Der Stapel auf dem Nachttisch erreicht mal wieder bedrohliche Höhen – allerhöchste Zeit, einige Bände herunterzuräumen. Heute haben wir eine norwegische Krankenschwester, zwei grandios wütende Wahlschwestern, einen israelischen Alleskönner und eine Kekse verteilende Provenienzforscherin dabei.
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Erstmal: Was für ein toller Romantitel? Wer da nicht interessiert zugreift und zumindest mal den Klappentext liest, ist ein mir unbegreiflicher Mensch.
Hannah steckt fest. Ihr Dissertationsprojekt ist in einer Sackgasse gelandet, so richtig motivieren kann sie sich auch nicht. Dass sie vor einigen Monaten Sex mit ihrem Doktorvater hatte, macht die Situation nicht einfacher. Regelmäßig besucht sie ihre Großmutter Evelyn in deren Seniorenresidenz. So vergehen Tage, so vergehen Wochen, so vergehen Monate. Die Geschichte setzt ein, als ein Brief von einer Anwaltskanzlei eintrifft. Diese auf Restitutionsfragen spezialisierte Kanzlei teilt mit, dass Ansprüche auf arisierten Besitz von Evelyns Mutter bestehen könnten. Diese Mutter aber wird von Evelyn, die bei ihrer Tante aufwuchs, konsequent verleugnet., sie weigert sich, zu dem Thema auch nur irgendetwas zu sagen – gibt Hannah aber den Brief mit.
In ihren Nachforschungen öffnet sich Hannah ein ihr völlig unbekanntes Kapitel ihrer Familiengeschichte. Alena Schröder kontrastiert diese mühsame Suche nach den Puzzlestücken, von denen unklar ist, was sich bei ihrem Zusammensetzen ergeben wird, mit der Erzählung der Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter und deren Schwester.
Mir gefällt hier besonders, wie Alena Schröder die Entscheidungen und Handlungen der Protagonist:innen einbettet in deren Lebensumstände, Weltanschaungen und Wertvorstellungen – mit immer wieder im klassischen Sinne tragischen Ergebnissen. Das lässt sie sehr lebendig werden und hat zumindest bei mir immer wieder zum Innehalten geführt. Denn so unsympathisch mir auch etliche Figuren waren: Ganz häufig konnte ich nachvollziehen, warum sie sich so entschieden haben, wie sie sich eben entschieden. Was – insbesondere in Hannas Zeitlinie – die resultierenden Handlungen gerade der anwesenden Männer nicht besser macht. Und: Die Geschichte läuft nicht nach Schema F ab – auch der Plot hebt sich wohltuend von den herzerwärmenden Familienromangeschichten ab (deren eskapistischen Wert ich nicht schmälern möchte). Es gibt die eine oder andere Wendung, die mich überrascht hat. Habe mich durchaus gelegentlich ertappt, wie ich dachte: „Och nö, nicht doch“ – und dann ging es doch in eine andere Richtung weiter. Mein Herz allerdings gehört ganz und gar Marietta Lankwitz. Keks?
Buchdetails:
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid : Roman ; dtv München 2021, 366 Seiten ; ISBN 978-3-423-28273-4 ; als Taschenbuch 13 € ; als ebook 10,99 € ; als Hörbuch 11,19 €
Mascha Unterlehberg: Wenn wir lächeln
Jara und Anto lernen sich beim Fußball kennen – und werden schnell verschworene Freundinnen. Wenn nicht sogar Schwestern.
Was in diesem kurzen Roman tatsächlich passiert – „tatsächlich“ im Sinne eines stringent zu erzählenden Plots, ist gar nicht mal so genau zu sagen. Da bleiben Unklarheiten, Ungewissheiten. Gleichzeitig aber ist sehr klar zu fassen, was geschieht. Mascha Unterlehberg erzählt mit einer bezwingenden Sprache die Geschichte einer Schwesternschaft, die sich gegen die Welt, gegen männliche und patriarchale Zumutungen stellt und sich in ihrer Wut nicht aufhalten lässt. Hier erleben wir zwei junge Frauen, die sich nicht ergeben, nicht ihr Leid hinnehmen, sondern mit Wucht zurückschlagen. Was mich besonders beeindruckt hat: Es geht hier viel um Gewalt – aber sprachlich ist dieser Roman voller Zartheit, voller Humor und doch unerbittlich unverblümt. Und damit unfassbar wirkmächtig.
Buchdetails:
Mascha Unterlehberg: Wenn wir lächeln : Roman ; DuMont Köln 2025, 253 Seiten ; ISBN 978-3-7558-0036-1 ; als Hardcover 23 € ; als ebook 19,99 € ; als Hörbuch 14,89 €
Anne Elvedal: Station 22. Wo bist Du sicher?
Ida ist Krankenschwester auf Station 22, einer psychiatrischen Krankenhausstation. Dort ist sie beliebt, insbesondere bei den Patientinnen. Ihr kommt dabei zugute, dass sie aufgrund ihrer traumatischen Kindheitsgeschichte besonders empathisch auf sie eingehen kann. Dieses Trauma sitzt so tief, dass es bis heute und bis in die kleinsten Details ihres Alltags hineinwirkt.
Das Verschwinden einer Patientin, die angegeben hatte, verfolgt zu sein und deren Eltern diametrale Positionen zu den Ursachen ihres Verschwindens vertreten, löst eine Kette von weiteren Entwicklungen aus, die offenbaren, dass hier schrecklichste Befürchtungen wahr werden.
Der Thriller ist spannend und in seiner Intensität durchaus geeignet, gängige Vorstellungen über skandinavische Spannungsliteratur zu bestätigen. Wir haben es hier mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun. Dagegen wäre wenig einzuwenden, mich aber hat es nach einer Weile doch sehr enerviert – denn, wenn die Erzählerin so unzuverlässig ist, dass man gar nichts mehr glauben kann, wird es für mich öde. Wen das nicht stört, der kommt hier aber voll auf seine Kosten.
Buchdetails:
Anne Elvedal: Station 22. Wo bist du sicher? : Thriller [OT: Du kan kalle meg Jan] ; aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann ; Ullstein Paperback Berlin 2025, 352 Seiten ; ISBN 978-3-86493-351-6 ; als Paperback 16,99 € ; als ebook 13,99 € ; als Hörbuch 19,59 €
Daniel Silva: Die Fälschung
Gabriel Allon hat seine Geheimdienstkarriere beendet. Aber natürlich ist er nicht der Typ für gemütlichen Ruhestand mit Rotwein und schönem Ausblick vom Balkon. Naja, möglicherweise ist er das schon – aber bei einer solchen Biographie lässt einen die Welt nie in Ruhe.
Als er also auf eine spektakuläre Kunstfälschung stößt, gerät er sehr schnell in den Strudel sehr schwerer Interessenten mit nicht besonders lauteren Interessen. Und schon sind Frau und Kinder doch nicht mehr der einzige Lebensinhalt und er stürzt sich in die Aufdeckung dieses Skandals.
Allon ist nicht nur begnadeter Kunstrestaurator, er ist natürlich auch begnadeter Kunstfälscher, begnadeter Agent, begnadeter Netzwerker und begnadeter Zweikämpfer. Marvel-Superhelden können einpacken gegen Gabriel Allon. Als Leser begleitet man ihn durch die Welt und sieht, wie er mit brutalen Schlägern ebenso umgehen kann wie mit raffinierten Spionen. Hinterhöfe sind genauso sein Metier wie Hochfinanzviertel und Kunstgalerien. Auch wenn es zwischendurch so aussieht, als könnte ihm doch nicht alles gelingen oder er vielleicht doch nicht alles wissen – dieser Eindruck wird regelmäßig und zügigst wieder korrigiert.
Ich verstehe, dass es hierfür ein Publikum gibt und es Freude machen kann, einem solchen Helden zu folgen. Mir jedoch liegt das leider gar nicht, ich finde solche Alleskönner sehr öde. Dies ist der 22. Roman in der Gabriel Allon-Reihe und der erste, den ich gelesen habe. Es wird der einzige bleiben.
Buchdetails:
Daniel Silva: Die Fälschung : ein Gabriel-Allon-Thriller [OT: Portrait of an unknown woman] ; aus dem amerikanischen Englisch von Wulf Bergner ; HarperCollins Hamburg 2023, 447 Seiten ; als Paperback 16 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 15,79 €



