Keine lange Vorrede heute, es geht ohne Umschweife einfach los mit der zweiten Ausgabe der Kurzrezensionen.
Petra Johann: Der Steg
Es gibt das Bonmot, ein Mord sei überhaupt nicht schwer – schwierig sei, die Leiche loszuwerden. Auch für Priska beginnen die Schwierigkeiten mit einem Toten, der zur Unzeit in der Nähe ihres Grundstücks ins Wasser fällt. Was genau geschah und welche Ereignisse zu dieser Situation geführt haben, wird erst im Laufe der Handlung klar. Eine Handlung, im Laufe derer Priska nicht nur darum kämpft, dass ihr der Tod nicht zugerechnet wird, sondern vor allem um das Leben, das sie sich aufgebaut hat.
Wie lange wird es Priska gelingen, ihr zerstörerisches Geheimnis zu wahren? Und welchen Preis wird sie dafür zahlen müssen, welche Schritte muss sie noch gehen, um die Fassade zu wahren? Das sind die Leitfragen dieses Thrillers, im Laufe dessen wir die taffe, strukturierte und erfolgsverwöhnte Priska mental entgleisen und letztlich im Wahnsinn landen sehen.
Petra Johann macht das gekonnt, aber es bleibt doch nicht ohne Längen und gerade zu Ende hin wirken die Versuche, das dem Leser doch längst offenbare Geheimnis weiter zu behüten, etwas verkrampft. Denn gerade die Konstruktion mit verschiedenen, aber aufeinander aufbauenden Erzählperspektiven, die den Thriller reizvoll machen, leidet letztlich darunter.
Diese Texte von Fran Lebowitz haben viel zu lange gebraucht, um hierzulande entdeckt zu werden. Wie lange hätten wir uns schon an ihrer Scharfzüngigkeit, ihrem klaren Stil und ihrem geistreichen Witz erfreuen können! Aber besser spät als nie.
Und immerhin lässt sich nun gleich die Probe aufs Exempel machen, ob ihre Texte den Zahn der Zeit unbeschadet überstehen. Zumindest für die in dieser Auswahl versammelten lässt sich sagen: Unzweifelhaft überstehen sie das.
Mit ihrer entschiedenen Ablehnung alles Unentschiedenem, das ja doch immer das Merkmal des Mittelmaßes ist, mag nicht jedes ihrer Urteile die Zustimmung des Lesers finden (meine zum Beispiel auch nicht). Aber jeder ihrer Sätze ist pointiert, silsicher und zeigt eine überragende sprachliche Eleganz. Der Hausheilige dieses Blogs hätte seine helle Freude an ihr gehabt.
Buchdetails: Fran Lebowitz: New York und der Rest der Welt [OT: The Fran Lebowitz Reader] ; aus dem Englischen von von Sabine Hedinger und Willi Winkler, Rowohlt Berlin Berlin 2022, 349 Seiten, ISBN 978-3-7371-0143-1 ; 22 € ; als Taschenbuch 14 € ; als ebook 9,99 € Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.
Simon Stephenson: Kurioses über euch Menschen
Simon Stephenson ist Drehbuchautor bei Simon Stephenson ist Drehbuchautor bei Pixar – und dieser Roman könnte problemlos ein Pixar-Film sein. Ein Roboter, der Gefühle entdeckt (indem er alte Filme schaut – Hollywood, was willst Du mehr???) und sich auf den Weg macht, die Menschheit davon zu überzeugen, dass Roboter fühlende Wesen sind und nicht nur Maschinen für niedere Arbeiten.
Das ist nicht leicht in einer Welt, in der Gefühle bei Robotern als Fehlfunktion betrachtet und diese daher entsprechend aussortiert werden. Mit seinem wunderbar naiven und dennoch gewitztem Protagonisten hat Stephenson einen Sympathieträger geschaffen, dem man gerne durch diese bittersüße Handlung folgt, die uns nach nicht weniger als dem Menschsein als solchem fragt.
Doch so tiefschürfend möchte ich den Roman gar nicht gelesen haben, das würde seinem feinen Humor nicht gerecht werden. Ich habe Jared jedenfalls sehr ins Herz geschlossen und habe ihn gerne auf seinen Abenteuern begleitet. Ich muss jedes Mal an ihn und diesen Pixar-Film von einem Roman denken, wenn ich auf Instagram Gretchen Withmer über „Michiganders“ reden höre. 😉
Thomas Radetzki, Matthias Eckoldt: Inspiration Biene
Ich bin Großstadtkind und zwar genau so wie das Klischee es will: Im Wesentlich beschränken sich meine Naturkenntnisse auf: Baum, Blume, Vogel, Tier. Genaueres wird schon schwieriger. Insofern bin ich durchaus mit großen Erwartungen an dieses Buch herangegangen, denn auch die großstädtische Vorstellung vom Bienenleben ist ja durchaus – nun ja, sagen wir romantisiert.
Und tatsächlich lässt sich hier etliches darüber erfahren, wie die Honigbiene lebt. Allerdings beschlich mich zunehmend Unbehagen und gerade im letzten Teil geradezu Widerwillen. Denn eigentlich ist dies kein Buch über die Honigbiene und wie sie von Menschen kultiviert wird, sondern darüber wie toll die Aurelia-Stiftung ist und wie sehr wir gesellschaftlich von ihr und ihren Aktivitäten profitieren können.
Das steht natürlich nicht so platt im Buch, aber es gibt hier nur eine einzige Perspektive, die die Autoren einnehmen. Und das vergällt die Lektüre dann doch sehr und das ist schade drum. Letztlich ist das ein Beispiel dafür, wie ein Sachbuch nicht sein sollte.
Für interstellare und erst recht für intergalaktische Reisen steht man vor verschiedenen erheblichen Problemen. Ein schwerwiegendes davon ist: Irgendwie müssen die irrsinnigen Distanzen überwunden werden. Die Science-Fiction-Literatur hat dafür schon verschiedene Lösungen vorgeschlagen, die entweder darauf zielen, durch phänomenale Reisegeschwindigkeiten die Reisezeit zu verkürzen (Warp-Antrieb, unendlicher Unwahrscheinlichkeitsdrive etc.) oder die Reisenden selbst für die lange Reisezeit zu präparieren (Generationenschiff, Kryonik etc.)
Eine Möglichkeit, die sogar interdimensional funktioniert, wenn wir Rick Sanchez glauben wollen, ist die Umwandlung der Identität in ein Datenpaket und die anschließende Implementierung in einen anderen (geklonten) Körper. Auf diese setzt Andreas Suchanek in seinem Sci-Fi-Thriller.
Commander Liam Mikaelsson erwacht in seinem Klonkörper, um mit seinem Team die geplante Erkundungsmission eines weit entfernten Planeten aufzunehmen. Bis dahin ist alles in Ordnung. Ab dann läuft überhaupt nichts mehr nach Plan. Von seinem Team erwacht nur noch seine Sicherheitsexpertin und die Technik verhält sich generell merkwürdig. Von einem ruhigen Planeten, der sich geordnet erforschen lässt, kann auch keine Rede sein. Und allmählich wird klar, dass es sich bei der ganzen Situtation nicht einfach um unglückliche Umstände handelt…
Ich habe dieses hochspannende Buch sehr gerne gelesen. Suchanek versteht es, einen Plot zu erzählen, der in den Bann zieht und die Spirale der Ereignisse immer weiter zu drehen. Ich mag den Marketing-Begriff vom Page-Turner nicht besonders – aber hier trifft er ohne Zweifel zu. Wer einen Thriller sucht, der sich schnell weglesen lässt, ist hier genau richtig.
Schreiben über gelesene Bücher soll eigentlich integraler Bestandteil dieses Blogs sein. Aber wie das so ist im Leben – nicht immer entwickelt sich alles so wie geplant. Vor allem das Real Life funkt immer wieder gerne dazwischen. Und so gerne ich meine schon seit Jahren zurückliegende wöchentliche Buchempfehlungsrubrik weiterführen würde – es ist nicht realistisch, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren.
Nun lese ich also weiterhin Dies und Das, denke mir nach jeder beendeten Lektüre: Dazu schreibst Du was. Dann fange ich einen Beitrag an, lege ihn zur Seite und da bleibt er dann liegen – hilflos mit seinen Beinchen strampelnd, mich immer wieder ermahnend, ihn nun endlich aufzuheben. So vergehen Wochen, Monate, Jahre – und es wird doch kein veröffentlichter Text daraus. Inzwischen sind die Bücher womöglich vergriffen, kurz: Das ist unbefriedigend.
Also versuche ich es nun einmal mit kurzen Sammelrezensionen – die zwar dem einzelnen Werk nicht die Aufmerksamkeit geben, die ich ihm idealerweise geben wollte. Doch dazu sei an dieser Stelle mein früherer Chef zitiert: Better done than perfect.
Also dann, auf geht es mit der ersten Runde Bücher, die ich kürzlich vom Nachttisch geräumt habe:
Sarah Kuttner: Kurt
Drei Erwachsene, ein Kind. Die Zahl von Büchern und Filmen zu den verschiedensten Konstellationen, die sich aus einer solchen Aufzählung ergeben können, ist Legion. Warum also noch eins? Weil das Thema nie zu Ende ist. Jede Zeit, jede Konstellation ist individuell und hat ihre ganz eigene Geschichte, Sarah Kuttners Geschichte beginnt zunächst ganz vertraut: Ein Paar hat ein gemeinsames Kind, trennt sich, ein Partner findet eine neue Partnerin und zieht mit dieser in ein eigenes Haus. Jana und Kurt schaffen es, diese schwierige Situation vernünftig zu lösen und Lena lernt nach dem großen nun auch den kleinen Kurt kennen. Mit ihr erleben wir ein waches, neugieriges Kind voller Liebe für die Welt und die Menschen, die ihn umgeben. Der tiefe Schmerz, den die Erwachsenen erleben, als das Kind plötzlich stirbt, hat auch mich beim Lesen getroffen. Ich habe den kleinen Kerl sehr ins Herz geschlossen. Sarah Kuttner findet in ihrer schnörkellosen, empathischen Sprache einen Ausdruck für die Trauer und die ganz verschiedenen Wege, die Trauernde gehen. Darin liegt für mich die Stärke und Bedeutung dieses Buchs: Worte und Ausdruck zu finden für eine Trauer, die tiefer kaum sein könnte. Worte dort zu finden, wo keine Worte mehr sind.
Ein herzzerreißendes Buch über einen Schmerz, der nicht zu begreifen ist. Ich habe jedenfalls viele Tränen vergossen und ich weiß nicht, ob ich das Buch ein zweites Mal aushalten würde.
Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Gut vierzig Jahre liegt diese Geschichte schon bei Murakami auf dem Nachttisch. Grundlage des Romans ist eine Erzählung aus den 80er Jahren, mit der der Autor nie so recht zufrieden war. Immer wieder wollte er sie weiter ausarbeiten. Nun also ist dieser Roman daraus entstanden. Vor solchen Entstehungsgeschichten warnen Lektor:innen regelmäßig, und das aus guten Gründen. So eine Geschichte bleibt nicht ohne Anlass so lange liegen. Meist stimmt mit ihnen etwas nicht, sei es, dass ihr Thema nicht so recht passt oder ein grundlegender konstruktiver Fehler es immanent nicht zu einem gutem Abschluss kommt. Das ist auch hier spürbar, der Roman sei niemandem ohne Murakami-Erfahrung empfohlen.
Und dennoch zeigt sich Murakami in diesem dichten Roman von seiner Stärke als Romancier. In der metapherngesättigten Geschichte um eine verlorene und unerreichbare Liebe führt er dem Leser vor Augen, dass Realitätsflucht zwar ungemein beruhigend und sicherheitsversprechend ist – aber eben nicht echt. Und vor allem: Das Leben extrem einschränkend, da jede Berührung mit dem Leben außerhalb der selbst geschaffenen Mauern den Kokon und seine schutzspendende Wärme bedroht. Und auch wenn ich den Roman gerne gelesen habe: Wahrscheinlich wäre es besser, er wäre eine Erzählung geblieben.
Laura Wood: Agency for Scandal
Izzy Stanhope, eine junge Frau mit Beziehungen in der britischen Upper Class, hat viele Geheimnisse. Und jedes einzelne davon könnte ihre prekäre Stellung ruinieren. Dementsprechend unauffällig bewegt und kleidet sie sich. Der Roman ist im Viktorianischen England angesiedelt und kreist um ein Team von Frauen, die selbstorganisiert andere Frauen unterstützen. Das ist entsprechend herausfordernd, denn offen agieren können sie naturgemäß nicht. Scheu hat das Team dabei weder vor hohen Ämtern, großem Reichtum oder Berufsverbrechern. Alle Mittel und Wege sind ihnen recht, wenn sie geeignet sind, die Sache der Klientinnen zu befördern. Dabei nutzen sie geschickt ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung aus, legen sich Tarn-Identitäten, entwickeln Spezialfähigkeiten – eben alles, was man von einem professionellen Team erwarten darf.
Ob und wie hier Anachronismen reinspielen, kann ich nicht beurteilen, dafür kenne ich die Viktorianische Gesellschaft viel zu wenig – ich bin mir aber auch nicht sicher, ob das überhaupt relevant ist. Die turbulente Handlung findet ihre Ankerpunkte in den Figuren, die ein hohes Identifikationspotential bieten. Dass hier die Protagonistinnen sich in einer männerdominierten Welt ihren Handlungsraum nehmen und nutzen ist vielleicht der stärkste Aspekt dieses Jugendbuches.
Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd
Mich hat dieser Thriller leider überhaupt nicht überzeugt, gerade vor dem Hintergrund des ersten Teils. Dieser war solides Handwerk, mich hatten ein paar Dinge gestört, aber insgesamt war das okay und ich war durchaus gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde. Schon in Das Nord war die übermächtige Alice und die Hilflosigkeit aller anderen etwas dick aufgetragen. Hier aber rutschen die Figuren endgültig in die Unglaubwürdigkeit ab. Das beginnt schon beim Restaurantnamen, der gekünstelt auf den ersten Roman Bezug nimmt. Alex und Sofi würden nach all den traumatischen Erlebnissen im Nord ihr Restaurant ernsthaft Syd nennen? Insbesondere, wenn sie versuchen, sich vor Alice Duwal zu verstecken? Da war das Verlagsmarketing wohl stärker als die Figurenentwicklung. Und dass nun wirklich jeder Schritt, den Alex macht, sich mal wieder als beobachtet und gesteuert herausstellt, was ausgerechnet ihm aber nie bewusst wird, obwohl er ständig Angst davor hat, beobachtet und gesteuert zu werden. Und wieder einmal ist es dieselbe übermächtige Alice, die hier schon James-Bond-Bösewicht-Dimensionen erreicht und wieder einmal wird es eine vergleichsweise simple Falle, mit der sie überwältigt wird. Ich weiß nicht, mich hat das wirklich nicht überzeugt. Ich hatte hier auf eine neue Geschichte gehofft, tatsächlich aber ist es weitgehend dieselbe. Gleichzeitig ist aber ganz klar spürbar, dass die Autorinnen ihr Handwerk eigentlich verstehen – und das hat vielleicht meinen Ärger verstärkt. Wenn das Buch einfach schlecht geschrieben wäre, hätte ich es zur Seite legen und abtun können.
Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer : Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont Buchverlag Köln 2024, 637 Seiten, ISBN 978-3-8321-6839-1, 35 € ; als ebook 27,99 € ; als Hörbuch 34 € Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.
Klaus Leesch hat sich in seiner Werkbiographie des frühen Sozialdemokraten Eduard Bernstein einer Mammutaufgabe gestellt.
Bernstein ist sowohl während seiner Lebzeiten als auch in der späteren Rezeption stets voreingenommen bewertet worden. In seinem Wirken während der Flügelkämpfe in der Sozialdemokratie, insbesondere in der Kaiserzeit, mag das noch in der Natur der Sache liegen.
Als bedeutender Publizist in der sozialdemokratischen Presse, der noch dazu immer wieder klar Stellung bezog, konnte er kaum mit einem ausgewogenen Urteil rechnen. In der Rezeption der Nachkriegszeit wiederum diente er beidseits der Mauer vorrangig als Projektionsfläche nebst der dazugehörigen Rosinenpickerei.
Das führte nicht nur zu einseitigen Urteilen, sondern auch zu erheblichen Forschungsdesideraten, denn wirklich intensiv und sachlich beschäftigten sich kaum Forscher mit ihm. So kommt es denn auch zustande, dass von einem der wichtigsten Vertreter der frühen Sozialdemokratie bis heute keine vollständige Werkausgabe vorliegt.
Vor diesem Hintergrund ist Klaus Leeschs umfassende Arbeit nicht nur zu begrüßen, sie ist willkommen zu heißen.
Leeschs Arbeit umfasst in der gedruckten Ausgabe zwei Bände mit insgesamt über 1700 Seiten und war seine Dissertation an der Fern-Universität Hagen. Leesch hat sich lange und intensiv mit Bernstein beschäftigt. Das ist von der ersten Seite an zu spüren – ebenso wie die Sympathie des Autors der Person Bernsteins gegenüber. Dass ihm trotzdem die sachliche Distanz nicht abhanden kommt, ist ein unbedingter Pluspunkt. Und unbedingt notwendig, voreingenommene Bernstein-Literatur gibt es ja – wie eingangs erwähnt – bereits zur Genüge.
Dennoch wäre hier ein etwas rigoroseres Lektorat gewinnbringend gewesen. Ich hatte beim Lesen sehr bald den Eindruck, Klaus Leesch wolle nun gleich alle bestehenden Lücken mit einem Mal schließen. Insbesondere seine langen und umfangreichen wörtlichen Zitate aus Bernsteins Werk machen die Lektüre schnell mühsam. Natürlich ist die Belegarbeit schwierig, wenn keine in Umfang und Güte zufriedenstellende Werkausgabe zur Verfügung steht. Eine bessere Lösung wäre hier aber wahrscheinlich dennoch die Auslagerung in einen Quellenband bzw. in den Anhang gewesen. So aber entstehen Redundanzen und Längen, die es schwer machen, die Biographiearbeit des Autors wahrzunehmen. Das ist sehr schade, denn so entsteht der Eindruck, dass vor lauter Ansprüchen, denen diese umfangreiche Arbeit gerecht werden will, sie letztlich keinem wirklich gut entspricht.
Dennoch: Dieses Mammutwerk wird seinen unübersehbaren Platz in jeglicher Arbeit zu Bernstein und der frühen deutschen Sozialdemokratie finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand zu diesem Themenkomplex arbeiten kann, ohne künftig Leeschs Werkbiographie zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Bergwerk werden noch so manche Schätze geholt werden.
Und dem interessierten Publikum wünsche ich, dass Klaus Leesch noch einmal nachlegt – mit einer schlankeren Biographie unter dem Motto: Mehr Leesch wagen.
Bei Alex läuft es grad gar nicht – er ist abgebrannt, obdachlos und ohne Job. Da bekommt er die Chance, in Nordschweden bei einem berühmten Sterne-Koch in einem Edelrestaurant anzufangen. Mit den allerletzten Ressourcen gelingt es ihm, die Reise zu bewerkstelligen und rechtzeitig einzutreffen. Die Arbeit ist hart, Freizeit ist rar und die Arbeitsatmosphäre geprägt von Missgunst und Intrigen.
Nicht wirklich besser wird es, als er eine Affäre mit Alice Duvall, der Ehefrau des Besitzers anfängt. Schnell ist Alex ist einem verhängnisvollen Abhängigkeitsverhältnis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint – insbesondere da Alice sehr eigene Interessen verfolgt, bei deren Durchsetzung er bestenfalls als Werkzeug eine Rolle spielt.
Katarina Ekstedt und Anna Winberg Sääf gelingt ein spannender Thriller, der alle Zutaten bereithält, die es braucht. Allerdings auch nicht mehr. Beworben wird es mit Schwedische Thriller-Spannung vom Feinsten und Intrigen und Psychoterror in der Schwedischen Sterneküche. Davon habe ich wenig gelesen. Die ersten Berfreiungsversuche scheitern zu offensichtlich und für das David-Goliath-Spiel, dass hier aufgebaut wird, ist mir die letztliche Lösung sogar etwas zu platt. Darin besteht meiner Meinung nach ja die besondere Kunst: Übermächtige Bösewichte, die alles beherrschen und von allem wissen, sind leicht erschaffen. Aber eine plausible Handlung, wie diese dennoch überwunden werden können – das ist eine echte Herausforderung. Und die finde ich hier nicht restlos überzeugend gemeistert.
Das ist solides Handwerk, die Handlung spitzt sich gekonnt zu. Aber kaum weg gelegt, hatte ich Figuren, Handlung und kulinarische Finessen eigentlich auch schon wieder vergessen. Also gute Unterhaltung – und das ist gar nicht abwertend gemeint: Ich bin hier gerne dabei geblieben.
Details zum Buch Anna Winberg Sääf/Katarina Ekstädt: Das Nord. Thriller. aus dem Schwedischen von Max Stadler. Deutsche Erstausgabe bei HarperCollins Taschenbuch, Hamburg 2023, 288 Seiten, 14 € ; als ebook (ePUB) 10,99 € Bei youbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.
Wollte man Umweltaktivist:innen lächerlich machen, war jahrzehntelang das die Bezeichnung als Baumumarmer/innen populär. Seit allerdings die Bäume wieder massenhaft sterben und das nicht nur in Städten oder Forstwirtschaften, sondern auch in den Touristengebieten, ist diese Diffamierung seltener geworden (und durch äußerst aggressivere ersetzt worden).
Und auch die Umweltbewegung ist angesichts der Klimakrise etwas in den Hintergrund getreten und kann nicht mehr so mobilisieren wie zu Zeiten, als Karl der Käfer nicht gefragt wurde. Das ist verständlich, denn die globale Krise ist derart überwältigend und die Notwendigkeit von großen Lösungen so evident, dass es schwer wird, den Sinn von lokalen Aktivitäten zur Nutzung kleinster Flächen zu vermitteln.
Nun ist es aber so: Man kann das eine tun ohne das andere zu lassen. Den Straßenbaum vorm eigenen Haus gießen wird die Welt nicht retten – ist es deshalb falsch oder sinnlos? Wohl kaum.
Seit fünf Jahren gibt es in Leipzig das sehr schöne Projekt Leipzig blüht auf. Kern des Projektes ist die Nutzbarmachung von Baumscheiben, also jenen Flächen die sich ringsum von Straßenbäumen befinden. Diese werden entweder von den zuständigen Straßenbewirtschaftern permanent niedergemäht (Verkehrssicherheit ist nicht egal) oder gleich mit Kies o.ä. belegt, so dass gar nicht erst etwas wächst.
Das Projekt des Ökolöwe Leipzig e.V. beschäftigt eine Mitarbeiterin, die für solche Baumscheiben Pat:innen sucht und sie in Beete umwandelt, die dann mit Wildstauden udn Frühblühern bepflanzt werden. Das ist deshalb wichtig, weil auf diese Weise die entsprechenden Baumscheiben als bewirtschaftet markiert werden und von Mäharbeiten am Straßenrand entsprechend ausgenommen sind.
Das Projekt hat mehrere Auswirkungen: Zum einen natürlich ganz konkret, in dem die Biodiversität in der Stadt erhalten oder vergrößert wird und durch die passive Bewässerung auch die Straßenbäume selbst besser mit Wasser versorgt werden. Zum anderen wirkt das Projekt aber auch auf einer anderen Ebene: Durch die Beschäftigung mit der Umwelt direkt vor der Haustür werden Erfahrungen ermöglicht, die ganz unmittelbar erlebbar machen, wie viel lebenswerte eine Stadt ist, die Natur mit einbezieht. Das gilt nicht nur für die Pat:innen selbst, sondern natürlich auch für alle, die dort vorbeigehen oder leben. Und das hat natürlich Auswirkungen darauf, wie Bewohner:innen einer Stadt Neubauprojekte wahrnehmen.
Das ist vielleicht auch der größte Hebel, den dieses kleine Projekt ermöglicht: Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass große Flächen der Stadt einfach zuzupflastern nicht die beste Lösung für eine lebenswerte Stadt für alle ist, schon gar nicht für zukünftige Bewohner:innen.
Nun aber steht dieses Projekt vor dem plötzlichen Aus: Ein langjähriger Fördermittelgeber beendet seine Förderung kurzfristig schon für dieses Jahr. Jetzt muss eine Finanzierungslücke von 28.500 € gestopft werden.
Ich muss gestehen, meine HardCore-Marc-Uwe Kling-Fanphase ist schon einige Jahre her (Exhibit A: Gachmurets dritte Kulturwoche: Kabarett vom Februar 2010). Genau so wie ich die Radiokolumne sehr mochte, habe ich auch die ersten Känguru-Bücher mit großer Freude gelesen.
Der Guerilla-Kommunismus des Kängurus erfreut mich auch heute immer wieder. Der überragende kommerzielle Erfolg hat mich verwundert und skeptisch gemacht. Auch heute beschleicht mich durchaus das Gefühl, dass nicht alle bei dem Take Mein – Dein, das sind doch alles bürgerliche Kategorien aus denselben Gründen lachen. Tatsächlich verfolge ich Klings Arbeit eher deshalb noch mit, weil die Traumtochter™ großer Fan ist.1
Will sagen: Seit fast 15 Jahren habe ich kein Buch mehr von ihm gelesen – zwischenzeitlich hat Kling eine beachtliche Bestseller-Karierre hingelegt und das Genre der WG-Berichte aus dem Zusammenleben mit einem kommunistischen Känguru, das früher beim Vietkong war, weitgehend verlassen. Dies nur als Vorrede, um zu verdeutlichen, dass ich durchaus nicht unvoreingommen an Views herangegangen bin.
Das Buch wird als Thriller beworben, und das geht soweit auch in Ordnung. Im Mittelpunkt steht die BKA-Kommissarin Yasira Saad, die in einen Aufsehen erregenden Fall involviert wird. Die 16jährige Lena Palmer verschwindet – zunächst ein lokaler Fall, der außerhalb der Harzregion zunächst keine Bedeutung erlangt. Doch dann taucht ein verstörendes Vergewaltigungsvideo auf und die Welt gerät aus den Fugen. Schnell gibt es massive Demonstrationen, die Täter werden schnell als Geflüchtete bezeichnet und dass die leitende Ermittlerin beim BKA den Namen Yasira Saad trägt, befeuert die sich rasant militarisierende deutsche Gesellschaft zusätzlich. Dementsprechend geraten nicht nur alle, die den Tätern im Video ähnlich sehen, in akute und konkrete Gefahr, sondern auch Yasira persönlich und ihre Tochter. Außerdem erscheinen in kurzer Schlagzahl weitere Videos, etliche davon von einer Gruppierung, die sich „Aktiver Heimatschutz“ nennt und neben Hass auch konkrete Aufstandsforderungen verbreitet. Kurz: Die Gewaltspirale wird ihrem Namen mehr als nur gerecht.
Marc-Uwe Kling hat hier einen straighten Thriller geschrieben, der geübte Thriller-Leser:innen womöglich nicht vor übermäßige Herausforderungen stellt, aber er schont sein Publikum durchaus nicht. Sowohl die Handlung als auch die beschriebenen Videos sind durchaus gewaltvoll, wenn auch nicht überzogen explizit und die Gewalt selbst steht auch nicht im Vordergrund, das macht es erträglicher. Im Vordergrund steht die sich immer schneller drehende Eskalationsspirale, die es kaum noch möglich zu machen scheint, noch seriöse Ermittlungsarbeit zu leisten. Insgesamt habe ich das gerne gelesen, mich hat der Thriller in Bann gezogen und das ist ja letztlich Hauptaufgabe von Spannungsliteratur. Ein paar Anmerkungen habe ich noch, aber zunächst einmal die Detail-Angaben zum Buch:
Marc-Uwe Kling: Views : Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2024, 269 Seiten, ISBN 978-3-550-20299-5, 19,99 €. Auch erhältlich als ebook und Hörbuch.
Es war einer der kleineren Aufreger bei der Ergebnisverkündung der sächsischen Landtagswahl: Die erreichte und dann doch nicht erreichte Sperrminorität für die blau lackierten Faschisten. Und ganz Deutschland seufzte erleichtert auf, als der Landeswahlleiter verkündete, dass vorher leider das falsche Sitzverteilungsverfahren angewandt wurde und die AfD doch nur 40 Sitze erreichen konnte.1
Dieses kollektive Erleichtern übersieht aber etwas: Die Freien Wähler Sachsen haben einen Sitz im Landtag, der ihnen durch das Direktmandat des vor Ort sehr beliebten Grimmaer Oberbürgermeisters zusteht. Gemäß sächsischem Wahlrecht bleibt dieses Mandat auch dann erhalten, wenn Berger die Wahl nicht annimmt. Er hat sich offiziell noch nicht entschieden, aber es erscheint doch sehr unwahrscheinlich, dass er sein Oberbürgermeisteramt aufgibt, um als einziger Landtagsabgeordneter seiner Partei im Dresdner Parlament zu sitzen. Das passt weder zu seiner Persönlichkeitsstruktur (er ist jemand, der gerne gestaltet) noch wäre es aus parteitaktischer Sicht sinnvoll. Warum einen sicheren OBM-Posten aufgeben, wenn doch einfach jemand, der sonst gar nicht zum Zuge kommt, nach Dresden kann?
Sehr wahrscheinlich wird also folgendes passieren: Matthias Berger wird verkünden, dass leider das Ziel, als Fraktion in den Landtag einzuziehen, nicht erreicht wurde (tatsächlich haben die FW ja sogar deutlich an Zustimmung verloren) und er sich deshalb in der Verantwortung sieht, sein Amt in Grimma zum Wohle der Bürger usw. usf. zu behalten. Für ihn stattdessen in den Landtag nachrücken wird Thomas Weidinger. Der ist bereits bekannt dafür, den Beschluss seiner eigenen Bundespartei zur Nichtzusammenarbeit mit der AfD zu ignorieren.
Weidinger wird sich also entweder direkt der AfD-Fraktion anschließen oder aber fleißig mit ihnen stimmen. Und selbst wenn Berger das Mandat annimmt: Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er anders handeln würde.3
Und zack, da hat auch die sächsische AfD ihre 41 Stimmen, die sie für die Sperrminorität braucht. Damit erhalten auch in Sachsen erwiesene Faschisten Zugriff auf die höchsten Organe der Rechtsprechung, können Verfassungsänderungen blockieren und überhaupt immer dann in Erscheinung treten, wenn es eine Zwei-Drittel-Mehrheit braucht.
Die eigentlich wehrhafte Demokratie, deren Waffen geschmiedet wurden aus der blutigen Erkenntnis heraus, dass Faschisten am Wahlerfolg nicht zu hindern sind, gibt damit einen weiteren Teil ihres Arsenals nicht nur auf, sondern überreicht ihren Feinden auch noch die Schlüssel dazu.
Michael Kretschmer, dem ich eines zumindest wirklich abkaufe, nämlich, dass er tatsächlich das meiste von dem, was er sagt, auch wirklich glaubt, ließ auf die Gesprächsangebote durch die AfD hin verlauten, dass er mit Leuten, die ihn gerade eben noch als „Volksverräter“ beschimpften, nicht über eine Zusammenarbeit sprechen könne. Diese Klarheit wünsche ich mir öfter von der CDU.
Es ist zu wünschen, dass nicht nur bei ihm, sondern in der ganzen CDU hieraus eine Erkenntnis wächst: Auch wenn die AfD sich bürgerlich gibt – es sind und bleiben Faschos. Für sie seit ihr bestenfalls Steigbügelhalter, spätestens danach werden sie auch euch jagen. Und dagegen hilft nur entschlossenes Handeln.
Noch ist es nicht zu spät, aber viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Hand an der Macht haben sie bereits.
Die pazifistische Bewegung steht hierzulande vor einem grandiosen Scherbenhaufen. Wer heute noch medienwirksam das Wort Frieden in den Mund nimmt, mag sich selbst als einsamen Rufer in der Wüste wahrnehmen – tatsächlich aber ist die Chance, dass es sich dabei um Menschen handelt, die eine sehr eigene Wahrnehmung der Welt haben, ziemlich groß.
Denn erstaunlicherweise erleben wir eine Hegemonie des militärischen Standpunktes, den ich vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. Dagegen halten – wohlgemerkt wahrnehmbar – scheinbar nur noch Menschen, deren Moralkompass sich an merkwürdigen Polen orientiert. Aber es ist doch keineswegs so, dass es zwischen Wir rüsten auf, bis bei Rheinmetall keiner mehr weiß, wohin mit den Sektkorken und Der arme Wladimir, alle sind so böse zu ihm keine Bandbreite an Alternativen gäbe. Genauso übrigens – aber da kenne ich mich leider so wenig aus, dass ich hierzu keine Stellung nehmen werde – wie es zwischen Bibi Netanjahu Teufelskerl! und Unterstützt die Freiheitskämpfer der Hamas ja durchaus Positionen gibt, die eingenommen werden können. Wie ist es soweit gekommen? Und was nun?
Mit Lammsgeduld und Blöken kommt man gegen den Wolf nicht an.2
Die pazifistische Bewegung moderner Prägung entstammt den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Diese Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts3 hat gerade im Deutschen Reich Bewegungen gefördert, die den Krieg durchaus nicht mehr als notwendigen Bestandteil der internationalen Politik sahen. Es waren nicht zuletzt die massiven Verheerungen, die schweren physischen und psychischen Schäden, die dieser erstmals vollständig in industriellem Ausmaß betriebene Krieg hinterließ, die zu einem Erwachen von pazifistischen Bewegungen führte. Und zwar von Bewegungen, die nicht mehr esoterisch-welterweckend in der Abkehr von der Moderne predigten, sondern die konkret und im Rahmen der Welt, wie sie nun einmal ist, nach Lösungen suchten.
Diese Bewegungen waren von Anfang an international und weltanschaulich durchaus divers. Es gab unzählige Friedenskongresse und Kundgebungen und Artikel und und und…
Ich möchte das hier gar nicht im Detail darstellen, denn eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie scheiterten. Wie wir alle wissen, werden die Weltkriege seit 1939 gezählt. Schaut man aber in die Schriften und Beiträge dieser Zeit, so lässt sich erstaunlicherweise feststellen: Da wurde sehr viel erkannt und sehr viel konzeptioniert – da sind eine Menge Ideen, die auch die Friedensforschung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen hat. Gedanken zu einer gemeinsamen europäischen Zukunft nahmen hier zum Teil sehr konkrete Formen an.4
Was aber geschah tatsächlich? Eines nach dem anderen kippten die Länder Europas in autoritäre Regime, in Diktaturen, in den Faschismus. Und zwar mit Ansage und Anlauf. Wie konnte das geschehen?
Im eingangs zitierten Text von Kurt Tucholsky Über wirkungsvollen Pazifismus im Jahr 1927 geht es wie folg weiter:
Tatsächlich wird der Pazifismus von den Mordstaaten sinnlos überschätzt; wäre er halb so gefährlich und wirkungsvoll, wie seine Bekämpfer glauben, dürften wir stolz sein. Wo stehen wir –?
Die historische und theoretische Erkenntnis der anarchischen Staatsbeziehungen ist ziemlich weit fortgeschritten. Die Friedensgesellschaften der verschiedenen Länder, die inoffiziellen Staatsrechtslehrer, Theoretiker aller Grade arbeiten an der schweren Aufgabe, aufzuzeigen, wo die wahre Anarchie sitzt. […] Immer mehr zeigt sich, was wahre Kriegsursache ist: die Wirtschaft und der dumpfe Geisteszustand unaufgeklärter und aufgehetzter Massen.
Und da scheint mir auch heute, nach Jahrzehnten intensiver und erkenntnisreicher Friedensforschung tatsächlich nicht das Problem zu liegen: Wir wissen sehr gut, was Kriege verursacht, wie sie geführt werden und was sie stützt. Ob Tucholskys Einschätzung so ohne weiteres zu unterschreiben ist, sei dahingestellt – denn damals wie heute gilt: Es mangelt nicht an Erkenntnis, es mangelt nicht an Wissen. Nein: Die Pazifisten dringen nicht durch, sie schaffen es nicht, nennenswert zu handelnder Politik beizutragen, es gelingt ihnen nicht, Menschen zu erreichen – kurz: Die pazifistische Bewegung wirkt nicht.
Theoretische Schriften über den Staatsgedanken des Pazifismus, Diskussionen über dieses Thema müssen sein – sie bleiben völlig wirkungslos, wenn sie nicht in die Terminologie, in die Vorstellungswelt, in das Alltagsleben des einzelnen übersetzt werden.
Es mag ganz nett sein, sich jedes Jahr zu Ostern zu versichern, wie schlimm der Krieg ist – aber Fakt ist doch: Von Pershing bis Tomahawk hat die Friedensbewegung in diesem Land keine Stationierung verhindert. Und selbst die großen, inzwischen aufgekündigten Abrüstungsverträge entstanden auf wirtschaftlichen und nicht auf friedensbewegten Druck hin.
Die Friedensbewegung en gros hat – aus meiner Sicht – die Fehler der Zwischenkriegszeit wiederholt. Nicht, weil sie nicht radikal genug gewesen wäre oder nicht deutlich genug gezeigt hätte, wie furchtbar Krieg ist. Sie hat es nie geschafft, eine Sprache zu entwickeln, die wirkmächtig genug wäre, wirklich bis in die Tiefe der Gesellschaft zu wirken. Ihre Wirkung reicht doch noch nicht einmal bis zu ihren parlamentarischen Verbündeten, wenn wir uns anschauen mit welcher Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit Menschen wie Anton Hofreiter über Modellvarianten der Schwerartillerie reden. Diesem Fakt gilt es sich zu stellen. Egal, wie oft man sich auf Veranstaltungen aller Art tief in die Augen schaut und feststellt, dass ja alle miteinander gegen den Krieg sind. Nach draußen! Dahin muss der Blick und das Wort gehen, dahin, wo es weh tut, wo Menschen im Krieg etwas Heroisches, Notwendiges oder Unvermeidbares sehen. Und darum noch einen Absatz aus dem hier permanent zitierten Text des Hausheiligen dieses Blogs (ja, das ist ein ganz dezenter Lesehinweis auf den Gesamtext):
Was die Generale mit ihren ehrfurchtsvoll gesenkten Degen, mit Fahnen und ewigen Gasflammen; mit Uniformen und Hindenburg-Geburtstagsfeiern; mit Legionsabzeichen und Filmen heute ausrichten und ausrichten lassen, ist das schlimmste Gift. Entgiften wir.
Das kann man aber nicht, wenn man, wie das die meisten Pazifisten leider tun, dauernd in der Defensive stehen bleibt, »Man muß den Leuten Zeit lassen –« und: »Auch wir sind gute Staatsbürger –« Ich glaube, daß man weiterkommt, wenn man die Wahrheit sagt […]
Wir kennen den Geisteszustand, der in allen Ländern im ersten Kriegstaumel geherrscht hat. Ihn hat man heraufzubeschwören, ihn genau auszumalen – und ihn zu bekämpfen. Prophezeit: so und so wird es sein. Ihr werdet zu euern sogenannten Staatspflichten gezwungen werden, die nichtig und verdammenswert sind – befolgt sie nicht. Ihr werdet eingeredet bekommen, daß drüben der Feind steht – er steht hüben. Man wird euch erzählen, daß alle Letten, Schweden, Tschechen oder Franzosen Lumpen seien – die Erzähler sind es. Ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig; ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig; ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig.
Und die Fahne, die da im Wind flattert, weht über einem zerfetzten Kadaver. Und wenn euch ein Auge ausgeschossen wird, bekommt ihr gar nichts oder sechzehn Mark achtzig im Monat. Und jeder Schuß, den ihr abfeuern müßt, ist ein Plus im Gewinnkonto einer Aktiengesellschaft. Und ihr karrt durch den Lehm der Straßen und stülpt die Gasmasken auf, aber ihr erntet nicht einmal die Frucht eures Leidens. Und die wahre Tapferkeit, der echte Mannesmut, der anständige Idealismus des guten Glaubens – sie sind vertan und gehen dahin. Denn man kann auch für einen unsittlichen Zweck höchst sittliche Eigenschaften aufbringen: aufopfern kann man sich, verzichten, hungern, die Zähne zusammenbeißen, dulden, ausharren – für einen unsittlichen Zweck, Getäuschter, der man ist, Belogener, Mobilisierter . . . seiner primitiven Eigenschaften, der barbarischen.
Die Antwort muss damals wie heute lauten: Nein. Wir stoßen nicht vor. Das muss die bittere Erkenntnis sein, wenn wir uns die rasche Militarisierung unserer Gesellschaft in den letzten Jahren anschauen. Mit dem Abtreten der letzten Kriegsgeneration aus der politischen Verantwortung sind rasant Dinge wieder möglich geworden, die vorher undenkbar schienen. Deutsche Soldaten im Auslandseinsatz erscheinen uns inzwischen völlig normal, ja wir diskutieren sogar, ob sie denn auch effektiv genug sind. Selbst Werbung der Bundeswehr an Schulen ist kein No-Go mehr. Wieder einmal wussten die Militaristen sehr viel besser, wie das Spiel gespielt wird. Und als der Krieg mit voller Wucht in das Herz Europas zurückkehrte, konnten sie ernten, was sie gesät haben. Wir auch schon vor 110 Jahren erwachten die Pazifisten viel zu spät:
Am 1. August 1914 war es zu spät, pazifistische Propaganda zu treiben7
Stellt sich jetzt also die Lenin’sche Frage: Was nun?
Kriegspropaganda allerorten
Ich möchte mich jetzt einmal auf den Elefanten im Raum dieses Textes konzentrieren: Den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Aus dem simplen Grund, dass hier die Sachlage – entgegen allen Geraunes – simpel ist. Und gleichzeitig die Schwäche der Friedensbewegung offenbar wird, sich in Freund-Feind-Schemen zu verstricken, die letztlich der militaristischen Logik folgen. Und deren Endkonsequenz ist, dass sie heute Partei nimmt. Anstatt also Wege aus dem Krieg zu zeigen, anstatt Ansätze für eine Friedenspolitik zu liefern (nochmal: Es liegen Erkenntnisse aus Jahrzehnten Forschung vor!), verstrickt sie sich in simplifizierenden, Realitäten ignorierenden Ostermarschträumen und prangert den Imperialismus im Auge des anderen an, um ihn vor dem Kopf des einen zu ignorieren.
Recap: Was bisher geschah
Die Historie des russischen Krieges ist hinlänglich nachzulesen, ich möchte ein paar Schlaglichter herausgreifen. Nach dem Ende der Sowjetunion entstand die Situation einer eigenständigen Ukraine, die sich urplötzlich im Kreise der Atommächte wiederfand und eine stattliche Flotte im Schwarzen Meer ihr eigen nennen konnte, inklusive zweier im Bau befindlicher Flugzeugträger.
Es folgten mehrjährige Verhandlungen, an deren Ende die Ukraine ihren Flottenanteil verkaufte, den Flottenstützpunkt verpachtete und die Atomwaffen übergab.
Dass Verträge mit Russland eher so allgemeine Richtlinien sind und die russische Seite sich durchaus zu nichts verpflichtet fühlt, zeigte sich bereits 2006, als die Ukraine doch tatsächlich Schritte unternahm, um eine NATO- und eine EU-Mitgliedschaft zu erlangen.
Sehr plötzlich verlangte Gazprom eine sofortige Tilgung offener Rechnungen, erhöhte massiv den eigentlich vereinbarten Erdgaspreis und drohte mit Lieferstopp, der dann auch folgte. Das jahrelange Tauziehen endete erst 2010, als inzwischen ein russlandfreundlicher Präsident in Kyjiw amtierte und – vor allem – das EU-Assoziierungsabkommen nicht ratifiziert wurde. Plötzlich war wieder ein niedrigerer Erdgaspreis möglich. Nach dessen Sturz und der russischen Invasion auf der Krim galt das alles wieder nicht mehr. Das russische Gebahren wurde übrigens sogar international juristisch aufgearbeitet, mit dem Ergebnis, dass der Ukraine 2,5 Milliarden Dollar zustehen. Dieses Vorgehen der russischen Gas-Diplomatie ist nicht einmal etwas besonderes im Verhältnis der beiden Nachbarstaaten, auch in Europa hat man sich mit solchen Verträgen, die im Zweifelsfall das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen, knebeln lassen.
Worauf ich hinauswill: Das russische Verhalten ist glasklar imperialistische Politik und daraus hat Wladimir Putin niemals ein Geheimnis gemacht. Es war und ist erklärtes Ziel, den russischen Einflussbereich mindestens auf die Größe der ehemaligen Sowjetunion auszudehnen und dabei wird jedes Mittel gezogen, bis zum Krieg. Auch das wissen wir schon lange und unsere osteuropäischen Nachbarländer wurden nie müde, darauf hinzuweisen.
Russland hat – und das ist unstrittig – jeden Vertrag der letzten 30 Jahre mit der Ukraine gebrochen. Die wichtigsten wahrscheinlich der Freundschaftsvertrag von 1999 und das Budapester Memorandum von 1994, die beide die territoriale Integrität, die Anerkennung von Grenzen und der Souverinät feststellten.
Keine völkerrechtliche Vereinbarung hat Russland davon abgehalten, nicht nur gegen die expliziten, Ukraine-bezogenen Verträge zu verstoßen, sondern auch gegen übergeordnete Verträge wie die KSZE-Schlussakte oder die Charta der Vereinten Nationen.
Explizit verbotene Handlungen wie wirtschaftliche Erpressungsmaßnahmen, Invasion und Annexion des Staatsgebietes, mit deren Zusicherung die Ukraine auf Atomwaffen verzichtet hat, wurden dennoch begangen.
Es ist wirklich selten, dass die Frage, wer hier der Agressor ist, so eindeutig und klar zu beantworten ist. Und zwar, das sei hier explizit noch einmal hervorgehoben, ganz unabhängig davon, dass die Ukraine gewiss kein demokratischer Musterstaat ist. Das spielt bei dieser Frage überhaupt keine Rolle. Wir haben uns aus guten Gründen darauf geeinigt, dass man nicht einfach in Länder einmarschiert, deren Regierung einem nicht passt. Seit 2014 führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine, seit 2022 flächendeckend. Punkt.
Wo kann hier die pazifistische Perspektive liegen?
Welche Antworten kann die Friedensbewegung hier geben? Sie kann möglicherweise viele geben, aber wir hören sie nicht.
Bankrotterklärung
Bisher war es für die westliche Friedensbewegung sehr einfach: Der böse US-amerikanische Imperialismus greift per Kommandooperation oder auch ganz offen dort ein, wo er seine Interessen bedroht sieht. Im Zweifelsfall holt er sich sogar noch die Erlaubnis der Weltgemeinschaft mit gefälschten Beweisen dafür ab. Chile, Nicaragua, Vietnam, Irak etc. etc.
Dagegen lässt sich protestieren, es gibt Medien, die das offenkundig machen und auf das Übel zeigen. Das ist richtig und mehr als notwendig. Es hat sich aber in den 70 Jahren des Protestes zweierlei gezeigt:
a) Günter Grass hatte 1967 einen Punkt:
Aber es gibt, so lesen wir, Schlimmeres als Napalm. Schnell protestieren wir gegen Schlimmeres. Unsere berechtigten Proteste, die wir jederzeit Verfassen, falten, frankieren dürfen, schlagen zu Buch. Ohnmacht, an Gummifassaden erprobt. Ohnmacht legt Platten auf: ohnmächtige Songs. Ohne Macht mit Gitarre. – Aber feinmaschig und gelassen wirkt sich draußen die Macht aus.8
Die Proteste dagegen hatten bald etwas routiniertes. Sie schienen kaum noch auf den Einzelfall bezogen zu sein, sondern man konnte bequem die Schilder vom letzten Protest nochmal verwenden. Diese Routine, wenn nicht schon Ritualisierung, machte Friedensproteste in Ost und West erstaunlich ähnlich – und das ist bemerkenswert, denn im Osten waren die nun wirklich echte staatliche Rituale. Auch ich bin als Kind mit der Picasso-Taube demonstrieren gegangen und natürlich was der Imperialismus als Kapitalismus im Endstadium und damit Verteidiger des Faschismus (wenn nicht sogar selbst faschistisch!) der große Feind des friedenswilligen Sozialismus. Und deshalb war es natürlich auch nötig, die Kinder zeitig zu militarisieren, damit sie auch gerne den Panzer zur Verteidigung des Friedens besteigen – sorry, ich schweife ab.
Jedenfalls aus meiner Beobachtung gibt es von dort eine direkte Entwicklungslinie zu
b) einem reflexhaften Anti-Amerikanismus.
Es gibt irrsinnig viele Gründe, die US-amerikanische Außenpolitik und ihr offizielles und inoffizielles Handeln zutiefst zu verbscheuen. Und nein, natürlich ist die US-Politik nicht von irgendwelchen Werten geleitet, sondern im Wesentlichen von Interessen – und auch hier bevorzugt von ihren eigenen. Das führt zu widerlichsten Ergebnissen und die sind hart und offen anzusprechen und zu kritisieren. Gerade aus antiimperialistischer Sicht (und nur eine solche Sicht kann eine pazifistische Weltanschauung annehmen, Imperien sind per se nicht friedensfördernd, auch wenn wir in unserer Erinnerungskultur immer wieder so tun) gibt es mehr als genug Gründe, ganz genau hinzuschauen, wenn die USA politisch tätig werden.
Ein Antiimperialismus, der allerdings völlig übersieht, dass die USA nicht die einzige Weltmacht sind und auch keineswegs die einzige, die sich außenpolitische widerlichster Praktiken bedient, verdient seinen Namen nicht. Wer nicht erkennt, dass die Abhängigkeitspolitik, die Russland über Jahrzehnte betrieben hat und die China seit einigen Jahrzehnten betreibt (Afrika, anyone? Südasien, anyone? Südamerika, anyone?), Imperialismus in Lehrbuchform ist, pflegt keine kritische Weltsicht, sondern Vorurteile. Wer übersieht, wie Russland immer wieder militärisch eingegriffen hat, wenn Nachbarländer nicht gespurt haben, wer nicht sieht, dass Russland und nur Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, pflegt keine kritische Weltsicht, sondern Vorurteile. Die USA sind an vielem Übel Schuld. Daran, dass Putin gerne die Sowjetunion wieder haben will und dafür alles unternimmt, was ihm nötig erscheint, aber nicht.
Es waren nicht die USA, die auf die Krim, in Donezk und Luhansk einmarschiert sind. Es waren nicht die USA, die mit einem Handstreich Kyjiw erobern wollten und in Butscha Dorfbewohner massakriert haben.
Ein Antiimperialismus, eine Friedensbewegung, die Ernst genommen werden will, muss in der Lage sein, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch wenn der Lieblingsfeind gerade mal nicht Schuld hat.
Es gibt keinen, keinen einzigen Grund, der es rechtfertigt, einen Krieg zu beginnen. Eine Friedensbewegung, die es nicht schafft, sich auf diesen Nenner zu einigen, ist keine. Wer allen Ernstes meint, der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei nur das Ergebnis einer Provokation des Westens, insbesondere der USA, erklärt doch letzten Endes: Es gibt Situationen, da muss ein Land seinen Nachbarn überfallen. Und sorry, aber das mag vieles sein, pazifistisch ist das nicht.9
Was hier geschieht, ist die Rechtfertigung eines Angriffskrieges. Und das ist: Kriegspropaganda.
Scheinargumente
Es gibt immer wieder Argumente, die vorgebracht werden, um zu belegen, es sei eigentlich ganz einfach und in der Hand des Westens, diesen Krieg zu beenden. Sie gleichen sich in Muster und Stoßrichtung, darum nur mal zwei willkürlich herausgegriffen. Ziel ist es immer, Agens und Reagens zu vertauschen und damit die Handlungsoptionen zu verschieben.
Gegen eine Atommacht kann man nicht gewinnen
Dieses Argument kommt sehr realpolitisch daher. Und ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war davon geprägt, der Atomwaffensperrvertrag beruht darauf. Und ja, Russland hat sich bisher nicht an die Verträge gehalten, warum sollten sie urplötzlich damit anfangen. Das Budapester Memorandum, dass explizit besagt, Atomwaffen nicht gegen Nicht-Atomwaffenmächte einzusetzen, wurde ja bereits in anderen Punkten gebrochen, warum nicht auch in diesem? Also ja, absolut möglich, dass Russland gegen die Ukraine Atomwaffen einsetzen wird. Doch lasst uns hier mal kurz innehalten: Wer hat hierfür die Handlungsoptionen? Es ist einzig und allein Russlands Entscheidung, ob es den Angriffskrieg weiter eskaliert. Es gibt eine ganz einfache Option, den Krieg sofort zu beenden: Sich aus der Ukraine, in der sie nichts zu suchen haben, zurückzuziehen. Als ob irgendeine Handlung der Ukraine oder des Westens Russland hindern würde! Selbst die kuschelzahme deutsche Appeasement-Politik seit den 90ern hat nichts, gar nichts verhindert. Den Krieg in Tschetschenien nicht, in Georgien nicht, in der Ukraine nicht. Und wenn es Putin oder sonstwem in den Kopf kommt, wird die Bombe fallen. Und wenn sie sich ausdenken, dass in der Ukraine Atomwaffen stehen. Dass Russland eine Atommacht ist und man ihm deshalb natürlich erlauben muss, seine Nachbarn mit Krieg zu überziehen, weil die ja eh nicht gewinnen können: Das ist die Rechtfertigung eines Krieges und mithin: Kriegspropaganda.
Frieden also erst, wenn genug Russen tot sind?
Ein Argument, das besonders gerne gegen Waffenlieferungen an die Ukraine gebracht wird. Und das ist nun ein Musterbeispiel für die Umkehrung von Aktion und Reaktion. Es bräuchte kein Russe mehr im Krieg sterben, wenn der Aggressor das tun würde, was nach Völkerrecht geboten wäre: Sich zurückziehen. Niemand hat so viel Macht wie Putin, diesen Krieg zu beenden. Er müsste es nur befehlen. Dass er das aus innenpolitischen Gründen nicht kann, weil er diesen Krieg propagandistisch derart aufgeblasen hat, dass selbst ihm das Schönreden schwer fallen dürfte, ändert nichts am Fakt: Er hat den Einmarsch befohlen, er kann den Abmarsch befehlen. und sofort müsste kein russischer Soldat mehr an der Front sterben. Nicht mal durch deutsche Panzer. Man kann die Waffenlieferungen kritisch sehen und Pazifisten müssen Waffenlieferungen kritisch sehen. Aber bitte auf Grundlage der tatsächlichen Verhältnisse. Und die besagen: Es sterben Russen und Ukrainer zu tausenden und täglich – aus einem einzigen Grund: Weil Russland die Ukraine überfallen hat. Es ist Russland, das derzeit seine alte Kriegstradition aufgreift und so lange Soldaten ins Feuer schickt, bis der Gegner keine Munition mehr hat. Sie könnten sofort damit aufhören. Es ist geradezu zynisch, in diesem Punkt die Verhältnisse umzudrehen. Dass Russen an der Front sterben, liegt ausschließlich in der Verantwortung Russlands. Zu behaupten, daran sei irgendjemand anderes als die russische Führung Schuld, betreibt die Rechtfertigung eines Krieges und mithin: Kriegspropaganda.
Perspektiven
Am 1. August 1914 sei es zu spät für pazifistische Propaganda gewesen, heißt im obigen Tucholsky-Zitat. Das gilt natürlich auch für den 1. September 1939 und für den 24. Februar 2022 und jedes beliebige andere Kriegsbeginnsdatum. Übrigens geht das Zitat weiter:
war es zu spät, militaristische zu treiben – tatsächlich ist auch damals von den Militaristen nur geerntet worden, was sie zweihundert Jahre vorher gesät haben. Wir müssen säen.10
Nun haben die Pazifisten nicht – oder zumindest nicht genug – gesät. Dennoch gilt es aber, weiter nach Alternativen zu suchen. Pazifismus hat derzeit keinen guten Klang, wie auch Heribert Prantl erst jüngst anprangerte. Auch Prantl benennt in seinem Kommentar das Dilemma des Pazifismus im Krieg:
Wenn der Krieg beginnt, sind die entscheidenden Fehler zumeist schon gemacht worden. Der Pazifismus ist daher der große und wichtige Widerspruch gegen den Krieg, er ist die radikale Anklage gegen den alten Spruch, dass der, der den Frieden will, den Krieg vorbereiten müsse. Es ist genau anders: Wer den Frieden will, muss den Frieden suchen – nicht erst im Krieg, sondern lange vorher, bevor er zu köcheln und zu kochen beginnt.11
Nun ist er aber da, der Krieg. Und hämisch werden die Pazifisten gefragt: Na, wohin denn nun mit euren Blümchen und Protestsongs? Helfen die gegen russische Bomben?
Nein, helfen die nicht. Und es sei als Exkurs an dieser Stelle erwähnt: Natürlich müssen wir nach diesem Jahrhundert der Völkermorde, in denen Verbrechen in Dimensionen begangen wurden, die mit militärischer Kriegsführung nichts mehr zu tun haben, anders über Waffeneinsatz reden. Es ist – dies ist eine bittere Erkenntnis – manchmal tatsächlich nur noch mit Waffengewalt zu antworten, weil alles andere noch schlimmer wäre.
Nur: Als Antwort auf Krieg nur Aufrüstung und Kriegsbereitschaft bereitzuhalten, ist Werbung für den nächsten Krieg, mithin: Kriegspropaganda. Hier gilt es entschieden und deutlich gegenzuhalten. Wir brauchen Ideen, wie wir die Zeit nach dem Ukraine-Krieg so gestalten, dass nicht doch noch der nächste Weltenbrand ausbricht. Und die müssen hörbar und wirksam gemacht werden. Die bisherige Strategie: Wir binden Russland ein, wenn wir ihre guten Gas-Kunden sind, werden die schon nichts tun und der Wladimir redet halt nur, der meint das alles gar nicht so – ist gescheitert. Der Wladimir meint das genau so und China hat auch schöne Pipelines. Diese Ideen gibt es, macht sie groß, macht sie laut.
Dann: Dieser Krieg ist zu beenden. Das wird aber nicht funktionieren, indem nach schon gescheiterten Formaten gerufen wird (Minsker Abkommen, erinnert sich noch wer?) Mit Putin wurde selbst nach der Invasion auf die Krim verhandelt und er hat auch dieses Vertragswerk mit Füßen getreten. Ich kann in keinster Weise erkennen, dass mit Putin zu verhandeln ist. Er kann nur gezwungen werden. Militärisch wird er nach Lage der Dinge kaum gezwungen werden können – er mobilisiert einfach so lange Soldaten, bis der Ukraine die eigenen Soldaten oder die Munition ausgeht. Diese menschenverachtende Ausblutungsstrategie ist in der russischen und sowjetischen Militärtradition nicht neu – und wenn wir bedenken, in welch hohen Tönen Putin von den militärischen Glanztaten der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg spricht, stellt das für ihn auch kein moralisches oder sonstiges Problem dar. Es gibt also nur wenige Möglichkeiten: Entweder es greifen weitere Mächte direkt ein – was höchstwahrscheinlich den letzten Weltkrieg auslösen wird. Oder die Ukraine wird irgendwann zur Aufgabe gezwungen und Teil des allseligen Russischen Reiches. Mit unabsehbaren Folgen für die Weltordnung als Ganzer und mit dem wahrscheinlichen Ende der Selbstständigkeit Taiwans. Krieg ist immer eine Lose-Lose-Situation. Ein nicht-militärisches Ende wäre wohl nur zu erwarten, wenn es für mindestens Indien und China im eigenen Interesse sein wird, dass Russland den Krieg beendet. Derzeit profitieren sie aber zu sehr davon (nebenbei, in Sachen Lose-Lose-Situation: Russland hat sich mit diesem Krieg endgültig in die zweite Reihe verabschiedet – das Land ist ganz nützlich als Rohstoff-Lieferant und Absatzmarkt (Nordkorea z.B. wird gerade seine irrsinnige Überproduktion an Militärgütern los, der Iran auch) – aber eine erste Rolle wird es nicht mehr spielen können, denn es hängt jetzt am chinesischen Tropf).
Eine der prägendsten Filmmomente meiner frühen Jugend war eine Szene im bestenfalls mittelmäßigen Film American Shaolin. Nachdem der Protagonist mühsam gelernt hat, dass Kampf kein Mittel der Auseinandersetzung ist, sieht er seinen alten Mobber wieder, der im Ring einen Mitschüler quält und den Protagonisten auffordert, gegen ihn zu kämpfen, erst dann würde er vom Gepeinigten ablassen. Und hier erhält unser Protagonist eine Lehre: Manchen Menschen muss man eine Lektion erteilen, sonst hören sie nie auf. Worauf er in den Ring steigt.
Mich hat das geprägt, weil es nicht nur auf individueller Ebene, sondern eben auch auf staatlicher Ebene immer wieder vorkommt, dass jemand durch keine Regel einzuhegen ist. Dem alles egal ist und der immer wieder kommen wird. Der immer wieder zuschlägt, bis er selbst zu Boden geht – und nichts anderes kann ihn stoppen.
Was macht man mit so jemandem? Wie geht man mit so einem Staat um? Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher: Es gibt Menschen, die das wissen. Und die will ich hören. Die sollen in den Talkshows sitzen und nicht irgendwelche Menschen, die Kriegspopaganda nacherzählen. Denen müssen die Schlagzeilen gehören.
Heute aber, das bringt der Kalender so mit sich, gehören die Schlagzeilen denen, die das Wort Frieden gekapert und zutiefst korrumpiert haben und damit nicht den Frieden, sondern die Grabesstille der Diktatur meinen.
Zum Ausgang noch diese Worte des Hausheiligen dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky:
Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg . . . das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.12
Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: Über wirkungsvollen Pazifismus. erschienen in: Die Weltbühne, 11.10.1927, Nr. 41, S. 555. online verfügbar bei zeno.org↩︎
Dieser Begriff birgt einige Komplikationen. Zum einen ist der Krieg natürlich nicht wie eine Tsunami-Welle über den Kontinent geschwappt, sondern hat ganz klare und definierbare Ursachen. Zum anderen ist er durchaus eurozentristisch. Bei allen Auswirkungen, die der 1. Weltkrieg ohne Zweifel global hatte – dieses Schlagwort lässt sich so aber doch nur in einem relativ eng definierten Bereich aufrecht erhalten. Ich verwende ihn hier trotzdem, weil er aus einer Perspektive, die mir an dieser Stelle wichtig ist, treffend sein dürfte: Das Ausmaß der Verheerungen politisch, psychologisch, materiell war für die Masse der europäischen Bevölkerung kaum anders als katastrophal zu nennen. Es ist meiner Meinung nach denn auch kein Zufall, dass es gerade in Deutschland starken Zulauf zu pazifistischen Bewegungen gab. ↩︎
Ganz willkürlich und beispielhaft sei hierzu auf den Aufsatz von Thomas F. Schneider Die Vereinigten Staaten von Europa verwiesen. Zu finden in: King, Ian (Hrsg) »Ein bunt gestrichenes Irrenhaus«. Tucholsky, die Weltbühne und Europa. Leipzig, Weissenfels: Ille & Riemer, 2018 Schriftenreihe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 11), 102–128 ↩︎
Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: Über wirkungsvollen Pazifismus. erschienen in: Die Weltbühne, 11.10.1927, Nr. 41, S. 555. online verfügbar bei zeno.org↩︎↩︎
aus: Kurt Tucholsky als Peter Panter: Schnipsel. in: Die Weltbühne, 30.12.1930, Nr. 53, S. 999. online verfügbar unter http://www.zeno.org/nid/2000581880X↩︎
Über Ost und West, die Einheit und ihre (Nicht-)Vollendung ist bereits viel geschrieben worden. Vieles davon beruht aber eher auf gefühltem Wissen oder tradierten (Vor-)Urteilen.
Steffen Mau nimmt in diesem Buch seine Profession als Soziologe aber Ernst und macht etwas, das überraschend selten getan wird: Er schaut ganz genau hin, nutzt das Instrumentarium der Sozialwissenschaften und kommt dabei zu präzisen Ergebnissen. Dieser nüchterne, genaue Blick darauf, was wirklich ist – also welche Einstellungen, welche Wertvorstellungen, welche Mentalitäten tatsächlich im Osten existieren und woher sie stammen, hebt sich wohltuend von gängigen Polemiken ab.
Dabei zeichnet er die verschiedenen Phasen des Umgangs mit „dem Osten“ nach und macht überzeugend deutlich, dass die Strategie der Anwandlung an „den Westen“ nicht nur nicht zielführend, sondern auch schlicht nicht funktioniert hat – und auch nicht funktionierend wird. Eine demokratische Zukunft ist überhaupt nur erreichbar, wenn wir in der Gesamtgesellschaft anerkennen, dass es erhebliche Unterschiede gibt, die unterschiedliche Herangehensweisen und Instrumente erfordern. Wir müssen endlich weg davon kommen, unsere Entscheidungen auf Voreingenommenheiten und Illusionen zu stützen. Dafür ist eine realistische, saubere Bestandsaufnahme eine unerlässliche Grundlage.
Die sorgfältige Beobachtung und Argumentation von Steffen Mau bietet eine exzellente Grundlage für künftiges politisches Handeln, weg von illusorischen Vorstellungen, hin zu einer die Realitäten anerkennenden, aktiven Gestaltung einer weiterhin möglichen demokratischen Zukunft – nicht nur des Ostens, sondern der ganzen Bundesrepublik.
Besonders spannend fand ich Maus Gedanken, die nie wirklich gelungene Verwurzelung der bundesrepublikanischen Parteien im Osten als Herausforderung und Ideenfeld zu nutzen, wie Demokratie dennoch funktionieren könnte – denn es braucht keine prophetische Gabe, um abzusehen, dass die bereits stark bröckelnden Strukturen im Westen auch dort nicht mehr ewig halten werden. Der Trend ist seit Jahrzehnten ungebrochen und es ist nicht abzusehen, dass er endet. Also: Anstatt immer wieder herumzujammern, dass der Osten nicht wie der Westen ist, lasst uns diesen Fakt doch einfach mal anerkennen und schauen, was wir da tun können. Denn eines ist klar: Die Faschisten haben das längst erkannt und spielen ihr Playbook durch. Wird Zeit, mal ganz zügig eine 20 zu würfeln und loszulegen…
Auch wenn ich Mau’s Optimismus für seine vorgeschlagenen Lösungswege nicht ganz zu teilen vermag, sein Plädoyer dafür, dass es unabdingbar ist, jetzt etwas zu tun, ist absolut überzeugend.
Buchdetails: Ungleich vereint : warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Suhrkamp Berlin 2024, 168 Seiten, ISBN 978-3-518-02989-3, auch als ebook erhältlich
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