor der Ankunft* das Haus verlassen, um das Feld vorbeijagen zu sehen.**
Zu dieser Zeit war ich, darin ganz Kind meiner Zeit (und als 10jähriger darf man ja Kind seiner Zeit sein), ein glühender Verehrer des Radsports im Allgemeinen und der Friedensfahrt im Besonderen. Der Band »Jedesmal im Mai« wurde von mir mehrfach gelesen und, vor allem, liebevoll statistisch fortgeführt. Da aber ein großes Rennen im Jahr doch recht wenig ist, habe ich im Kopf noch sehr viele weitere Rennen ausgetragen, in denen mein alter ego Dramen ungeahnten Ausmaßes zu bestehen hatte, aus denen er keineswegs stets als Sieger hervorging***, aber selbstverständlich bei Karriereende als Legende ging, gegen die ein Eddy Merckx geradezu verblasst.
Die Helden meiner Jugend hießen also Uwe Rabb, Olaf Ludwig, Uwe Ampler, Mario Kummer oder Jens Heppner. Ich kannte den Olympia-Vierer und freute mich auf die zwangsläufig zu erwartenden Erfolge des »Täve«-Sohns Jan****. Und natürlich war »Friedensfahrer« eine ernsthafte Karrieroption für mich. Es kam anders.
Dann wurde es Frühjahr 1990 – und schneller als man »D-Mark« sagen konnte, waren alle meine Helden auf einmal aus der DDR verschwunden, fuhren nicht mehr für Hammer, Sichel und Ährenkranz, sondern für Heimelektronikhersteller oder sonstige Ausgeburten des Kapitalismus. Für mich, noch nicht einmal 12 Jahre alt und bisher doch sehr davon überzeugt, auf der richtigen Seite des antifaschistischen Schutzwalls zu leben, war das ein großer Schock. Es war natürlich auch für mich offensichtlich, dass das mit der DDR so wohl nicht mehr weiter funktionieren würde und dass es eine Übernahme durch die BRD geben würde, in welcher Form auch immer, erschloss sich selbstverständlich auch einem Kind – ich war jung und naiv, aber nicht blöd. Aber dieses bei der erstbesten Gelegenheit Land und Fans zu verlassen, empfand ich damals als Verrat. Ich meine: Eine Friedensfahrt ohne Ludwig und Ampler? War ja klar, dass Svoroda gewinnen würde.
Meine Enttäuschung hat sich heute freilich gelegt und natürlich taten die Radsportler damals das einzig Richtige. Es dauerte allerdings trotzdem eine Weile, bis ich wieder Frieden mit dem Radsport und seit 1992 schaue ich mir natürlich auch die einst verpönte »Tour de France« an.
Ich bin allerdings trotzdem weder Friedensfahrer noch Radprofi geworden, denn merkwürdigerweise muss man dafür tatsächlich andere Dinge tun als Bücherregale leerzulesen oder vor sich hinzuträumen. Das könnte auch dahinter stecken, warum mein Vater mir einmal dieses Lied (Text ) vorspielte.
Nunja, heute bin ich also Buchhändler und Verleger, was ja zum Lesen und Träumen auch etwas besser passt.
Aber tief in mir drin sitzt eben doch immer noch der kleine Junge, der Heldentaten auf dem Rennrad vollbringen möchte – und dieser freute sich am Sonntag ungemein. Es war ein winziges Rennen, es ging um praktisch nichts, ein Sieg war vollkommen ausgeschlossen (es ging eher darum, vorm Besenwagen ins Ziel zu kommen) und trotzdem war alles drin, was ein Radrennen braucht. Ich fühlte mich, trotz der problematischen Startzeit von 7:30 Uhr recht gut und fand ca. 1km nach dem Start meine Gruppe. Naja, also die fand eher mich. Ich bin ein furchtbar schlechter Gruppenfahrer, da ich immer unruhig werde, wenn ich nicht meinen Rhythmus in meinem Tempo fahren kann, was einigermaßen blöde, da dann sehr schnell das passieren kann, was mir denn auch passierte: Ich war ständig vorne im Wind. Aber das passt ja zu großen Helden. 😉
Die verschiedenen Versuche, sich von der Gruppe zu lösen konnte ich abwehren (ich hatte keine Ahnung, auf welchem Platz ich lag, aber den wollte ich zumindest nicht hergeben) – einmal war das ziemliche Kraftverschwendung, weil der Kollege nach der nächsten Kurve aus dem Rennen ausstieg. Ca. 3km vor dem Ziel allerdings löste sich tatsächlich jemand erfolgreich, es war dies der eine Fahrer, der ganz selten auch mal vorne fuhr. Ich konnte also zunächst nicht folgen. Die Radfahrer-Grundregel befolgend behielt ich also meinen Rhythmus bei (das ist wichtig, denn 3 Kilometer sind nicht viel, aber es ist doch mehr als nichts und man weiß nie, ob sich der da vorne nicht doch übernimmt. Einholen kann man ihn aber eben nur im Rahmen der verfügbaren Kräfte, werden die verpulvert, in dem man ein Tempo mitzugehen versucht, das man nicht halten kann, läuft man Gefahr, sich sehr viel weiter hinten wiederzufinden als geplant…) und kam auf die letzten 500 Meter als vorletzter der 5köpfigen Gruppe – einen halben Kilometer später fuhr ich als Sieger des Sprints um Platz 99 souverän vor den anderen ins Ziel. Der kleine Junge in mir jubelte laut auf.
Mein Endorphin-Wert hätte mich da mal interessiert.

Achja, und gestern habe ich mich für ein Jedermann-Rennen am 01. Juni angemeldet…

P.S.: Wen der Themenkreis »Gachmuret und das Fahrrad« noch mehr interessiert, ein paar Anspieltipps:

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*Soweit ich mich entsinne, hatte man gerade, wie auf Flachetappen nicht unüblich, die Ausreißergruppe wenige Kilometer vor dem Ziel gestellt. Die Streckenführung muss übrigens ein Traum gewesen sein, denn es gehört einige Kunst dazu, aus der Strecke Leipzig-Halle eine 154km-Tour zu machen. 😉
**Aus der Nähe betrachtet wirkte Abduschaparows unmöglicher Sprintstil übrigens auch nicht fairer als im Fernsehen. Womit ich im Übrigen auch nicht ausschließen möchte, dass es sich um die 89er Etappe handelte, bei der ihm nachträglich der Sieg aberkannt wurde. Ich muss gelegentlich mal ins Zeitungsarchiv schauen. Je länger ich nämlich darüber nachdenke, desto mehr kommen mir Zweifel…
***Zu jedem großen Sportler gehören unbedingt auch große Dramen. Die Quote war aber nichtsdestotrotz natürlich beeindruckend.
****Der damit ein ähnlich schweres Erbe zu tragen hatte wie Axel Merckx. Ich würde heute anders an die Sache herangehen, solche Vergleiche sind immer unfair. Aber offenbar kommen wir aus dem Blutsbanden-Mythos nicht so einfach raus.

Ein Kommentar zu „Friedensfahrer möcht’ ich am liebsten sein

  1. Ich bin bei der Friedensfahrt ’86 im Clara-Park zur Zieleinfahrt gewesen, am nächsten Morgen beim Start und am Nachmittag bei der Zieleinfahrt in Halle. Das war einmalig, und diese Aussage hat nichts damit zu tun, dass es das erste und einzige Mal war, dass wir solch eine Verrücktheit unternahmen.

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