Ich muss gestehen, meine HardCore-Marc-Uwe Kling-Fanphase ist schon einige Jahre her (Exhibit A: Gachmurets dritte Kulturwoche: Kabarett vom Februar 2010). Genau so wie ich die Radiokolumne sehr mochte, habe ich auch die ersten Känguru-Bücher mit großer Freude gelesen.
Der Guerilla-Kommunismus des Kängurus erfreut mich auch heute immer wieder. Der überragende kommerzielle Erfolg hat mich verwundert und skeptisch gemacht. Auch heute beschleicht mich durchaus das Gefühl, dass nicht alle bei dem Take Mein – Dein, das sind doch alles bürgerliche Kategorien aus denselben Gründen lachen. Tatsächlich verfolge ich Klings Arbeit eher deshalb noch mit, weil die Traumtochter™ großer Fan ist.1
Will sagen: Seit fast 15 Jahren habe ich kein Buch mehr von ihm gelesen – zwischenzeitlich hat Kling eine beachtliche Bestseller-Karierre hingelegt und das Genre der WG-Berichte aus dem Zusammenleben mit einem kommunistischen Känguru, das früher beim Vietkong war, weitgehend verlassen. Dies nur als Vorrede, um zu verdeutlichen, dass ich durchaus nicht unvoreingommen an Views herangegangen bin.
Das Buch wird als Thriller beworben, und das geht soweit auch in Ordnung. Im Mittelpunkt steht die BKA-Kommissarin Yasira Saad, die in einen Aufsehen erregenden Fall involviert wird. Die 16jährige Lena Palmer verschwindet – zunächst ein lokaler Fall, der außerhalb der Harzregion zunächst keine Bedeutung erlangt. Doch dann taucht ein verstörendes Vergewaltigungsvideo auf und die Welt gerät aus den Fugen. Schnell gibt es massive Demonstrationen, die Täter werden schnell als Geflüchtete bezeichnet und dass die leitende Ermittlerin beim BKA den Namen Yasira Saad trägt, befeuert die sich rasant militarisierende deutsche Gesellschaft zusätzlich. Dementsprechend geraten nicht nur alle, die den Tätern im Video ähnlich sehen, in akute und konkrete Gefahr, sondern auch Yasira persönlich und ihre Tochter. Außerdem erscheinen in kurzer Schlagzahl weitere Videos, etliche davon von einer Gruppierung, die sich “Aktiver Heimatschutz” nennt und neben Hass auch konkrete Aufstandsforderungen verbreitet. Kurz: Die Gewaltspirale wird ihrem Namen mehr als nur gerecht.
Marc-Uwe Kling hat hier einen straighten Thriller geschrieben, der geübte Thriller-Leser:innen womöglich nicht vor übermäßige Herausforderungen stellt, aber er schont sein Publikum durchaus nicht. Sowohl die Handlung als auch die beschriebenen Videos sind durchaus gewaltvoll, wenn auch nicht überzogen explizit und die Gewalt selbst steht auch nicht im Vordergrund, das macht es erträglicher. Im Vordergrund steht die sich immer schneller drehende Eskalationsspirale, die es kaum noch möglich zu machen scheint, noch seriöse Ermittlungsarbeit zu leisten. Insgesamt habe ich das gerne gelesen, mich hat der Thriller in Bann gezogen und das ist ja letztlich Hauptaufgabe von Spannungsliteratur. Ein paar Anmerkungen habe ich noch, aber zunächst einmal die Detail-Angaben zum Buch:
Marc-Uwe Kling: Views : Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2024, 269 Seiten, ISBN 978-3-550-20299-5, 19,99 €. Auch erhältlich als ebook und Hörbuch.
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An dieser Stelle ein Break: Ich kann nicht weiter schreiben, ohne konkret auf Handlungsstränge einzugehen. Daher eine unbedingte SPOILER-WARNUNG.
Yasira steht in diesem Fall also vor zahlreichen Herausforderungen, die politischen Dimensionen des Falls reichen letztlich bis zu einem möglichen Putsch. Mit ihrem Team kann sie Dank der Protektion durch Ihren Vorgesetzten zunächst einmal sehr unbehelligt ermitteln. Als aber die Lage immer weiter eskaliert und sie zudem keine greifbaren Erfolge vorweisen kann, rücken auch ihre Familie und die Herkunft ihrer Eltern in den Fokus.
Dementsprechend hat sie es schwer, eine Idee einzubringen, die ihr recht zeitig kommt: Was, wenn die Videos gar nicht echt sind, auch nicht die bald auftauchenden, sie selbst kompromittierenden Videos?
Kling hat in diesem Thriller eine klar erkennbare Botschaft: Er möchte warnen oder doch zumindest sensibilisieren, was passiert, wenn wir unseren Sinnen nicht mehr trauen können. Was passiert, wenn generative KI in der Lage sein wird, absolut überzeugende Beweise herzustellen? Das ist nicht einmal übermäßig weit in die Zukunft gedacht und es ist absolut wahrscheinlich, dass dies – wenn noch nicht heute, so doch in naher Zukunft möglich sein wird und dann auch genutzt werden wird.
Es gibt bei einem solchen Ansatz aber eine große Gefahr: Es kann passieren, dass die Botschaft so zentral wird, dass die Literatur auf der Strecke bleibt. Grandios gescheitert ist daran aus meiner Sicht zum Beispiel Dave Eggers. Aber auch Sibylle Berg hat mich in ihrer GRM-Reihe nicht überzeugt – auch wenn ihr das besser gelungen ist.
Aus meiner Sicht überzeugt in dieser Hinsicht auch Marc-Uwe Kling nicht. Mir ist das ein bisschen zu sehr Holzhammer-Methode, mit der er hier arbeitet. Einerseits lässt er die Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit kollabieren, angestachelt von einer schier übermächtigen Erregungsmaschinerie, andererseits lässt er einen hilflosen, passiven Staat kaum agieren. Lediglich seine Protagonistin hat hier überhaupt einen aktiven Teil und es gelingt ihr mit geringen Mitteln, die Lawine plötzlich zu stoppen. Das ist leider alles sehr durchschaubar. Und, was mich besonders stört: Wenn man eine so wichtige Botschaft hat, braucht es überzeugende Charaktere, die mehrdimensional gestaltet werden, eine Handlung, die im Gedächtnis bleibt, Aha-Momente, die Nachdenken auslösen.
Nichts davon passiert hier. Das ist ein handwerklich sauber gearbeiteter Spannungsroman – aber mehr halt auch nicht und das führt dazu, dass der Bösewicht halt genauso austauschbar ist, wie er es bei entsprechend gearbeiteten Romanen eben ist. Das wird nicht dazu führen, dass die Botschaft (die ich hier zugegebenermaßen unterstelle) durchdringt. Die mit viel Aufwand aufgebaute Gefahr verpufft beim Lesenden einfach. Man legt das Buch zur Seite, denkt sich, ja schlimm, schlimm, diese KI und nimmt das nächste Buch vom Stapel.
Das ist extrem schade, denn das Thema ist virulent und es bedarf dringend einer gesellschaftlichen Antwort und Vorbereitung. Sibylle Berg hat übrigens zu ihrem Thema konsequenterweise dann auch ein Sachbuch dazu veröffentlicht. Das wiederum ist unbedingt empfehlenswert und sehr anregend. Nur: Ein Sachbuch erreicht natürlich ganz andere Menschen als die unterhaltende Literatur und insbesondere die Spannungsliteratur. Deren Reichweite und – vor allem – erzählerischen Mittel zu nutzen, ist ein kluger und sinnvoller Ansatz. Leider wurde hier viel Potential verschenkt.
Gelungene Beispiele sind da aus meiner Sicht etwa Der Report der Magd (The Handmaids Tale) von Margaret Atwood und aus jüngerer Zeit Paradise City von Zoë Beck.