Auf dem Nachttisch (10)

Der Stapel auf dem Nachttisch erreicht mal wieder bedrohliche Höhen – allerhöchste Zeit, einige Bände herunterzuräumen. Heute haben wir eine norwegische Krankenschwester, zwei grandios wütende Wahlschwestern, einen israelischen Alleskönner und eine Kekse verteilende Provenienzforscherin dabei.

Coverabbildung des Romans "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid von Alena Schröder

Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Erstmal: Was für ein toller Romantitel? Wer da nicht interessiert zugreift und zumindest mal den Klappentext liest, ist ein mir unbegreiflicher Mensch.

Hannah steckt fest. Ihr Dissertationsprojekt ist in einer Sackgasse gelandet, so richtig motivieren kann sie sich auch nicht. Dass sie vor einigen Monaten Sex mit ihrem Doktorvater hatte, macht die Situation nicht einfacher. Regelmäßig besucht sie ihre Großmutter Evelyn in deren Seniorenresidenz. So vergehen Tage, so vergehen Wochen, so vergehen Monate. Die Geschichte setzt ein, als ein Brief von einer Anwaltskanzlei eintrifft. Diese auf Restitutionsfragen spezialisierte Kanzlei teilt mit, dass Ansprüche auf arisierten Besitz von Evelyns Mutter bestehen könnten. Diese Mutter aber wird von Evelyn, die bei ihrer Tante aufwuchs, konsequent verleugnet., sie weigert sich, zu dem Thema auch nur irgendetwas zu sagen – gibt Hannah aber den Brief mit.

In ihren Nachforschungen öffnet sich Hannah ein ihr völlig unbekanntes Kapitel ihrer Familiengeschichte. Alena Schröder kontrastiert diese mühsame Suche nach den Puzzlestücken, von denen unklar ist, was sich bei ihrem Zusammensetzen ergeben wird, mit der Erzählung der Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter und deren Schwester.

Mir gefällt hier besonders, wie Alena Schröder die Entscheidungen und Handlungen der Protagonist:innen einbettet in deren Lebensumstände, Weltanschaungen und Wertvorstellungen – mit immer wieder im klassischen Sinne tragischen Ergebnissen. Das lässt sie sehr lebendig werden und hat zumindest bei mir immer wieder zum Innehalten geführt. Denn so unsympathisch mir auch etliche Figuren waren: Ganz häufig konnte ich nachvollziehen, warum sie sich so entschieden haben, wie sie sich eben entschieden. Was – insbesondere in Hannas Zeitlinie – die resultierenden Handlungen gerade der anwesenden Männer nicht besser macht. Und: Die Geschichte läuft nicht nach Schema F ab – auch der Plot hebt sich wohltuend von den herzerwärmenden Familienromangeschichten ab (deren eskapistischen Wert ich nicht schmälern möchte). Es gibt die eine oder andere Wendung, die mich überrascht hat. Habe mich durchaus gelegentlich ertappt, wie ich dachte: „Och nö, nicht doch“ – und dann ging es doch in eine andere Richtung weiter. Mein Herz allerdings gehört ganz und gar Marietta Lankwitz. Keks?

Buchdetails:
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid : Roman ; dtv München 2021, 366 Seiten ; ISBN 978-3-423-28273-4 ; als Taschenbuch 13 € ; als ebook 10,99 € ; als Hörbuch 11,19 €

Coverabbildung des Buches "Wenn wir lächeln von Mascha Unterlehberg

Mascha Unterlehberg: Wenn wir lächeln

Jara und Anto lernen sich beim Fußball kennen – und werden schnell verschworene Freundinnen. Wenn nicht sogar Schwestern.

Was in diesem kurzen Roman tatsächlich passiert – „tatsächlich“ im Sinne eines stringent zu erzählenden Plots, ist gar nicht mal so genau zu sagen. Da bleiben Unklarheiten, Ungewissheiten. Gleichzeitig aber ist sehr klar zu fassen, was geschieht. Mascha Unterlehberg erzählt mit einer bezwingenden Sprache die Geschichte einer Schwesternschaft, die sich gegen die Welt, gegen männliche und patriarchale Zumutungen stellt und sich in ihrer Wut nicht aufhalten lässt. Hier erleben wir zwei junge Frauen, die sich nicht ergeben, nicht ihr Leid hinnehmen, sondern mit Wucht zurückschlagen. Was mich besonders beeindruckt hat: Es geht hier viel um Gewalt – aber sprachlich ist dieser Roman voller Zartheit, voller Humor und doch unerbittlich unverblümt. Und damit unfassbar wirkmächtig.

Buchdetails:
Mascha Unterlehberg: Wenn wir lächeln : Roman ; DuMont Köln 2025, 253 Seiten ; ISBN 978-3-7558-0036-1 ; als Hardcover 23 € ; als ebook 19,99 € ; als Hörbuch 14,89 €

Coverabbildung des Buches "Station 22" von Anne Elvedal

Anne Elvedal: Station 22. Wo bist Du sicher?

Ida ist Krankenschwester auf Station 22, einer psychiatrischen Krankenhausstation. Dort ist sie beliebt, insbesondere bei den Patientinnen. Ihr kommt dabei zugute, dass sie aufgrund ihrer traumatischen Kindheitsgeschichte besonders empathisch auf sie eingehen kann. Dieses Trauma sitzt so tief, dass es bis heute und bis in die kleinsten Details ihres Alltags hineinwirkt.

Das Verschwinden einer Patientin, die angegeben hatte, verfolgt zu sein und deren Eltern diametrale Positionen zu den Ursachen ihres Verschwindens vertreten, löst eine Kette von weiteren Entwicklungen aus, die offenbaren, dass hier schrecklichste Befürchtungen wahr werden.

Der Thriller ist spannend und in seiner Intensität durchaus geeignet, gängige Vorstellungen über skandinavische Spannungsliteratur zu bestätigen. Wir haben es hier mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun. Dagegen wäre wenig einzuwenden, mich aber hat es nach einer Weile doch sehr enerviert – denn, wenn die Erzählerin so unzuverlässig ist, dass man gar nichts mehr glauben kann, wird es für mich öde. Wen das nicht stört, der kommt hier aber voll auf seine Kosten.

Buchdetails:
Anne Elvedal: Station 22. Wo bist du sicher? : Thriller [OT: Du kan kalle meg Jan] ; aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann ; Ullstein Paperback Berlin 2025, 352 Seiten ; ISBN 978-3-86493-351-6 ; als Paperback 16,99 € ; als ebook 13,99 € ; als Hörbuch 19,59 €

Coverabbildung des Buches "Die Fälschung" von Daniel Silva

Daniel Silva: Die Fälschung

Gabriel Allon hat seine Geheimdienstkarriere beendet. Aber natürlich ist er nicht der Typ für gemütlichen Ruhestand mit Rotwein und schönem Ausblick vom Balkon. Naja, möglicherweise ist er das schon – aber bei einer solchen Biographie lässt einen die Welt nie in Ruhe.

Als er also auf eine spektakuläre Kunstfälschung stößt, gerät er sehr schnell in den Strudel sehr schwerer Interessenten mit nicht besonders lauteren Interessen. Und schon sind Frau und Kinder doch nicht mehr der einzige Lebensinhalt und er stürzt sich in die Aufdeckung dieses Skandals.

Allon ist nicht nur begnadeter Kunstrestaurator, er ist natürlich auch begnadeter Kunstfälscher, begnadeter Agent, begnadeter Netzwerker und begnadeter Zweikämpfer. Marvel-Superhelden können einpacken gegen Gabriel Allon. Als Leser begleitet man ihn durch die Welt und sieht, wie er mit brutalen Schlägern ebenso umgehen kann wie mit raffinierten Spionen. Hinterhöfe sind genauso sein Metier wie Hochfinanzviertel und Kunstgalerien. Auch wenn es zwischendurch so aussieht, als könnte ihm doch nicht alles gelingen oder er vielleicht doch nicht alles wissen – dieser Eindruck wird regelmäßig und zügigst wieder korrigiert.

Ich verstehe, dass es hierfür ein Publikum gibt und es Freude machen kann, einem solchen Helden zu folgen. Mir jedoch liegt das leider gar nicht, ich finde solche Alleskönner sehr öde. Dies ist der 22. Roman in der Gabriel Allon-Reihe und der erste, den ich gelesen habe. Es wird der einzige bleiben.

Buchdetails:
Daniel Silva: Die Fälschung : ein Gabriel-Allon-Thriller [OT: Portrait of an unknown woman] ; aus dem amerikanischen Englisch von Wulf Bergner ; HarperCollins Hamburg 2023, 447 Seiten ; als Paperback 16 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 15,79 €

Auf dem Nachttisch (9)

Heute räume ich wieder drei Bücher vom Nachttisch. Es fällt mir dieses Mal etwas schwer, da eine inhaltliche Klammer zu finden – daher geht an dieser Stelle ohne eine solche los:

Allie Reynolds: Blutige Bucht

Als Kenna von ihrer Freundin Mikki hört, dass sie heiraten will, ist sie alarmiert. Nicht allein, dass sie den Mann erst seit kurzem kennt – sie klingt einfach auch nicht nach der Freundin, die sie kennt. Also fliegt sie kurzerhand nach Sydney, um sie zu überraschen.

Beruhigend sind ihre Beobachtungen vor Ort nicht, besonders dann, wenn Mikki nicht allein mit ihr ist, wirkt sie verändert. Gemeinsam mit einigen Freunden soll es zum Surfen gehen – zu einer Bucht, die nur sie kennen. Im Laufe der wenigen Tage, die sie dort sind, offenbaren sich Gruppendynamiken und jede Menge rote Flaggen. Und dann sterben Menschen…

Allie Reynolds ist geübte Thriller-Autorin und dieser ist rasant erzählt, mit der geschickt gewählten Perspektive der Gruppenaussenseiterin Kenna (die ja weder zur verschworenen Surfer-Gruppe gehört, noch überhaupt deren Surfleidenschaft teilt) gibt es wenig Gewissheiten. Einen besonderen Reiz macht zudem die unverkennbare Insider-Perspektive der Autorin aus – Allie Reynolds stand mit Sicherheit schon auf Boards und wartete auf die passende Welle. Ich mag es sehr, wenn das Setting so selbstverständlich ist, dass auch der völlig fachfremde Lesende die Faszination nachvollziehen kann. Ich bin mir sicher, Thriller-Freunde werden hier auf ihre Kosten kommen.

Buchdetails:
Allie Reynolds: Blutige Bucht : Thriller [OT: The bay] ; aus dem Englischen von Sybille Uplegger ; HarperCollins Hamburg 2023, 413 Seiten ; ISBN 978-3-365-00287-2 ; als Paperback 17 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 17,95 €

Anne Sauer: Im Leben nebenan

The road not taken: Was, wenn wir im Leben eine andere Abzweigung nehmen würden? Und was wäre der tatsächliche Unterschied?

Toni wacht eines Morgens nicht dort auf, wo sie eingeschlafen ist. Und nicht nur der Ort ist anders, sie ist in einem anderen Leben gelandet. Statt einer Wohnung in der Großstadt mit Jakob ist ihr Lebensort ein Haus auf dem Land mit Ehemann Adam, einer omnipräsenten Schwiegermutter und statt einer Fehlgeburt hat sie nun ein Kind.

Der Gedanke »Was wäre, wenn?« ist zunächst einmal ja ein Grundgedanke von Literatur überhaupt. Was Anne Sauer hier aber macht, nämlich einerseits ihre Protagonistin mit dem Wissen um ihr anderes Leben auszustatten und andererseits immer wieder in das Original?-Leben herüberzublenden, erzeugt eine besondere Spannung. Und illustriert die Kämpfe und Krämpfe, die Zumutungen und Anmutungen verschiedener Lebenswege sehr eindrücklich. Tonis und Antonias Sehnen und Suchen nach ihrem Weg, nach ihrem Leben hat mich nachhaltig beeindruckt. Ich mag die konsequent weibliche Perspektive, die der Roman einnimmt. Eine Perspektive, die sich selbst nicht in den Vordergrund stellt und gerade dadurch eine berührende und dennoch klare Sprache findet und ich werde noch lange über diesen Roman nachdenken.

Buchdetails:
Anne Sauer: Im Leben nebenan : Roman. dtv München 2025, 272 Seiten ; ISBN 978-3-423-28483-7 ; als Hardcover 23 € ; als ebook 16,99 € ; als Hörbuch 15,79 €

Sylvia Kaml: Solar System – Lost

In der Zukunft dieses Romanes ist es der Menschheit gelungen, die Ressourcen des Sonnensystems nutzbar zu machen und so gibt es Kolonien, Raumstationen und Minen überall im Sonnensystem verteilt. Aber es ist nicht alles Friede. Freude, Eierkuchen und beim Solar-Bund unter Führung der Erde wollen nicht alle mitspielen. Auf dem Mars mit der Kolonie Adventiva zum Beispiel hat sich eine rassistische, eugenische Überwachungsdiktatur etabliert. Aus eben dieser und der Übermacht seines sadistischen Vaters möchte Generalssohn Ray fliehen – er desertiert, versteckt sich und baut sich ein Fluchtfahrzeug. Als Teil einer sehr kruden Crew gerät er in die Suche nach einem Artefakt, hinter dem mindestens das halbe Sonnensystem, auf jeden Fall aber einige mächtige Personen her sind.

Sylvia Kaml hat ein klassisches Sci-Fi-Abenteuer geschrieben mit allem, was dazugehört. Skrupellose Wissenschaftler, grausame Militärs, geheime Forschungen, politische Verwerfungen und Außenseiter mit besonderen Fähigkeiten, die sich so zufällig wie schicksalhaft begegnen. Flüssig erzählt, klar strukturiert und natürlich wird mal wieder viel zu wenig auf die kluge Frau gehört… Das hat Spaß gemacht, auch wenn ich nichts gegen vielschichtigere Figurenzeichnung gehabt hätte. So liest sich das gut weg und ich habe nichts gegen ein anständiges Abenteuer zwischendurch. 🙂

Buchdetails:
Sylvia Kaml: Solar System: lost : Hard Science Fiction. dp Verlag Stuttgart 2023, 442 Seiten ; ISBN 978-3-98778-513-9 ; als Paperback 13,99 € ; als ebook 5,99 € ; als Hörbuch 12,79 €

Auf dem Nachttisch (8)

Es ist wieder an der Zeit, ein paar Bücher vom Nachttisch zu räumen. Dieses Mal drei Bücher, bei denen es in unterschiedlicher Weise um unsichere Wahrheiten geht und die Bilder, die wir uns von uns selbst oder von anderen machen.

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Johanna kommt nach Jahrzehnten in ihre Heimat zurück. In eine Heimat, deren Offizielle sie mit einer Retrospektive ehren, in der aber ihre Familie sie ablehnt. Insbesondere ihre Mutter verweigert jeden Kontakt. Nun ist sie selbst keine junge Frau mehr, ihr Mann verstorben, ihr Sohn ausgezogen und sie versucht, die Gräben zu überwinden. Immer wieder versucht sie neue Wege, sich ihrer Mutter zu nähern, den festen Panzer der Ablehnung zu durchbrechen. Doch dieser Panzer besteht aus Wahrheit. Aus der Wahrheit, die ihre Mutter entwickelt hat, ganz eigene Erzählungen, die sich von Johannas eigenen massiv unterscheiden.

Ich habe die Ambivalenz aus dem Wunsch, die Mauern niederzureißen und sich selbst aber weder aufzugeben noch leiden zu wollen, jederzeit klar spüren können. Die schlichte, aber emotional tiefe Sprache hat mich begeistert. Die Redundanz ohne Entwicklung machte das Werk schwer zu ertragen – und das ist wahrscheinlich werkimmanent, aber es fiel mir schwer, bis zum Ende dranzubleiben.

Buchdetails:
Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter : Roman [OT: Er mor død] ; aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023, 398 Seiten, ISBN 978-3-10-397512-3 ; als Hardcover 24 € ; als Taschenbuch 15 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 19,95 €

Zoë Beck: Memoria

Harriet rettet eine Frau vor einem Brand – und anschließend ist nichts mehr wie vorher. Aus ihr nicht verständlichen Gründen tauchen Fragmente in ihren Erinnerungen auf, die nicht zu ihren Erinnerungen passen. Stück für Stück bricht ihre eigene Geschichte auseinander.

Was macht das mit einem Menschen, wenn er sich auf seine eigenen Erinnerungen nicht verlassen kann? Harriet zumindest nimmt das nicht hin und beginnt nachzuforschen. Eine nicht ganz ungefährliche Idee, denn es gibt Gründe…

Zoë Beck, the Queen of Near Future-Thriller, schont auch dieses Mal ihr Publikum nicht, Unzuverlässige Erinnerungen treffen auf undurchsichtige Figuren, technische Möglichkeiten und skrupellose Machenschaften. Die Spannung entsteht dabei nicht allein durch den Plot, eine der erschreckendsten Erkenntnisse beim Lesen ist: Das alles könnte genau so geschehen – und vielleicht geschieht es schon.

Buchdetails
Zoë Beck: Memoria : Thriller ; Suhrkamp Verlag Berlin 2023, 280 Seiten ; ISBN 978-3-518-47292-7 ; als Paperback 16,95 € ; als ebook 14,99 € ; als Hörbuch 20 €

Tom Hillenbrand: Die Erfindung des Lächelns

Leonardo da Vincis Mona Lisa ist von Legenden umrankt, wozu auch die Legende gehört, es sei vor seinem Diebstahl aus dem Louvre 1911 nahezu unbekannt gewesen. Wie das mit Legenden so ist, so ist auch das natürlich ebenso unrichtig wie nicht ganz falsch. Vor 1911 war die Mona Lisa noch nicht das Überbild, der Übermythos, zu dem das Gemälde heute geworden ist.

Es gibt kaum eine prominente Persönlichkeit aus der Zeit, die nicht mit dem Diebstahl in Verbindung gebracht wurde. Tom Hillenbrand webt aus den unzähligen Legenden und Gerüchten ein Panorama der flirrenden, nervösen Zeit am Ende der Belle Epoque. Mich haben die zahlreichen realen Personen etwas gestört, es hatte ein bisschen was von Name-Dropping – für mich war das unnötig und lenkte etwas ab, weil es einen Fokus verschiebt. Der Roman wäre auch ohne dieses Panoptikum gelungen. Aber meine persönlichen Befindlichkeiten sollen nicht schmälern, dass dieser Roman ein dichtes Portrait der Endzeit des langen 19. Jahrhunderts zeichnet und die Stimmung mindestens einiger Gesellschaftsschichten einfängt und nachempfinden lässt.

Buchdetails
Tom Hillenbrand: Die Erfindung des Lächelns : Roman, Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 2023, 503 Seiten, ISBN 978-3-462-00328-4 ; als Hardcover 25 € ; als Taschenbuch 16 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 25 €

Auf dem Nachttisch (7)

Auf geht’s mit einer neuen Runde Kurzrezensionen. Heute geht es insgesamt sehr abenteuerlich zu, mal im historischen London, mal im zeitgenössischen Singapur und einmal rund um die Welt mit einem preußischen Bergbaubeamten.

Mat Osman: Das Vogelmädchen von London

Shay hat eine bemerkenswerte Berufskombination: Sie überbringt Botschaften, ist Falknerin und Wahrsagerin im spätelisabethanischen London. Mit dieser Mischung sind ihre Dienste gleichzeitig begehrt wie sie auch gering geschätzt werden. Reichtum gehört mithin nicht zu ihren Privilegien. Aber es dürfte wohl nur wenige Menschen geben, die mehr von dem mitbekommen, was in der Stadt geschieht. Und sie führt ein Doppelleben in dem Sinne, dass sie Teil einer Gemeinschaft ist, die Vögel als Götter verehrt und die deshalb außerhalb der offiziellen Gesellschaft lebt. Das bringt einige Komplikationen mit sich, die sich nicht verringern, als sie Vögel aus der Gefangenschaft ihrer Auftraggeber frei lässt.

Dieser Roman ist als „historischer Roman“ gelabelt und tatsächlich hatte ich beim Lesen das Gefühl, in einem historischen London unterwegs zu sein. Das heißt, nicht selten auch über dem historischen London, wie bei einer vogelaffinen Heldin nicht weiter überraschend, gehen viele Wege über die mehr oder weniger eng stehenden Häuserdächer – gerade, wenn es untergeschossig mal wieder eng wird mit den Schergen und sonstigen Unsympathen. Und auch wenn hier auf einen mysteriösen Vogelkult abgehoben wird: Die Atmosphäre der religiösen Verfolgungen in Elisabeths England wird hier spürbar und erlebbar.

Ein gut erzählter, spannender Abenteuerroman, der sich an ein junges Publikum richtet. Hat mir sehr gefallen.

Mat Osman: Das Vogelmädchen von London : Historischer Roman [OT: The ghost theatre] ; aus dem Englischen von Ulrike Seeberger, Rütten & Loening Berlin 2023, 493 Seiten, ISBN 978-3-352-00993-8 ; als Hardcover 22 € ; als ebook 16,99 € ; als Hörbuch 16,99 €

Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur

Dieses Buch wirkt wie eine Alexander von Humboldt-Biographie, wurde auch so vermarktet. Tatsächlich ist sie das aber nicht – auch wenn sich hier sehr viel über Humboldts Leben erfahren lässt. Vielmehr hat Andrea Wulf eine Geistesgeschichte Alexander von Humboldts geschrieben. Es gibt nicht viele Menschen, bei denen sich das überhaupt machen ließe. Humboldts Wirken aber ist so umfangreich, so weitreichend, dass er tatsächlich eine eigene Kategorie darstellt.

Wulf entwickelt entlang wichtiger Stationen von Humboldts Leben dessen Weltsicht, die sich aus seiner ungezügelten Neugier, seiner Begeisterung und seiner Offenheit speist. Seinen ganzheitlicher Ansatz, der sich auf besondere Weise mit einer sehr genauen Beobachtung und Messungen verbindet und der in seinem Kosmos-Werk kulminiert, stellt Andrea Wulf besonders heraus. Und immer wieder in den Zusammenhang mit Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern. Dabei entsteht ein unglaublich lebendiges Bild, entstehen Zwiegespräche, die ganz tief in die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts eintauchen lassen. Ich war ja schon länger von Alexander von Humboldt fasziniert – Andrea Wulf hat mich für ihn begeistert.

Buchdetails:
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur [OT: The invention of nature] ; aus dem Englischen übertragen von Hainer Kober, C. Bertelsmann München 2016, 555 Seiten, ISBN 978-3-570-10206-0 ; als Hardcover 28 € ; als Taschenbuch 16 € ; als ebook 14,99 € ; als Hörbuch 14,99 €

Silke Tobeler: Majulah! Gestrandet in Singapur

Franzi und Finn sind frisch an einer hochangesehenen Hamburger Journalistenschmiede abgelehnt worden und machen sich nach Australien auf. Sie kommen aber nur bis Singapur. Was zum einen an ihrem verwegenen Plan liegt, zunächst nur bis Singapur zu buchen und dann von dort aus günstige Anschlussflüge nach Australien zu finden. Zum anderem aber auch daran, dass sich ihre kurze Bekanntschaft als nicht sehr tragfähig erweist – schon gar nicht, um gemeinsam ans andere Ende der Welt zu flieg(h)en.

Während Finn im Gefängnis landet, weil er unvorsichtig genug ist, sich beim Kiffen erwischen zu lassen, gelangt Franzi in die Obhut eines Pfarrers, der sie in einem Kloster unterbringt. Abgeschieden von den Zumutungen der Welt lernt sie dort eine Sara Smit kennen, deren Ausstrahlung sie fasziniert und mit der sie einen wilden Road-Trip nach Malaysia und in die Vergangenheit unternimmt.

Ausgehend von der historischen Geschichte Maria Hertoghs erzählt Silke Tobeler eine Selbstfindungsgeschichte, die mich überhaupt nicht überzeugt. Ihre Figuren befinden sich in existentiellen Krisen oder kämpfen mit jahrzehntealten Traumata und entwickeln sich im Laufe der Geschichte überhaupt nicht weiter, bis sich alles in Wohlgefallen auflöst. Ihre Sara Smit weiß alles und kann alles, Franzis Offenheit ist pure Naivität und überhaupt sind die Figuren des Romans klischeehaft, statische Holzschnitte. Was sehr schade ist, denn die Grundidee ist durchaus reizvoll.

Buchdetails:
Silke Tobeler: Majulah! – Gestrandet in Singapur [auch u.d.T. Malayas Echo – das Geheimnis der Sara Smit], Nova MD Vahlendorf, 978-3-98595-010-2, 236 Seiten ; als Softcover 10,95 € ; als ebook 4,99 € ; als Hörbuch 4,29 €

Auf dem Nachttisch (6)

Ein neuer Schwung Kurzrezensionen. Dieses Mal mit dem BND, einer Afghanistanreise, ermittelnden Rentern und einer Migrantenmutti.

Wolf Harlander: Systemfehler

Nach zunächst vereinzelten Ausfällen an neuralgischen Punkten bei kritischer Infrastruktur wie Kliniken, Flughäfen oder U-Bahnen, sind die europäischen Geheimdienste alarmiert. Anfangs allerdings zeigt man sich insbesondere beim BND nicht bereit, das Undenkbare zu denken: Könnte es einen Feind geben, der in der Lage ist, nach Belieben in die vernetzte Infrastruktur einzudringen und Krankenhäuser, Energieversorger, Verkehr – einfach alles und jeden lahmzulegen? Die Realität beendet dann zügig alles Leugnen, denn genau das geschieht. Wolf Harlander erzählt die Geschichte dieses Blackouts routiniert: Es gibt beim BND den Außenseiter, dem nicht geglaubt wird und natürlich wird zunächst ein Unschuldiger gejagt. Geschickt verknüpft er die Schilderung der mannigfaltigen Auswirkungen des Zusammenbruchs mit den verschiedenen Familienmitgliedern des Protagonisten. Durch ihre sehr unterschiedlichen Perspektiven und Lebensumstände gelingt dabei ein umfassender Rundumblick. IT-Fans werden sicherlich einige Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten ausmachen können, aber Harlander zeichnet auf jeden Fall ein überzeugendes Bild davon, wie abhängig unsere moderne Welt von funktionierender Technik ist – und wie angreifbar sie ist, weil eben alles mit allem verbunden ist. Der Spannungsplot ist typisch für das Genre, ich fand die Auflösung etwas plump und wenig überraschend. Dass Harlander aber einen überzeugenden Blick auf die Berührungspunkte von Islamismus und Rechtsextremismus wirft und dabei darstellt, wie schnell beide zusammenarbeiten können, um das gemeinsam verhasste „System“ zu destabilisieren, ist jedoch ein echter Gewinn dieses Romans.

Buchdetails:
Wolf Harlander: Systemfehler : Thriller. Rowohlt Polaris Hamburg 2021, 493 Seiten, ISBN 978-3-499-00661-6 ; als Paperback 16 € ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 19,95 €

Roger Willemsen: Afghanische Reise

2006 reist Roger Willemsen nach Afghanistan, in Begleitung einer afghanischen Freundin, um das Land kennenzulernen, das gerade eine 25jährige Kriegsgeschichte hinter sich hatte. Ein Land im Aufbruch, ein Land voller Hoffnung.

Willemsen zeigt sich als offener, interessierter Beobachter, der seinen Gesprächspartner:innen Raum gibt. Es ist berührend, wie in diesem geplagten Land Hoffnung aufkeimt, wie Menschen, die teils seit Jahrzehnten offen oder versteckt Freiräume suchen und geschaffen haben, jetzt endlich frei atmen und voller Tatendrang sind, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Und es schmerzt ungemein, davon nun zwanzig Jahre später zu lesen, da all dies wieder verloren ist.

Buchdetails:
Roger Willemsen: Afghanische Reise. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2007, 221 Seiten, ISBN 978-3-596-17339-6 ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 9,99 €

Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel

Die Rentner-Gang des Donnerstagsmordclubs widmet sich dieses Mal einem zehn Jahre alten Fall. Die Journalistin Bethany Waites hatte in einem Steuerbetrugsfall recherchiert und wurde ermordet. Dieses Mal geraten sie allerdings auch ernsthaft in Gefahr, insbesondere als MasterMind Elisabeth entführt wird. Richard Osman ist ein routinierter Autor, der genau weiß, wie man Geschichten aufbaut und der ein Händchen für skurrile Charaktere hat. Mit Band drei lässt die Serie aber doch etwas nach – denn das Konzept lebt natürlich von der Originalität. Hier aber wirkt nun doch einiges schon etwas eingefahren. Aber das ist schon Jammern auf einem erheblichen Niveau, auch der dritte Fall ist souverän geschrieben und ein großer Spaß.

Buchdetails:
Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel : Kriminalroman [OT: The bullett that missed] ; aus dem Englischen von Sabine Roth, 430 Seiten, List Verlag Berlin 2023, 978-3-471-36052-1 ; als Paperback 17,99 € ; als Taschenbuch 12,99 € ; als ebook 10,99 € ; als Hörbuch 18 €

Elina Penner: Migrantenmutti

Soziale Codes sind ganz häufig Distinktions- und Exklusionswerkzeuge. Häufig bewusst eingesetzt, sehr oft aber auch unbewusst. Elina Penner öffnet dazu mit klarem Blick, schnoddrigem Ton, kluger Reflexion und warmem Herzen viele Perspektiven.
An ganz alltäglichen Situationen – vom Mittagessen mit Gastkindern über Besucherstraßenschuhe bis zu Cousin-reichen Familienfeiern – zeigt sie die manchmal unsichtbaren Grenzen auf, die zu Missverständnissen, Ausgrenzung und Abwertung führen können.

Ihr unbestreitbares satirisches Talent macht aus dieser Essaysammlung eine Lektüre, die mir viel Freude gemacht hat, bei der ich sehr viel gelacht habe und über die ich immer wieder nachdenke.

Buchdetails:
Elina Penner: Migrantenmutti. Aufbau-Verlag Berlin 2023, 207 Seiten, ISBN 978-3-351-04208-0 ; als Paperback 18 € ; als ebook 13,99 € ; als Hörbuch 14,99 €

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Auf dem Nachttisch (5)

In der fünften Ausgabe der Nachttischrezensionen geht es dieses Mal recht heftig zu. Ohne Machtmissbrauch oder Gewalt kommt dieses Mal kein Buch aus…

Anna Benning: Was die Magie verlangt

Genre-Literatur wird gerne mal naserümpfend betrachtet. Und spätestens seit es Buchblogs gibt, tobt darum ein immer wieder aufflammender Diskurs. Leider dreht dieser sich seit zwanzig Jahren im Kreis, weil es den Diskursteilnehmenden nicht gelingt, ihre Begriffe und Kategorien zu klären. Ich möchte mich daran nicht beteiligen, wie gehabt steht dieser Blog unter dem Moers’schen Diktum Lest Straßenschilder und Speisekarten, lest die Anschläge im Bürgermeisteramt, lest von mir aus Schundliteratur – aber lest! Lest! Sonst seid ihr verloren!

Beim Auftakt der Dark-Sigils-Trilogie handelt es sich um Urban Fantasy, noch dazu welche, die sich an Menschen mit einer kurzen Lesebiographie richtet. Wir begleiten die junge Heldin Rayne, die in den Armenvierteln Londons lebt und dort versucht über die Runden zu kommen, bei der Entdeckung ihrer mächtigen Fähigkeiten, die sie beherrschen lernen muss und die sie gleichzeitig weit aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen führen. Magie beruht in diesem Universum auf einer dunklen Flüssigkeit, die in Artefakten – Sigils – eingeschlossen ist.

Das gelingt ihr nicht ohne Unterstützung, insbesondere durch Protagonist:innen, die im Umgang mit der Magie geübter sind und mehr über deren Regeln und Wirkungen wissen.

Und bei aller Auserwähltheit, die offenkundig ist und Lesende daher fest an Raynes Überleben und Erfolg glauben lässt, erlaubt Anna Benning ihrer Heldin Fehler, Scheitern und Lernen. Das macht mir den spannend, flüssig und gut geschriebenen Roman sehr sympathisch. Diese Heldin habe ich gerne begleitet.

Buchdetails:
Anna Benning: Was die Magie verlangt [=Dark Sigils Band 1], Fischer KJB Frankfurt am Main, 2022, 482 Seiten, 978-3-7373-6200-9 ; als Hardcover 19 € ; als ebook 14,99 € ; als Taschenbuch (ET August 2025) 11,90 € ; als Hörbuch 24,95 €

Stephen Fry: Troja

Die Neuerzählung antiker Mythen ist ein literarischer Dauerbrenner. Jede Zeit scheint ihren ganz eigenen Zugriff darauf zu suchen und bietet in der Auseinandersetzung mit den inzwischen jahrtausendealten Stoffen spannende Einblicke in ihren jeweiligen Zeitgeist.

Ob Stephen Fry nun als prototypischer Vertreter des Zeitgeistes betrachtet werden kann (wie es etwa Gustav Schwab zweifellos war), daran habe ich doch einige Zweifel. Aber ohne Zweifel repräsentiert er einen zeitgenössischen Blick.

In einer reizvollen Nacherzählung des komplexen Ilias-Stoffes brilliert Fry durch Humor und Lockerheit, ohne dabei albern oder flapsig zu werden. Damit gelingt es ihm meiner Meinung nach sehr gut, eine klassische Perspektive ins Hier und Heute zu transponieren. Dabei entseht ein kurzweiliges Werk, das sich ausgezeichnet lesen und dabei den schieren Umfang glatt vergessen lässt. Eine Neuerzählung oder gar Neudeutung des Mythos ist das nicht. Muss es ja aber auch gar nicht sein.

Buchdetails:
Stephen Fry: Troja : von Göttern und Menschen, Liebe und Hass [OT: Troy] ; aus dem Englischen von Matthias Frings, Aufbau-Verlag Berlin 2022, 375 Seiten, ISBN 978-3-351-03927-1 ; als Hardcover 26 € ; als ebook 16,99 € ; als Taschenbuch 16 € (ET November 2025) ; als Hörbuch 24 €

Anika Landsteiner: Nachts erzähle ich Dir alles

Léa muss aus ihrem Leben heraus – und ist in der glücklichen Lage, das leer stehende Familienanwesen an der Côte d’Azur benutzen zu können. Wie häufig bei solchen Fluchten so ist auch diese der Auftakt einer Katharsis. Zunächst aber begegnet ihr eine junge Frau, die das Gelände und Haus gerne als Rückzugsort nutzt, als einen safe space vor all den Zumutungen, mit denen heranwachsende junge Frauen konfrontiert werden.

Sie sprechen lange miteinander, direkt und herausfordernd die eine, sich plötzlich sehr erwachsen fühlend die andere. Am nächsten Tag ist die junge Besucherin tot und zusammen mit ihrem verzweifelten Bruder beginnt Léa nachzuforschen, was geschehen ist.

Dabei wird ihr allmählich klar, dass Haus, Anwesen und Ort durchaus nicht der idyllische Rückzugsort ihrer Erinnerung ist. Was nach einem durchaus kitschigen Plot klingt, ist in Wirklichkeit die Geschichte einer Ermächtigung. Einer Selbstermächtigung, die die Komplexität von Gegenwart, Vergangenheit und den vielfältigen Beziehungen sich nahe stehender Menschen akzeptiert und kennt, sich darin aber eben nicht verliert, sondern zur Selbstbestimmung führt. Ein Roman, zurückhaltend in Sprache und Form – aber wuchtig in seiner Wirkung.

Buchdetails:
Anika Landsteiner: Nachts erzähle ich dir alles : Roman, Fischer KRÜGER Frankfurt am Main 2023, 366 Seiten, ISBN 978-3-8105-3087-5 ; als Hardcover 24 € ; als ebook 12,99 € ; als Taschenbuch 14 € ; als Hörbuch 19,49 €

Anne Holt: Ein notwendiger Tod

Selma Falck wacht in einer brennenden Hütte irgendwo im Schnee auf irgendeinem Berg auf. Es gelingt ihr, sich geradeso noch zu retten, ehe das Gebäude bis auf die Grundmauern abbrennt.

Ganz offenkundig sollte sie sterben – jemand anderes ist aber auch gestorben. Während sie sich durch Kälte, Schnee und Wildnis und um ihr Leben kämpft, gewinnt sie allmählich ihre Erinnerungen zurück.

Aus den Rückblicken wird allmählich klar, dass hier ein Komplott geschmiedet wurde. Eines von nationaler Bedeutung, mit tief in die Politik und Geschichte verstrickten Protagonisten. Und damit ist zusätzlich klar: Sie befindet sich in einem Wettlauf mit der Zeit.

Anne Holt ist eine erfahrene Krimischriftstellerin, gerade in Sachen Politkrimi. Und so ist denn auch dieser Roman – der zweite in ihrer Selma Falck-Reihe – sauber gearbeitet und handwerklich ohne Fehl und Tadel. Ich persönlich bin aber nicht so der ganz große Freund von „Eine gegen die Welt“-Settings. Das ist aber eine Geschmackssache.

Buchdetails:
Anne Holt: Ein notwendiger Tod : Selma Falcks zweiter Fall : Kriminalroman [OT: Furet/værbitt] ; übersetzt von Gabriele Haefs, Atrium Verlag Zürich 2022, 476 Seiten, 978-3-85535-124-4 ; als Hardcover 22 € ; als ebook 11,99 € ; als Taschenbuch 13 € ; als Hörbuch 21,99 €

Auf dem Nachttisch (4)

Es gibt weiterhin noch einiges an Lektüre aufzuarbeiten. Heute habe ich im Angebot: Liebe, Mord und Historie – den gängigen Branchen-Narrativen nach sollte diese Zusammenstellung Riesen-Erfolg garantieren. Nun, wir werden sehen…

Coverabbildung des Buches Es ging immer nur um Liebe von Musa Okwonga

Musa Okwonga:
Es ging immer nur um Liebe

Wie ist es, als PoC nach Berlin zu ziehen? Wo ein Zimmer finden, wie sich zurechtfinden, wie zugewandte Menschen finden?

Ich weiß es nicht und ich werde es wahrscheinlich auch nie wissen. Zumindest nicht in dem Maße, wie ich viele andere Zu- und Umstände weiß und wissen kann. Musa Okwonga erzählt davon, eher in Episoden als in einer geradlinig verlaufenen Geschichte – aber hey, ist das Leben nicht auch genau so? Und so erzählt er vom Fußballspielen, von Café-Besuchen, von Freund:innen, von Liebe und Verlust, Vergangenheit und der Suche nach einer Zukunft. Seine zarte Sprache erzeugt dabei ein Gefühl von Zerbrechlichkeit und hat mich sehr berührt. Okwonga erzählt so schwerelos von Schwere, das ist ein echtes Erlebnis.

Buchdetails:
Musa Okwonga: Es ging immer nur um Liebe : Roman [OT In the end, it was all about love]; aus dem Englischen von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, mairisch Verlag Hamburg 2022, 148 Seiten, ISBN 978-3-948722-19-7 ; als Hardcover 20 €, als Taschenbuch (ET 1.8.25) 14 €, als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 9,99 €
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Amy McCulloch:
Der Aufstieg

Es ist die Chance ihrer jungen Karriere: Reisejournalistin Cecily bekommt die Möglichkeit, exklusiv und als Erste den Bergsteiger Charles McVeigh zu interviewen. Diesem ist es gelungen, innerhalb eines Jahres bereits 13 Achttausender zu besteigen. Nun macht er sich auf den Weg, auch noch den vierzehnten – den Manaslu – innerhalb dieser Frist zu erklimmen und sich so einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern.

Allerdings darf sie dieses Interview erst nach erfolgreichem Abschluss dieser Mission führen und außerdem soll sie ihn dabei begleiten. Cecily ist keine ungeübte Bergsteigerin, aber der Snowdon ist doch ein etwas anderes Kaliber als ein nepalesischer Achttausender. Und außerdem ist das Thema Bergsteigen für sie nicht ganz unbelastet.

Aber natürlich muss sie diese Chance ergreifen und zusammen mit einer illustren Gruppe beginnt der Aufstieg.

Dieser Roman wäre kein Thriller, wenn alles glatt ginge. Geht es auch nicht, ganz im Gegenteil entgleist die Kampagne zusehends und die Anzahl der Lebenden sinkt kontinuierlich. Amy McCulloch ist eine geübte Autorin und sie hat hier einen spannungsreichen, atmosphärischen Thriller geschrieben, der sowohl von ihrem gekonnt gebauten Plot profitiert als auch das Setting perfekt einfängt. Die ganz besonderen Bedingungen im Höchstgebirge (darf man das so schreiben?), mit der Kälte, dem Schnee, den unvorhersehbaren Abgründen, der dünnen Luft und den äußerst problematischen Sichtbedingungen (insbesondere, wenn man gejagt wird) macht sie erlebbar, geradezu spürbar. Ich war jedenfalls gefangen und habe diesen Thriller geradezu atemlos gelesen.

Buchdetails:
Amy McCulloch: Der Aufstieg : in eisiger Höhe wartet der Tod : Thriller [OT: Breathless] ; aus dem Englischen von Leena Flegler, Piper Verlag München 2022, 494 Seiten, 978-3-492-06343-2 ; als Paperback 17 € ; als ebook 12,99 € ; als Taschenbuch 13 € (ET 1.10.25) ; als Hörbuch 17 €
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Natasha Pulley:
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

1898 wird Joe Tournier am Bahnhof Gare du Roi in Londres aufgefunden – er hat keinerlei Erinnerungen und wird folgerichtig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die kann er zwar wieder verlassen, aber dass er daraufhin eine Postkarte erhält, die 90 Jahre alt ist, ihn – den „liebsten Joe“ aber auffordert, nach Hause zu kommen, ist nicht geeignet, seine Irritation gegenüber dieser Welt zu verringern.

Warum in London französisch gesprochen wird, was diese Postkarte soll und warum da ein Leuchtturm drauf ist – das sind nur einige der Indizien, die darauf hindeuten, dass diese Welt nicht in dem Jahr 1898 liegt, das wir kennen.

Natasha Pulley erzählt auf mehreren Ebenen von Verschiebungen im Raum-Zeit-Gefüge und den den Auswirkungen, die es hat, wenn die Machtoptionen erkannt werden, die sich aus der Kontrolle darüber ergeben (Trekkies wird der Gedanke nicht fremd sein). Der Roman ist detailreich ausgearbeitet und geübte Phantastik-Lesende werden eventuell von den Auflösungen der Geheimnisse nicht übermäßig überrascht sein. Wie ihr ganz generell die Konventionen des Genres nicht fremd sind. Mir scheint es aber äußerst unfair, einem phantastischen Roman vorzuwerfen, dass er ein phantastischer Roman ist. 😊Ich bin ihr daher sehr gerne gefolgt und fühlte mich sehr gut unterhalten. Besonders empfehlen möchte ich den Roman aber Menschen, die eine noch junge Lesebiographie haben – ich bin mir sicher, sie werden hier etliche Anknüpfungspunkte finden, über die nachzudenken sich lohnt.

Buchdetails:
Natasha Pulley: Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit : Roman [OT: The Kingdoms] ; aus dem Englischen von Jochen Schwarzer, Klett-Cotta Stuttgart, 536 Seiten, 978-3-608-98636-5 ; als Hardcover 25 € ; als ebook 10,99 € ; als Taschenbuch 14 € ; als Hörbuch 17,49 €
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Karen Duve: Sisi

Ist es überhaupt noch möglich, über Kaiserin Elisabeth von Österreich zu schreiben? Sie gehört zu den Menschen, deren Mythos derart übergroß geworden ist, dass ihr alles Menschliche fremd geworden zu sein scheint.

Es hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder Versuche gegeben, diesen Mythos zu dekonstruieren und die Frau, die doch ein Mensch war, wieder hervortreten zu lassen. Bisher aber hat sich Sissi noch immer gegen Sisi durchgesetzt.

Karen Duve nähert sich in ihrem Roman der Figur auf ungewohnte Weise. Anstatt das Panorama ihres ganzen Lebens auszubreiten, beschränkt sie die Handlung auf eine kurze Zeitspanne in Elisabeths Leben und die handelnden Figuren auf dementsprechend wenige. Sie zeichnet eine Frau, die sich ihrer Privilegien nicht nur bewusst ist, sondern sie auch einzusetzen weiß. Und das keineswegs vorrangig altruistisch. Mir gefällt diese Figur sehr – nicht, weil ich sie überaus sympathisch fände und nicht einmal deshalb, weil sie sehr heftig an Mythos und Legende rüttelt, sondern weil sie einen Menschen in seiner Zeit und seinem Stand zeigt. Eine Frau, die durchaus Teil eines um sich selbst kreisenden Milieus ist und sich in diesem bewegt, Handlungsräume nutzt und Sympathien und Antipathien pflegt. Dass Karen Duve den Zeitrahmen eher kurz setzt, ermöglicht ihr, Schwerpunkt auf facettenreiche und tiefgehende Charakterporträts zu legen und ein Panoptikum zu schaffen, das nicht gerade von Identifikationsfiguren bevölkert ist. Dafür aber von Menschen, die zumindest ich sehr lebhaft vor Augen hatte.

Buchdetails:
Karen Duve: Sisi : Roman, Verlag Galiani Berlin, Köln 2022, 408 Seiten, ISBN 978-3-86971-210-9 ; als Hardcover 26 € ; als ebook 10,99 € ; als Taschenbuch 14 € ; als Hörbuch 10 €
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Auf dem Nachttisch (3)

Der NGB (Nachttisch gelesener Bücher) ist reichlich vollgeräumt, es wird Zeit, den wieder etwas freizuräumen. Mithin, let’s go!

Cover des Buches "Fischers Frau" von Karin Kalisa

Kuratorin Maria Sund stößt auf ein bemerkenswertes Exemplar eines alten Fischerteppichs. Einst als Ersatzbeschäftigung für arbeitslose Fischer und ihre Familien entwickelt, haben sich solche Teppiche zu einem eigenen Genre der Teppichkunst entwickelt. Dass diese Tradition zudem in der Gegenwart so gut wie verschwunden ist, macht sie selbstredend auch zu attraktiven Kunsthandelsgegenständen. Nebst der dann unweigerlich auftretenden Fälscherbegleitmusik. Als Kuratorin muss Mia Sund ergründen, woher das Exponat stammt – und natürlich, ob es echt ist. Dies ist der Ausgangspunkt für eine Reise, die sie verändern wird. Ein Teppich als Metapher für Geschichten, noch dazu miteinander verknüpfte, ist aus guten Gründen beliebt. Erzählen uns Teppiche doch seit Jahrhunderten bereits Geschichten – in ihren Motiven ebenso wie in ihrer Provenienz. Karin Kalisa erzählt in zwei aufeinanderzulaufenden Geschichten eindrücklich die Lebensgeschichten zweier Frauen, die in ihrer jeweiligen Zeit ihren Platz im Leben suchen und finden.

Das ist gut erzählt, ich habe das sehr gerne gelesen – und eine ganze Menge über Fischerteppiche gelernt. Als Wochenend- oder Urlaubslektüre unbedingt zu empfehlen. 🙂

Buchdetails:
Karin Kalisa: Fischers Frau : Roman. Droemer München 2022, 255 Seiten. ISBN 978-3-426-28209-0, 22 € ; als Taschenbuch 12,99 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 20,95 €
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Diaz erzählt vom Leben eines Börsenspekulanten, der zu erheblichem Reichtum gelangt. Dies gelingt – wenig überraschend – nicht durch moralisch einwandfreies Verhalten. Ein Topos, das in der US-amerikanischen Literatur nicht gerade unterrepräsentiert ist. Diaz hält sich allerdings mit Holzhammern und ausgiebigen Erörterungen zurück. Das ist sehr wohltuend. Stattdessen setzt er auf die Kraft der erzählten Geschichte, die er aus vier sehr verschiedenen Perspektiven erzählt und geschickt miteinander verknüpft. Jede dieser vier Perspektiven ist auf ihre Weise „wahr“ und natürlich eignet sich kaum etwas mehr dazu, aufzuzeigen, wie unsere Handlungen von unseren Perspektiven und unseren Annahmen geleitet werden, wie die Börsenwelt. Ich mag an diesem Roman neben seiner wirklich überaus gelungenen Struktur (ich rate davon ab, diesen Roman in zu kleinen Häppchen zu lesen, es könnte schwierig werden, die Fäden wiederzufinden) vor allem das Vertrauen in sein Publikum. Diaz erzählt, er urteilt nicht. Was nicht heißt, dass sich hier keine Position herauslesen lässt – aber sie will eben herausgelesen werden, sie wird nicht postuliert.

Buchdetails:
Hernan Diaz: Treue : Roman [OT: Trust] ; aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin München 2022, 411 Seiten, ISBN 978-3-446-27375-7, 27 € ; als Taschenbuch 15 € ; als ebook 19,99 € ; als Hörbuch 25,95 €
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Maike stirbt bei einem Zusammenstoß mit einem Stier – und Henri steht urplötzlich vor der Aufgabe, über die Zukunft ihres Handarbeitsladens „Nähschiff & Nadelflotte“ nebst zugehörigem Häkelclub zu entscheiden. Natürlich wird er von seinen Verkaufsplänen abkommen und auch an der Unglücksursache von Maikes Tod regen sich bald Zweifel.

Zu diesem Buch habe ich gegriffen, weil ich die Ausgangssituation ganz putzig fand und mir dachte, daraus könnte doch etwas entstehen. Aber leider hat mich die Umsetzung nicht überzeugt. Ich habe durchaus eine Schwäche für Cosy Crime – manchmal tut so ein bisschen Eskapismus nicht nur Not, sondern auch gut. Hier aber sind mir – bei allem Zugeständnis an die genreinhärenten Konventionen – die Figuren zu hölzern, die Geschichte zu schleppend geraten. Schade.

Buchdetails:
Karla Leterman: Mörderische Masche : ein Fall für Henri und den Häkelclub. Deutscher Taschenbuch Verlag München 2022, 285 Seiten, 978-3-423-22039-2, 10,95 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 20,95 €
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Die Geschichte klingt kompliziert: Reese und Amy sind ein glückliches Paar in New York, als sich Amy zu einer Detransition entscheidet. Wieder Ames, wird drei Jahre später seine Chefin Katrina von ihm schwanger. Und Ames hat die Idee, das Kind zu dritt aufzuziehen.

Das klingt nicht nur kompliziert, es klingt auch konstruiert und ich hatte die leise Befürchtung, hier könnte es vor allem um Botschaft gehen. Aber: Nicole Seifert hat den Roman übersetzt – und das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Lektüre lohnend ist. So ist es auch, das im Vorfeld irgendwie gewollt, geradezu künstlich klingende Szenario, ist es überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, eine „natürlichere“, klarere Geschichte habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Gut möglich, dass ich hier im Vorfeld Opfer meines Bias und meiner Berührungsängste wurde. Amy/Ames Geschichte wird mit einem bitteren Humor und ungeschminkt erzählt, entwickelt dabei einen starken Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Mir eröffneten sich dabei Lebensrealitäten, die mir aus eigener Anschauung völlig fremd sind. Und hey, darum geht es doch bei Literatur schließlich, oder?

Ein wunderbares, warmherziges Buch aus einer Welt voller Zweifel, Ansprüche, Hoffnungen und Sehnsüchte. Dem Leben halt.

Buchdetails:
Torrey Peters: Detransition, Baby : Roman [OT Detransition, Baby] ; aus dem Englischen von Nicole Seifert und Frank Sievers. Ullstein Berlin 2022, 460 Seiten, ISBN 978-3-550-20204-9, 24 € ; als Taschenbuch 13,99 € ; als ebook 10,99 € ; als Hörbuch 24,95 €
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Auf dem Nachttisch (2)

Keine lange Vorrede heute, es geht ohne Umschweife einfach los mit der zweiten Ausgabe der Kurzrezensionen.

Petra Johann: Der Steg

Es gibt das Bonmot, ein Mord sei überhaupt nicht schwer – schwierig sei, die Leiche loszuwerden. Auch für Priska beginnen die Schwierigkeiten mit einem Toten, der zur Unzeit in der Nähe ihres Grundstücks ins Wasser fällt. Was genau geschah und welche Ereignisse zu dieser Situation geführt haben, wird erst im Laufe der Handlung klar. Eine Handlung, im Laufe derer Priska nicht nur darum kämpft, dass ihr der Tod nicht zugerechnet wird, sondern vor allem um das Leben, das sie sich aufgebaut hat.

Wie lange wird es Priska gelingen, ihr zerstörerisches Geheimnis zu wahren? Und welchen Preis wird sie dafür zahlen müssen, welche Schritte muss sie noch gehen, um die Fassade zu wahren? Das sind die Leitfragen dieses Thrillers, im Laufe dessen wir die taffe, strukturierte und erfolgsverwöhnte Priska mental entgleisen und letztlich im Wahnsinn landen sehen.

Petra Johann macht das gekonnt, aber es bleibt doch nicht ohne Längen und gerade zu Ende hin wirken die Versuche, das dem Leser doch längst offenbare Geheimnis weiter zu behüten, etwas verkrampft. Denn gerade die Konstruktion mit verschiedenen, aber aufeinander aufbauenden Erzählperspektiven, die den Thriller reizvoll machen, leidet letztlich darunter.

Buchdetails:
Petra Johann: Der Steg : Thriller. Rütten & Loening Berlin 2024, 399 Seiten, ISBN 978-3-352-01010-1, 18 € ; als ebook 13,99 € ; als Hörbuch 18 €
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Fran Lebowitz, New York und der Rest der Welt

Diese Texte von Fran Lebowitz haben viel zu lange gebraucht, um hierzulande entdeckt zu werden. Wie lange hätten wir uns schon an ihrer Scharfzüngigkeit, ihrem klaren Stil und ihrem geistreichen Witz erfreuen können! Aber besser spät als nie.

Und immerhin lässt sich nun gleich die Probe aufs Exempel machen, ob ihre Texte den Zahn der Zeit unbeschadet überstehen. Zumindest für die in dieser Auswahl versammelten lässt sich sagen: Unzweifelhaft überstehen sie das.

Mit ihrer entschiedenen Ablehnung alles Unentschiedenem, das ja doch immer das Merkmal des Mittelmaßes ist, mag nicht jedes ihrer Urteile die Zustimmung des Lesers finden (meine zum Beispiel auch nicht). Aber jeder ihrer Sätze ist pointiert, silsicher und zeigt eine überragende sprachliche Eleganz. Der Hausheilige dieses Blogs hätte seine helle Freude an ihr gehabt.

Buchdetails:
Fran Lebowitz: New York und der Rest der Welt [OT: The Fran Lebowitz Reader] ; aus dem Englischen von von Sabine Hedinger und Willi Winkler, Rowohlt Berlin Berlin 2022, 349 Seiten, ISBN 978-3-7371-0143-1 ; 22 € ; als Taschenbuch 14 € ; als ebook 9,99 €
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Simon Stephenson: Kurioses über euch Menschen

Simon Stephenson ist Drehbuchautor bei Simon Stephenson ist Drehbuchautor bei Pixar – und dieser Roman könnte problemlos ein Pixar-Film sein. Ein Roboter, der Gefühle entdeckt (indem er alte Filme schaut – Hollywood, was willst Du mehr???) und sich auf den Weg macht, die Menschheit davon zu überzeugen, dass Roboter fühlende Wesen sind und nicht nur Maschinen für niedere Arbeiten.

Das ist nicht leicht in einer Welt, in der Gefühle bei Robotern als Fehlfunktion betrachtet und diese daher entsprechend aussortiert werden. Mit seinem wunderbar naiven und dennoch gewitztem Protagonisten hat Stephenson einen Sympathieträger geschaffen, dem man gerne durch diese bittersüße Handlung folgt, die uns nach nicht weniger als dem Menschsein als solchem fragt.

Doch so tiefschürfend möchte ich den Roman gar nicht gelesen haben, das würde seinem feinen Humor nicht gerecht werden. Ich habe Jared jedenfalls sehr ins Herz geschlossen und habe ihn gerne auf seinen Abenteuern begleitet. Ich muss jedes Mal an ihn und diesen Pixar-Film von einem Roman denken, wenn ich auf Instagram Gretchen Withmer über „Michiganders“ reden höre. 😉

Thomas Radetzki, Matthias Eckoldt: Inspiration Biene

Ich bin Großstadtkind und zwar genau so wie das Klischee es will: Im Wesentlich beschränken sich meine Naturkenntnisse auf: Baum, Blume, Vogel, Tier. Genaueres wird schon schwieriger. Insofern bin ich durchaus mit großen Erwartungen an dieses Buch herangegangen, denn auch die großstädtische Vorstellung vom Bienenleben ist ja durchaus – nun ja, sagen wir romantisiert.

Und tatsächlich lässt sich hier etliches darüber erfahren, wie die Honigbiene lebt. Allerdings beschlich mich zunehmend Unbehagen und gerade im letzten Teil geradezu Widerwillen. Denn eigentlich ist dies kein Buch über die Honigbiene und wie sie von Menschen kultiviert wird, sondern darüber wie toll die Aurelia-Stiftung ist und wie sehr wir gesellschaftlich von ihr und ihren Aktivitäten profitieren können.

Das steht natürlich nicht so platt im Buch, aber es gibt hier nur eine einzige Perspektive, die die Autoren einnehmen. Und das vergällt die Lektüre dann doch sehr und das ist schade drum. Letztlich ist das ein Beispiel dafür, wie ein Sachbuch nicht sein sollte.

Buchdetails:
Thomas Radetzki, Matthias Eckoldt: Inspiration Biene. Klett MINT Stuttgart 2020. 163 Seiten, ISBN 978-3-942406-39-0 ; 32 € ; als Hörbuch 20 €
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Andreas Suchanek: Interspace One

Für interstellare und erst recht für intergalaktische Reisen steht man vor verschiedenen erheblichen Problemen. Ein schwerwiegendes davon ist: Irgendwie müssen die irrsinnigen Distanzen überwunden werden. Die Science-Fiction-Literatur hat dafür schon verschiedene Lösungen vorgeschlagen, die entweder darauf zielen, durch phänomenale Reisegeschwindigkeiten die Reisezeit zu verkürzen (Warp-Antrieb, unendlicher Unwahrscheinlichkeitsdrive etc.) oder die Reisenden selbst für die lange Reisezeit zu präparieren (Generationenschiff, Kryonik etc.)

Eine Möglichkeit, die sogar interdimensional funktioniert, wenn wir Rick Sanchez glauben wollen, ist die Umwandlung der Identität in ein Datenpaket und die anschließende Implementierung in einen anderen (geklonten) Körper. Auf diese setzt Andreas Suchanek in seinem Sci-Fi-Thriller.

Commander Liam Mikaelsson erwacht in seinem Klonkörper, um mit seinem Team die geplante Erkundungsmission eines weit entfernten Planeten aufzunehmen. Bis dahin ist alles in Ordnung. Ab dann läuft überhaupt nichts mehr nach Plan. Von seinem Team erwacht nur noch seine Sicherheitsexpertin und die Technik verhält sich generell merkwürdig. Von einem ruhigen Planeten, der sich geordnet erforschen lässt, kann auch keine Rede sein. Und allmählich wird klar, dass es sich bei der ganzen Situtation nicht einfach um unglückliche Umstände handelt…

Ich habe dieses hochspannende Buch sehr gerne gelesen. Suchanek versteht es, einen Plot zu erzählen, der in den Bann zieht und die Spirale der Ereignisse immer weiter zu drehen. Ich mag den Marketing-Begriff vom Page-Turner nicht besonders – aber hier trifft er ohne Zweifel zu. Wer einen Thriller sucht, der sich schnell weglesen lässt, ist hier genau richtig.

Buchdetails:
Andreas Suchanek: Interspace One : Roman. Piper München 2022, 377 Seiten, ISBN 978-3-492-70634-6 ; 15 € ; als ebook 12,99 €
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Auf dem Nachttisch (1)

Schreiben über gelesene Bücher soll eigentlich integraler Bestandteil dieses Blogs sein. Aber wie das so ist im Leben – nicht immer entwickelt sich alles so wie geplant. Vor allem das Real Life funkt immer wieder gerne dazwischen. Und so gerne ich meine schon seit Jahren zurückliegende wöchentliche Buchempfehlungsrubrik weiterführen würde – es ist nicht realistisch, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren.

Nun lese ich also weiterhin Dies und Das, denke mir nach jeder beendeten Lektüre: Dazu schreibst Du was. Dann fange ich einen Beitrag an, lege ihn zur Seite und da bleibt er dann liegen – hilflos mit seinen Beinchen strampelnd, mich immer wieder ermahnend, ihn nun endlich aufzuheben. So vergehen Wochen, Monate, Jahre – und es wird doch kein veröffentlichter Text daraus. Inzwischen sind die Bücher womöglich vergriffen, kurz: Das ist unbefriedigend.

Also versuche ich es nun einmal mit kurzen Sammelrezensionen – die zwar dem einzelnen Werk nicht die Aufmerksamkeit geben, die ich ihm idealerweise geben wollte. Doch dazu sei an dieser Stelle mein früherer Chef zitiert: Better done than perfect.

Also dann, auf geht es mit der ersten Runde Bücher, die ich kürzlich vom Nachttisch geräumt habe:

Sarah Kuttner: Kurt

Drei Erwachsene, ein Kind. Die Zahl von Büchern und Filmen zu den verschiedensten Konstellationen, die sich aus einer solchen Aufzählung ergeben können, ist Legion. Warum also noch eins? Weil das Thema nie zu Ende ist. Jede Zeit, jede Konstellation ist individuell und hat ihre ganz eigene Geschichte, Sarah Kuttners Geschichte beginnt zunächst ganz vertraut: Ein Paar hat ein gemeinsames Kind, trennt sich, ein Partner findet eine neue Partnerin und zieht mit dieser in ein eigenes Haus. Jana und Kurt schaffen es, diese schwierige Situation vernünftig zu lösen und Lena lernt nach dem großen nun auch den kleinen Kurt kennen. Mit ihr erleben wir ein waches, neugieriges Kind voller Liebe für die Welt und die Menschen, die ihn umgeben.
Der tiefe Schmerz, den die Erwachsenen erleben, als das Kind plötzlich stirbt, hat auch mich beim Lesen getroffen. Ich habe den kleinen Kerl sehr ins Herz geschlossen. Sarah Kuttner findet in ihrer schnörkellosen, empathischen Sprache einen Ausdruck für die Trauer und die ganz verschiedenen Wege, die Trauernde gehen. Darin liegt für mich die Stärke und Bedeutung dieses Buchs: Worte und Ausdruck zu finden für eine Trauer, die tiefer kaum sein könnte. Worte dort zu finden, wo keine Worte mehr sind.

Ein herzzerreißendes Buch über einen Schmerz, der nicht zu begreifen ist. Ich habe jedenfalls viele Tränen vergossen und ich weiß nicht, ob ich das Buch ein zweites Mal aushalten würde.

Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Gut vierzig Jahre liegt diese Geschichte schon bei Murakami auf dem Nachttisch. Grundlage des Romans ist eine Erzählung aus den 80er Jahren, mit der der Autor nie so recht zufrieden war. Immer wieder wollte er sie weiter ausarbeiten. Nun also ist dieser Roman daraus entstanden. Vor solchen Entstehungsgeschichten warnen Lektor:innen regelmäßig, und das aus guten Gründen. So eine Geschichte bleibt nicht ohne Anlass so lange liegen. Meist stimmt mit ihnen etwas nicht, sei es, dass ihr Thema nicht so recht passt oder ein grundlegender konstruktiver Fehler es immanent nicht zu einem gutem Abschluss kommt. Das ist auch hier spürbar, der Roman sei niemandem ohne Murakami-Erfahrung empfohlen.

Und dennoch zeigt sich Murakami in diesem dichten Roman von seiner Stärke als Romancier. In der metapherngesättigten Geschichte um eine verlorene und unerreichbare Liebe führt er dem Leser vor Augen, dass Realitätsflucht zwar ungemein beruhigend und sicherheitsversprechend ist – aber eben nicht echt. Und vor allem: Das Leben extrem einschränkend, da jede Berührung mit dem Leben außerhalb der selbst geschaffenen Mauern den Kokon und seine schutzspendende Wärme bedroht. Und auch wenn ich den Roman gerne gelesen habe: Wahrscheinlich wäre es besser, er wäre eine Erzählung geblieben.

Laura Wood: Agency for Scandal

Izzy Stanhope, eine junge Frau mit Beziehungen in der britischen Upper Class, hat viele Geheimnisse. Und jedes einzelne davon könnte ihre prekäre Stellung ruinieren. Dementsprechend unauffällig bewegt und kleidet sie sich.
Der Roman ist im Viktorianischen England angesiedelt und kreist um ein Team von Frauen, die selbstorganisiert andere Frauen unterstützen. Das ist entsprechend herausfordernd, denn offen agieren können sie naturgemäß nicht. Scheu hat das Team dabei weder vor hohen Ämtern, großem Reichtum oder Berufsverbrechern. Alle Mittel und Wege sind ihnen recht, wenn sie geeignet sind, die Sache der Klientinnen zu befördern. Dabei nutzen sie geschickt ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung aus, legen sich Tarn-Identitäten, entwickeln Spezialfähigkeiten – eben alles, was man von einem professionellen Team erwarten darf.

Ob und wie hier Anachronismen reinspielen, kann ich nicht beurteilen, dafür kenne ich die Viktorianische Gesellschaft viel zu wenig – ich bin mir aber auch nicht sicher, ob das überhaupt relevant ist. Die turbulente Handlung findet ihre Ankerpunkte in den Figuren, die ein hohes Identifikationspotential bieten. Dass hier die Protagonistinnen sich in einer männerdominierten Welt ihren Handlungsraum nehmen und nutzen ist vielleicht der stärkste Aspekt dieses Jugendbuches.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd

Mich hat dieser Thriller leider überhaupt nicht überzeugt, gerade vor dem Hintergrund des ersten Teils. Dieser war solides Handwerk, mich hatten ein paar Dinge gestört, aber insgesamt war das okay und ich war durchaus gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde.
Schon in Das Nord war die übermächtige Alice und die Hilflosigkeit aller anderen etwas dick aufgetragen. Hier aber rutschen die Figuren endgültig in die Unglaubwürdigkeit ab. Das beginnt schon beim Restaurantnamen, der gekünstelt auf den ersten Roman Bezug nimmt. Alex und Sofi würden nach all den traumatischen Erlebnissen im Nord ihr Restaurant ernsthaft Syd nennen? Insbesondere, wenn sie versuchen, sich vor Alice Duwal zu verstecken? Da war das Verlagsmarketing wohl stärker als die Figurenentwicklung.
Und dass nun wirklich jeder Schritt, den Alex macht, sich mal wieder als beobachtet und gesteuert herausstellt, was ausgerechnet ihm aber nie bewusst wird, obwohl er ständig Angst davor hat, beobachtet und gesteuert zu werden. Und wieder einmal ist es dieselbe übermächtige Alice, die hier schon James-Bond-Bösewicht-Dimensionen erreicht und wieder einmal wird es eine vergleichsweise simple Falle, mit der sie überwältigt wird. Ich weiß nicht, mich hat das wirklich nicht überzeugt. Ich hatte hier auf eine neue Geschichte gehofft, tatsächlich aber ist es weitgehend dieselbe.
Gleichzeitig ist aber ganz klar spürbar, dass die Autorinnen ihr Handwerk eigentlich verstehen – und das hat vielleicht meinen Ärger verstärkt. Wenn das Buch einfach schlecht geschrieben wäre, hätte ich es zur Seite legen und abtun können.

Buchdetails:
Sarah Kuttner: Kurt : Roman. S. Fischer Frankfurt am Main 2019, 239 Seiten, ISBN 978-3-10-397424-9, 20 € ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 €
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Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer : Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont Buchverlag Köln 2024, 637 Seiten, ISBN 978-3-8321-6839-1, 35 € ; als ebook 27,99 € ; als Hörbuch 34 €
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Laura Wood: Agency for Scandal : Roman. Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawls, Fischer Sauerländer Frankfurt am Main 2024, 432 Seiten, ISBN 978-3-7373-4389-3, 15,90 € ; als ebook 12,99 €
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Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd : Thriller. Aus dem Schwedischen von Max Stadler, HarperCollins Hamburg 2024, 270 Seiten, ISBN 978-3-365-00578-1, 14 € ; als ebook 9,99 €
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