Kamillentee ist keine Option: Gedanken zu Tucholskys Pazifismus

Vorbemerkung: Dies ist der zweite Blogpost, der initial durch einen Social Media-Post des großartigen Frédéric Valin ausgelöst wurde. Der erste solcherart motivierte Post (gefühlte Äonen her) war dieser zu Marianne Fredriksson und meine zerstörten Lektüreprinzipien.

Auf dieser Website ist schon des öfteren die Position vertreten worden, dass es keine Frage des modernen Lebens gibt, zu der Kurt Tucholsky nichts zu sagen hätte. Es wäre aber ein Missverständnis, darin ein Schon der große Meister wusste zu sehen und nun anzunehmen, seine Texte als unabänderliche, endgültige Wahrheit und Weisheit zu betrachten. Das wäre zudem entsetzlich langweilig. Denn natürlich hat es in den rund 100 Jahren seit der Entstehungszeit reichlich Entwicklungen gegeben. Der besondere Reiz besteht aus meiner Sicht jedoch in der Auseinandersetzung mit diesen historischen, aber eben nicht völlig fremden Texten (ich glaube auch, dass die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Epen spannend ist, aber die Transferleistung ist naturgemäß ungleich größer).

Während es einige Suche bräuchte, um beispielsweise Tucholsky in Beziehung zu etwa Smartphones oder Large Language Models zu setzen, stehen interessierte Menschen zum Themenkomplex Krieg, Militarismus und Pazifismus vor dem gegenteiligen Problem: Die Fundstellen sind unermesslich. Von den überlieferten rund dreieinhalbtausend Texten beschäftigen sich nur wenige überhaupt gar nicht damit. Spätestens nach 1918 ist der Weltkrieg (damals zählte man noch nicht – und das ist entscheidend), seine Ursachen, Auswirkungen und die Verhinderung einer Wiederholung omnipräsent. Dementsprechend unmöglich ist es mir, hier eine Gesamtbetrachtung und letztgültige Darstellung von Tucholskys Pazifismusverständnis zu geben.

Aber mich plagt ein wenig die Bequemlichkeit der lauten Stimmen der Friedensbewegung, die sich entscheidenden Fragen nicht stellt. Die sich der Erkenntnis, dass nicht pazifistische Manifeste, sondern Bomber Harris und Millionen tote Rotarmisten den zweiten Weltkrieg nebst seinen Genoziden beendeten, verweigert. Ich habe dazu auch keine widerspruchsfreien Antworten, aber als Bilanz 80 Jahren kollektiven Nachdenkens ist das doch ein etwas trübes Ergebnis.

Ärgerlich aber wird es für mich, wenn man sich hinter der zur Aufkleber- und Posterphrase verkommenen Tucholsky-Losung Soldaten sind Mörder versteckt. Tucholsky war entschiedener Kriegsgegner und Antimilitarist, aber so banal, dass sich alles auf diese Formel reduzieren ließe, ist es dann auch wieder nicht.

Tucholskys Pazifismus und Antimilitarismus ziehen sich durch sein gesamtes Werk. Wenig überraschend ist der Weltkrieg eines der bestimmendsten Themen seiner Arbeit. In seiner politischen Publizistik ist das Thema sogar überhaupt nicht wegzudenken, er greift permanent darauf zurück. Wollte man also ein umfassendes Bild seines Pazifismus zeichnen, müsste man sein Gesamtwerk betrachten. Das ist meine Sache nicht.

Ich werde aber versuchen, mich dem anzunähern und ich denke, es lassen sich einige Impulse herauslesen, die manche unterkomplexe Vorstellungen in Frage stellen und zu weiterem Nachdenken anregen können. Dazu gilt es aber, zunächst einmal Tucholsky in seiner Historizität ernst zu nehmen.

Wenn Tucholsky über Krieg spricht, spricht er über einen anderen Krieg als wir heute. Mit dem 2. Weltkrieg hat sich Krieg so massiv verändert, dass jede Mutmaßung darüber, wie Tucholsky dazu stehen würde, ahistorischer Unsinn ist.

Das lässt sich zum Beispiel sehr deutlich daran erkennen, dass Tucholsky immer auf Fronterfahrung, auf das Töten von Soldaten durch Soldaten abhebt. An vielen Stellen verweist er auf die unterschiedliche Realität des Kriegserlebens an der Front im Vergleich zur Nicht-Front. Selbst im „Soldaten sind Mörder“-Text Der bewachte Kriegsschauplatz ist das evident.

Ein Krieg, der die komplette Bevölkerung militärisch einbezieht, ein Krieg mit Flächenbombardements, mit Raketen und Drohnen, ein moderner Krieg in seiner Totalität, der für uns schon kaum noch ohne Völkermord denkbar zu sein scheint: Das ist nicht der Krieg, von dem Tucholsky spricht.

Bei aller Rechtfertigung des Begriffs von der „Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ muss man doch konstatieren, dass der erste Weltkrieg in seiner militärischen Perspektive näher an 1870 als an 1939 ist. Fragen wie „Was würde Tucholsky zum Ukraine-Krieg sagen?“ oder „Hätte Tucholsky die Landung in der Normandie begrüßt?“ führen völlig in die Irre. Und vor diesem Hintergrund würde ich urteilen: Diese Frage ist nicht zu beantworten. Ich gehe sogar noch weiter: Sie ist völlig irrelevant. Es geht nicht darum, einen Götzen zu erschaffen und diesen nun zu befragen1, auf dass er uns erleuchte. Das ist Religionsersatz und Denkfaulheit.

Relevant ist: „Was sagen wir heute zum Ukraine-Krieg? Wie stehen wir zu militärischen Interventionen angesichts eines Genozids?“ Und natürlich kann man sich bei der Beantwortung dieser Fragen auf Tucholskys Pazifismus-Verständnis beziehen und daraus Gedanken und Antworten für die heutigen Herausforderungen entwickeln.

Hierbei gilt es zunächst einmal festzuhalten, dass Tucholsky keineswegs Kampf und Gewalt ablehnt. In seinem vielleicht noch am ehesten als Grundlagentext zu sehenden „Über wirkungsvollen Pazifismus“ schreibt er:

Wieweit zu sabotieren ist, steht in der Entscheidung der Gruppe, des Augenblicks, der Konstellation, das erörtert man nicht theoretisch. Aber das Recht zum Kampf, das Recht auf Sabotage gegen den infamsten Mord: den erzwungenen – das steht außer Zweifel. Und, leider, außerhalb der so notwendigen pazifistischen Propaganda. Mit Lammsgeduld und Blöken kommt man gegen den Wolf nicht an.

Getreu dem Motto Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. aus seinem einzigen echten Manifest ist er durchaus unerbittlich in der Frage, wie gegen Militarismus und Krieg, auch gegen direkte politische Gewalt vorzugehen sei. Ein Pazifismus der (Selbst-)Aufgabe ist da nicht zu erkennen. Ich illustriere das mal mit ein paar Beispielen:

„Aber wie sollen wir gegen kurzstirnige Tölpel und eisenharte Bauernknechte anders aufkommen als mit Knüppeln? Das ist seit Jahrhunderten das große Elend und der Jammer dieses Landes gewesen: dass man vermeint hat, der eindeutigen Kraft mit der bohrenden Geistigkeit beikommen zu können.“ (Wir Negativen, 1919)

Uns radikalen Pazifisten aber bleibt, entgegen allen Schäden des Reichsgerichts, das Naturrecht, imperialistische Mächte dann gegeneinander auszuspielen, wenn der Friede Europas, wenn unser Gewissen das verlangt, und ich spreche hier mit dem vollen Bewußtsein dessen, was ich sage, aus, dass es kein Geheimnis der deutschen Wehrmacht gibt, das ich nicht, wenn es zur Erhaltung des Friedens notwendig erscheint, einer fremden Macht auslieferte.[…] Wir halten den Krieg der Nationalstaaten für ein Verbrechen, und wir bekämpfen ihn, wo wir können, wann wir können, mit welchen Mitteln wir können. Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa. (Die großen Familien, 1928)

Ihr seid die Zukunft!
Euer das Land!
Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!
Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!
Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!
Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!
– Nie wieder Krieg –! (Drei Minuten Gehör, 1922)

Vier Jahre Mord – das sind, weiß Gott, genug.
Du stehst vor deinem letzten Atemzug.
Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.
Stirb oder kämpfe! Drittes gibt es nicht. (Rathenau, 1922)

Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg … das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.“ (Schnipsel, 1930)

Möge das Gas in die Spielstuben eurer Kinder schleichen. Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs und der Mutter des Bildhauers und der Schwester des Bankiers, dass sie einen bittern qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie es so wollen, ohne es zu wollen. Weil sie herzensträge sind. Weil sie nicht hören und nicht sehen und nicht fühlen. Leider trifft es immer die Falschen.“ (Dänische Felder, 1927)

Klar scheint mir mithin zu sein, dass Tucholsky Kampf und auch Gewalt für legitim hält, nicht nur um Krieg zu verhindern, sondern auch im Krieg selbst. Ob es einen gerechtfertigten Krieg geben kann? Es gibt es wie auch oben schon klare Hinweise, dass es in seinem ethischen Verständnis Gründe für den Einsatz von Gewalt gibt. Gerechte Kriege sind aber etwas anderes und wenn es Punkte gibt, in denen er völlig eindeutig und immer wieder glasklar ist, dann in seiner Ablehnung des Krieges an sich.

Ob aber angesichts von Holocaust und Porajmos, Völkermord und „Totalem Krieg“ militärisches Eingreifen nicht dennoch nötig ist, also die Frage des Gewalteinsatzes nicht doch die Stufe des Krieges überschreiten muss, weil die Ressourcen, die nötig sind, nur noch Staaten zur Verfügung stehen und eben nicht internen Widerständlern, ist eine Frage, der wir uns stellen müssen. Denn noch einmal, das ist eine ganz andere Form des Krieges. Ein Krieg, der von Tucholskys Definition von Krieg nicht wirklich erfasst wird. Vielleicht zentral für diesen Punkt diese Passagen:

Der moderne Krieg hat wirtschaftliche Ursachen. Die Möglichkeit, ihn vorzubereiten und auf ein Signal Ackergräben mit Schlachtopfern zu füllen, ist nur gegeben, wenn diese Tätigkeit des Mordens vorher durch beharrliche Bearbeitung der Massen als etwas Sittliches hingestellt wird. Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich. Es ist nicht wahr, dass in unsrer Epoche und insbesondere in der Schande von 1914 irgend ein Volk Haus und Hof gegen fremde Angreifer verteidigt hat. Zum Überfall gehört einer, der überfällt, und tatsächlich ist dieses aus dem Leben des Individuums entliehene Bild für den Zusammenprall der Staaten vollkommen unzutreffend. (Wofür?, 1925)

sowie, besonders deutlich:

Der Pazifist hat jedoch in seinem Kampf gegen den Krieg recht, weil er es ablehnt, über das Leben andrer Menschen zu verfügen. Ich fühle in keiner Hinsicht vegetarisch: es mag Situationen geben, in denen Blut zu vergießen kein Unrecht ist. Als Grundforderung aber muß aufrechterhalten werden, daß niemand das Recht hat, über das Leben seiner Mitmenschen zu verfügen, um sich selber zu erhöhen. Das aber tut der Soldat.“ (Der Leerlauf eines Heroismus, 1930)

Ich fühle in keiner Hinsicht vegetarisch: es mag Situationen geben, in denen Blut zu vergießen kein Unrecht ist. Diesen Satz bitte ins Stammbuch all jener, die meinen, Frieden und Freiheit seien ohne Einsatz zu bekommen, wenn der Gegner zu allem entschlossen ist. Kurz vor seinem Tod wurde er da noch einmal deutlicher. Da sind wir schon im Jahr 1935, die Nazis fest im Sattel und die Welt halbgar irgendwie dagegen.

Will man aber den Krieg verhindern, dann muß man etwas tun, was alle diese nicht tun wollen: Man muß bezahlen.

Ein Ideal, für das man nicht bezahlt, kriegt man nicht.

Ein Ideal, für das ein Mann oder eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt – das ist ein Naturgesetz. Der Rest ist Familiäre Faschingsfeier im Odeon. (Beilage zum Brief an Hedwig Müller vom 16.3.1935)

Und später:

Ich habe einen Interventionskrieg stets für wahnsinnig gehalten, das wäre so, wie wenn man meine Mama, um sie zu ändern, ins Gefängnis sperren wollte. Was sollte dieser Krieg? Die boches sind boches – was nützt der Krieg? Aber:

Zwischen diesem Krieg und einer energischen und klaren Haltung aller Mächte Europas ist noch ein großer Unterschied. (Beilage zum Brief an Hedwig Müller vom 16.3.1935)

Und, vielleicht noch ganz interessant wegen des persönlichen Bezuges:

Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte – und ich bedaure, daß ich nicht, wie der große Karl Liebknecht, den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich. So tat ich, was ziemlich allgemein getan wurde: ich wandte viele Mittel an, um nicht erschossen zu werden und um nicht zu schießen – nicht einmal die schlimmsten Mittel. Aber ich hätte alle, ohne jede Ausnahme alle, angewandt, wenn man mich gezwungen hätte; keine Bestechung, keine andre strafbare Handlung hätte ich verschmäht. Viele taten ebenso. Und das nicht, weil wir etwa, im Gegensatz zu den Feldpredigern, Feldpastoren, Feldrabbinern, die Lehren der Bibel besser verstehen als sie, die sie fälschten – nicht, weil wir den Kollektivmord in jeder Form verwerfen, sondern weil Zweck und Ziel dieses Krieges uns nichts angehen. Wir haben diesen Staat nicht gewollt, der seine Arbeiter verkommen läßt, wenn sie alt sind, und der sie peinigt, solange sie arbeiten können; wir haben diesen Krieg nicht gewollt, der eine lächerliche Mischung von Wirtschaftsinteressen und Beamtenstank war, im wahren Sinne des Wortes deckte die Flagge die Warenladung. (Wo waren Sie im Kriege, Herr – ?, 1926)2

Unschwer zu erkennen, dass der Brecht’sche Gedanke vom Krieg als Fortführung der Geschäfte mit anderen Mitteln durchaus nicht originär dessen Idee war (wie ja überhaupt sehr viele der Brecht’schen Gedanken, aber das ist ein anderes Thema). Tatsächlich war der Gedanke, die Ursache der Kriege seien kapitalistische Interessen, weitaus weniger kontrovers als er es heute ist (Chapeau an die neoliberale Propaganda an dieser Stelle, das ist schon eine bemerkenswerte Leistung, aber auch das ist ein anderes Thema).

Was aber nun? Kann die Lösung sein, es einfach hinzunehmen, wenn Faschisten die Macht übernehmen? Verbrecherische Regierungen einfach machen lassen und wenn Krieg ist, hoffen, dass die Résistance regelt? Das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Wenn das die Antwort des Pazifismus ist, ist das ein bisschen wenig. Es war übrigens auch schon Tucholsky zu wenig. Auch die folgende Passage aus dem Brief an Hedwig Müller möchte ich dem einen oder anderen Friedensbewegten ins Stammbuch schreiben:

Zu machen war:

Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen. Vor allem aber, und das halte ich für das schrecklichste: die geistige Haltung hätte eben anders sein müssen, aber sie konnte nicht anders sein, denn da ist nichts. Man siegt nicht mit negativen Ideen, die ja stets das Verneinte als Maß aller Dinge anerkennen – man siegt nur mit positiven Gedanken. Europa hat keine. Beharren ist nichts. Es geht zurück. Es verliert.

Zu haben war, bei der Gemütsart der boches: Sturz des Regimes, äußerste Vorsicht der Reichswehr, Zurückdämmung der Rüstungen, Verzicht auf einen Überfall im Osten, wenigstens für lange Jahre.
Es gibt keine geistige Position, von der aus ich das sagen könnte. Es hat so etwas verfehlt savonarolahaftes: der verlangt Opfer! Und die tiefe Beschämung, daß da doch etwas nicht stimmt, verwandelt sich in Ablehnung und Wut, »man will das nicht mehr hören«, und »Auf einmal so kriegerisch?« – es gibt keine geistige Position. Daher mein Schweigen. (Beilage zum Brief an Hedwig Müller vom 16.3.1935)

Als Quintesszenz möchte ich argumentieren: Tucholsky war vor allem Antimilitarist. Seine pazifistischen Ansichten beruhen vor allem auf diesem Antimilitarismus und weitaus weniger auf einer gewaltfreien Weltanschauung.

Das Zitat "Soldaten sind Mörder" von Kurt Tucholsky, aufgenommen an einer Hauswand in Berlin, ca. 1996
Von PhJ - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12837341

Abschließend noch ein paar Worte zum wohl berühmtesten Tucholsky-Zitat (nach oder neben der leider ebenfalls zur Phrase verkommenen Was darf die Satire?-Pointe). Spannend an diesem Satz ist vor allem seine Rezeptionsgeschichte, die von Anfang an auch eine juristische war.

Eine gute Zusammenfassung der Debatten in Weimar und Bonn/Berlin findet sich bei Michael Hepp und Viktor Otto. Ihr Buch ist bei Google Books zugänglich, vielleicht hat es auch eine Bibliothek in der Nähe.

Auf die juristische Debatte möchte ich nicht groß eingehen, zum einen, weil ich die für die Pazifismus-Frage für zweitrangig halte und zum anderen, weil ich da nicht wirklich kompetent bin. Und sie ist in den letzten dreißig Jahren tatsächlich weitergegangen. Wenn ich die Kommentare richtig verstehe, dann damit, dass die Jurisprudenz weitgehend versucht, das BVerfG-Urteil zu umgehen. Ich meine zu beobachten, dass die herrschende Meinung hier die Begründung des BVerfG nicht überzeugend findet.

Ein juristischer Punkt scheint mir aber für das Verständnis des Zitates wichtig zu sein: Die Mord-Definition der Weimarer Republik war eine deutlich andere als unsere heutige, die ja auf der Nazi-Definition von Mord beruht. Seinerzeit lautete die juristische Definition:

Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.3

Das ist natürlich eine ganz andere Diskussionsgrundlage als die heutige Morddefinition mit ihrem Nazi-Geraune von niederen Beweggründen und sittlichem Empfinden.4 Und wir dürfen davon ausgehen, dass Dr. iur. Kurt Tucholsky, der während der Weimarer Republik viel zur Justiz publizierte, sich der Definition vollkommen bewusst war.

Zum Zitat selbst gibt es gar nicht so wahnsinnig viel zu sagen. Es ist ein Kernpunkt bei Tucholskys Position zum Soldatentum, dass er es strikt ablehnt, den Menschen in einen „Zivilisten“ und einen „Soldaten“ aufzusplitten. Auf das Individuum bezogen nicht eben subtil zu sehen in Kleine Begebenheit (1921). Und diese Auffassung bezieht sich dann eben auch auf die gesellschaftliche (und implizit dann eben auch juristische) Bewertung.

Im „Soldaten sind Mörder“-Text Der bewachte Kriegsschauplatz exerziert er genau das durch. Und das war es eigentlich auch schon, der Rest ist Aufregung. Tatsächlich entsteht die Bedeutung ganz klar erst durch die Rezeption, die zu Freisprüchen sowohl in der Weimarer wie auch in der Bonner und der Berliner Republik führte.

Es ist äußerst spannend, die Reaktionen zu vergleichen und ich finde es geradezu bedauerlich, wie er zu einer äußerst unterkomplexen Phrase der Friedensbewegung wurde. Aber für Tucholskys Pazifismus-Verständnis ist der Satz geradezu banal. Und leider ist seine Verwendung heute ebenfalls banal – verkommen zur Sticker- und Posterphrase, die zu nichts verpflichtet, schon gar nicht zum Nachdenken.

Textliste zum Weiter- und Nachlesen:

  1. Tatsächlich ginge das vermutlich inzwischen sogar, sobald die Gesamtausgabe mal digital vorliegt, könnte man mit den überlieferten Texten und Briefen ein LLM trainieren – das ganze kombiniert mit den Bildern, die wir haben und wir könnten wären schon sehr nah an den einschlägigen Star Trek-Episoden. Was noch fehlt: Tonaufnahmen. Das ist wirklich tragisch, denn er soll mitreißend gewesen sein. ↩︎
  2. Wer sich genauer dafür interessiert, wie sich Tucholsky verhalten hat, als er in seinem Leben tatsächlich einmal real vor der Frage stand, wie er sich im Krieg verhalten soll, dem sei der Ausstellungsband Böthig/Sax: Wo waren Sie im Kriege, Herr- ? (Begleitband zur Ausstellung im Kurt Tucholsky Museum Rheinsberg 2015) empfohlen. ↩︎
  3. aus dem Wikipedia-Artikel zum Tucholsky-Zitat ↩︎
  4. siehe hierzu beispielsweise Philipp Preschany: Über die Notwendigkeit einer Reform des Mordtatbestands (§ 211 StGB) aus rechtsgeschichtlicher Sicht in: Kriminalpolitische Zeitschrift 4/2023 ↩︎

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