In memoriam Florian B. (1977-1994)

CN: Suizid

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Rainer Maria Rilke

Der Text des Gedichts Schlußstück steht auf dem aufwändig gestalteten Grabstein eines Menschen, der heute vor 30 Jahren sein Leben beendete. Nach meinem damaligem Verhältnis zu ihm befragt, wäre – und war – meine Antwort: Bester Freund. Und aus eigenem Erleben oder aus den Regalmetern von Coming-of-Age-Literatur dürfte allgemein bekannt sein: Mit 16 heißt das wirklich was.

Wir besuchten damals ein Sprachgymnasium, für dessen Aufnahme man sich hatte bewerben müssen. Zumindest ich gehörte damals definitiv zu den Nutznießern der Quote, denn es sollte ja kein reines Mädchengymnasium werden und so schafften es auch ein paar Jungs in die klar weiblich dominierten Klassen. Auch wenn ich weiß, dass ich mich zu verschiedenen Gelegenheiten idiotischst aufgeführt habe und es reichlich Dinge gibt, die ich bereue – die Konstellation ließ dennoch weniger Raum für Männlichkeitsrituale und ich möchte behaupten: auch weniger Notwendigkeit. Es gab die Doppelkopfrunde und es gab die Skatrunde – fertig. Ich bin ziemlich sicher, ich wäre an vielen anderen Schulen als Junge mit merkwürdigen Interessen sehr viel schlechter behandelt worden. Aber hier waren wir alle etwas merkwürdig.1

Aber natürlich war dennoch der eine oder andere coolere als der andere. Und der unzweifelhaft Coolste unserer Klasse war Flo. Flo saß fast immer in der hintersten Reihe – wobei die Lehrenden wohl kaum von Sitzen gesprochen hätten, er hing mehr da. Oder lag halb auf dem Tisch. Überhaupt war Körperspannung nicht so sein Ding, auch im Laufen musste ernsthaft Sorge bestehen, dass er nach vorne umkippt oder in sich zusammensackt, dabei hing immer mindestens ein In-Ear-Kopfhörer im Ohr. Und so lässig wie er trug wohl höchstens noch Kurt Cobain leicht zu groß geratene Hemden in Holzfälleroptik – natürlich offen überm T-Shirt. Während ich das schreibe, fällt mir auf: Wollte ich mich heute cool anziehen, es liefe wohl immer noch auf einen solchen Look hinaus. Seine Wohnung lag auf meinem Schulweg und ungefähr 2 Minuten von der Schule entfernt. Ihr dürft also raten, wann wir ankamen – richtig, mit dem Schulklingeln (das ist insofern wirklich bemerkenswert, als dass die Schule ja kein dezidiertes Einzugsgebiet hatte). Die mit dem kürzesten Weg kommen immer als letzte.2

Flo war ungemein witzig, er war charmant, er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die mir imponierte. Und bei aller Nonchalance war er immer auf der Höhe und konnte sich stets zu allem äußern – und ein fläzender Jugendlicher war auch an einem We’re all mad here-Gymnasium eine Provokation, der nicht viele Lehrkräfte widerstehen konnten. Aber: Er hatte es halt drauf. Dass jemand nicht so aussieht, als würde er zuhören, heißt nicht, dass er tatsächlich nicht zuhört.3

So sehr mich selbstverständlich Flos Attitüde beeindruckte, für mich war er der Mensch, mit dem ich täglich Stunden verbrachte: Mit dem ich Schach spielte, mit dem ich Doom spielte (erzählt mir nichts von Let’s Plays, früher™ gab es Let’s Plays in jedem Jugendzimmer mit Computer), mit ich Guns N’ Roses und Metallica hörte, mit dem ich die Welt analysierte und mit dem ich fachsimpelte, wer in diesem Jahr wohl Zweiter hinter Indurain werden würde – während wir uns darüber amüsierten, dass sie bei Eurosport schon wieder nicht mitbekamen, dass sie über die falschen Radfahrer in der Ausreißergruppe sprachen…

Will sagen: Wir haben wahnsinnig viel Zeit miteinander verbracht, wir haben sehr viel miteinander gelacht und als unsere Familie bei einem Wohnwagenbrand nur knapp einer Katastrophe entkam, war er es, der bei mir klingelte und die überaus erwachsene Frage stellte, wie er helfen könne. Er war einfach immer da.

An jenem Morgen vor 30 Jahren kam ich wie gewohnt knapp vor Schulbeginn auf dem Hof an – und da standen die Jungs der Doppelkopfrunde: Der eine versteinert, der andere in Tränen. Und mir schoß nur ein Gedanke durch den Kopf: Flo!

Der Rest des Tages ist weiterhin wie hinter dem Schleier, der sich damals schon auf den Tag senkte. Ich weiß, dass sein völlig verzweifelter Vater uns berichtete, was passiert war. Ich weiß, dass ich irgendwann nach Hause ging. Mein erster Satz, an den ich mich erinnere, war: Aber er war doch so ein guter Schachspieler, er weiß, dass man eine Partie nicht aufgibt, bevor sie zu Ende ist. Man sagt im Schmerz sehr seltsame Sachen.

Natürlich war das ein Thema für den Boulevard (Selbstmord am Elite-Gymnasium, da läuft der Geifer von alleine aus dem Mund) und ich bin sehr froh, nicht damit in Berührung gekommen zu sein.4 Die Tage danach sind für mich bis heute ein Nebel. In einer Übersprungshandlung hatte ich am nächsten Tag alle meine GN’R und Metallica-Kassetten weggeworfen – ich wollte es nicht mehr hören, wenn ich es nur noch ohne ihn hören konnte.

Woran ich mich erinnere, sind die Besuche bei Florians Eltern. Ich weiß seither ziemlich genau, was in den Stunden vor seinem Tod geschah – so genau, dass ich den Moment vor seinem Tod geradezu vor Augen zu haben glaube. Helfen, zu verstehen, konnte ich den beiden aber nicht. Ihre verzweifelte Suche nach einer Antwort war unübersehbar und in jedem Moment greifbar. Mit der Zeit aber veränderten die Besuche sich, sie schienen mehr am Fortgang unseres Lebens zu haben, es ging um Alltagsthemen und Zukunftspläne. Irgendwann ging ich nicht mehr hin. Arroganz der Jugend? Selbstschutz? Ich weiß es nicht. Ein paar Jahre später stand ich nochmal an der Tür, aber ich drückte die Klingel nicht. Und als ich Bewegungen hinter der Gardine wahrnahm, flüchtete ich schnell. Das bereue ich heute. Ich hätte den Arsch in der Hose haben sollen.

Doch natürlich trieb auch mich die Frage nach dem Warum um.5 Und die Suche nach den Anzeichen. Hätte ich etwas tun können? Hätte ich etwas bemerken müssen? Im Nachhinein finden sich immer Dinge: Er war zurückgezogener als früher, hatte nicht mehr dasselbe wache Interesse, wirkte alles in allem sehr viel mehr in Null-Bock-Stimmung. Tatsächlich erinnerte ich mich mal, dass er sogar gesagt hatte, er wäre auf der Suche nach jemandem, der ihn erschießen könnte. Aber ich nahm das nicht ernst: Denn ganz ehrlich – damit fiel man jetzt als Teenager in den frühen Neunzigern nicht wirklich auf.

Was ich heute weiß: Es sind weniger die konkreten Zustände, es ist die Veränderung der Persönlichkeit, die aufmerksam machen sollte. Schaut euch die Menschen an, die euch wichtig sind und die ihr gut kennt. Wenn die sich substantiell verändern – ignoriert es nicht. Mein 16jähriges Ich wusste das nicht. Was mich aber dennoch nicht loslässt: Ich wäre so gerne für ihn da gewesen. Mir fiel erst im Nachhinein auf, wie wenig es in unseren Gesprächen um ihn ging. Er hatte sich nie wirklich geöffnet – und ich wäre so gerne der Mensch gewesen, dem er sich hätte öffnen können. Und so sehr er mir seit 30 Jahren fehlt – wie einsam muss er sich gefühlt haben.

Als wir beim 20jährigen Abiturtreffen alte Filmaufnahmen von Klassenfahrten anschauten, brach ich hemmungslos in Tränen aus. Es verging seit 30 Jahren nahezu kein Tag, an dem ich nicht irgendwie an Flo gedacht hatte und der Schmerz ist nicht vergangen, das haben mir die Bilder unerbittlich vor Augen geführt. Und doch hätte ich diese Aufnahmen gerne – aber ich habe zu niemandem mehr Kontakt.

Stattdessen fahre ich jedes Jahr einmal zu Florians Grab, stelle dort etwas ab und erzähle ihm von meinem Leben. Wie so ein alter Mann. Und wie wahnsinnig gerne hätte ich seine Antworten gehört.

Und ich bringe es trotz aller sehr sehr guten Argumente nicht über mich, die alten GN’R- und Metallica-Alben von meinen Playlists zu werfen – oder nicht mehr Radsport zu schauen. Ich kann es nicht, dieses ferne Echo ist alles, was ich noch von ihm habe.

  1. Aus heutiger Perspektive wünschte ich, ich hätte noch viel mehr davon profitiert, aber leider war auch ich nicht frei von allen Prägungen, die das Patriarchat so mit sich bringt. Aber ein paar Sachen betrachte ich heute als echten Schatz:
    a) Dass es sehr viele, sehr kluge Frauen gibt, musste ich nicht mühsam lernen – das war offenkundig, da waren ja alle klüger als ich.
    b) Ich arbeite bis heute sehr viel lieber mit Frauen zusammen, das ist einfach ein ganz anderes Professionalitäts-Level (sorry guys).
    c) In der Schule erleben zu können, dass es okay ist, ich zu sein – das war und ist ein großes Pfund. ↩︎
  2. Auf dem Weg mussten wir an einem alten Heizhaus vorbei, das am Ende einer Sackgasse stand. Gelegentlich fuhren dort Autos hin, um zu wenden. Eines Tages standen da mal zwei hintereinander und konnten sich nicht sehr schnell einigen, wie sie mit der Situation umgehen wollten. Da wir an diesem Tag zu spät kamen, galt seither Stau am Heizwerk als vollgültige Erklärung, sollte unser auf Kante genähtes Zeitmanagement mal wieder nicht aufgehen… ↩︎
  3. Eh ihr fragt: Ja, natürlich war er gut im Sport. Er konnte als einziger einen Flip springen – und er war irrsinnig gut im Badminton. Aber bei Ausdauersport, da war ich besser. 😉 ↩︎
  4. Mein Vater war sehr dagegen, dass ich am nächsten Tag wieder zur Schule ging. Gerade wegen der zu erwartenden Witwenschüttler. Er gab mir mehrere Ratschläge, wie ich mit denen umgehen sollte. Ich wollte das nicht hören und ich war stinksauer. Gehört auch zu den Dingen, die ich heute etwas anders beurteile… ↩︎
  5. Ein Mädchen aus der Parallelklasse hat einen Tag zuvor mit ihm Schluss gemacht. Wir blieben einige Zeit in Kontakt, aber leider ist es mir nicht gelungen, zu ihr eine dauerhafte Verbindung aufzubauen. Ich kann also nur wünschen, dass sie die Hilfe bekommen hat, die sie brauchte. Denn natürlich war das nicht der Grund – aber sie hatte sich furchtbare Selbstvorwürfe gemacht und ich befürchte, meine hilflosen Worte waren da kaum ausreichend. ↩︎

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