Das Buch zum Sonntag (103)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Yasmina Reza: »Kunst«

Die Frage, was denn nun Kunst sei, wurde bereits im Buch der letzten Woche durchaus debattiert. In Yasmina Rezas Stück »Kunst« steht diese Frage im Zentrum. Neben der Frage, was eine Freundschaft kann, muss und überhaupt eigentlich ausmacht.
Idealerweise sollte man Theaterstücke ja so wahrnehmen, wie sie gedacht sind: Auf der Bühne. Das geht, im Gegensatz zum zweiten hier empfohlenen Stück, bei »Kunst« recht gut, wird es doch immer wieder gespielt. Ich habe es auch tatsächlich durch eine Aufführung kennengelernt, in die mich mein sehr viel kunstsinniger Bruder mitnahm. Wenn ich mich recht entsinne, war ein Wanderensemble, das seinerzeit in der Moritzbastei Leipzig mit diesem Stück auftrat (ich war übrigens sehr viel mehr von der Leistung der Darsteller eingenommen als mein Bruder – aber wie gesagt, er ist der kunstsinnigere)

Allzu viele Worte möchte ich heute gar nicht verlieren, nur kurz skizzieren, worum es geht.
Wir lernen ein Freundetrio kennen: Serge, Marc und Yvan. Serge hat sich ein Kunstwerk gekauft. Für 200.000 Franc (ja, so alt ist das Stück schon 😉 ). Eine angesagte Galerie, ein angesagter Künstler, ein angemessener Preis.
Das Problem dabei ist – Marc und Yvan erkennen in dem Gemälde rein gar nichts (aus gutem Grund, ich sage nur so viel:

Für mich ist es nicht weiß. Wenn ich sage, für mich, dann meine ich objektiv. Objektiv gesehen ist es nicht weiß.

)

(S. 35)*

und reagieren nun, wie Freunde, Bekannte, der Umkreis gelegentlich reagieren, wenn sie finden, dass wir eine Dummheit begangen haben. Es entfacht sich eine Debatte, die schon sehr bald von der Frage, ob, das was die drei dort betrachten, ein Kunstwerk im Werte eines sechsstelligen Franc-Betrages sei, entfernt.
Reza lässt hier Stück für Stück die Frustrationen, die aus den jeweiligen Lebensentwürfen nebst ihren Abweichungen von den jeweiligen Lebensläufen resultieren, hervortreten.
Können Menschen befreundet sein, die so unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben und was in diesem wichtig ist, haben?
Kann eine Freundschaft aushalten, dass der eine große Summen aus reinem Vergnügen ausgibt, während den anderen viel elementarere Geldsorgen plagen?
Kann ich akzeptieren, dass meinem Freund Dinge wichtig sind, die mir völlig egal sind?
Und überhaupt, sind eigentlich mein Leben, mein Lebensentwurf, meine Wertvorstellungen eigentlich nur im Vergleich zu anderen etwas wert?

Die drei haben also einen hübschen Berg abzuarbeiten.
Möglicherweise ist dieses eher frühe Stück nicht ihr elbaoriertestes, nicht ihr schärfstes, nicht ihr bestes Werk – aber ich finde es wirklich großartig, wie sie hier ihre Fähigkeit zeigt, Masken fallen zu lassen, Fassaden niederzureißen, die es uns sonst immer ermöglichen, an der Oberfläche unserer sozialen Interaktion zu bleiben, im Unverbindlichen des täglichen Miteinanders.
Und die Fadenscheinigkeit des Freundschaftsbegriffes auch ganz ohne Herrn Zuckerberg kann man sich nicht oft genug vor Augen führen. Was ist das, ein Freund?
Denkt mal bei der nächsten Aufführung von »Kunst«, die ganz sicher in naher Zukunft auf einer Bühne in eurer Nähe stattfinden wird, mit Frau Reza darüber nach.

Bis dahin kann man sich allerdings auch mit der

lieferbaren Ausgabe

behelfen.

P.S. Bemerke gerade, dass Frau Reza so alt war wie ich jetzt, als sie dieses Stück schrieb. Mhm.


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aus: Reza, Yasmina: »Kunst«. Libelle Verlag. Lengwil am Bodensee. 8. Aufl. 2012

Das Buch zum Sonntag (102)

Es ist Juni. Ein wunderbarer Zeitpunkt für einen Neubeginn. Und passend zur Konstruktion dieses Blogs erfolgt dieser mit einer Buchempfehlung, auf dass ihr, geneigte Lesende dieser Publikation, nicht weiter irrlichternd und suchend durch das weite Meer der Literatur segeln müsst, einen sicheren Kompass, ach was sage ich, einen richtungweisenden Fixpunkt am Firmament, einen Leitstern verzweifelt suchend. Oder so.*

Der Autor des heute empfohlenen Buches war hier gelegentlich bereits Thema (so zum Beispiel in Nummer 94 und Nummer 40 dieser Reihe), ich vermag also eine gewisse Affinität zu seinem Schaffen nicht verleugnen. Allerdings ist diese auch vollkommen begründet, womit es mir völlig gerechtfertigt erscheint, den neuerlichen Neustart dieses Blogs mit ihm zu eröffnen, insbesondere, da erst vor kurzem ein neues Werk von ihm veröffentlicht wurde und so

empfehle ich der geneigten Leserschaft für die morgen beginnende Woche zur Lektüre:

Frank Fischer: Weltmüller

Vexierspiegel. Wenn ich eine Assoziation zu diesem Buch finden sollte, dann wäre es wohl diese.
Drei Reportagen eines preisentkrönten Journalisten namens Frank Fischer, von Begebenheiten handelnd, die in ihrer Absurdität gleichwohl möglich wirken. Ein Buch, das mit allem spielt, mit Wirklichkeitsebenen, mit Reflexionen, mit Wahrnehmungen, mit Erwartungshaltungen. Und wie, zumindest geht es mir so, beim Vexierspiegel der Eindruck entsteht, man müsse nur den richtigen Winkel finden, dann zeige sich die Wirklichkeit in ihrer unverzerrten Form, so drängt sich beim Weltmüller der Gedanke auf, man müsse ihn nur oft genug und mit der richtigen Fragestellung lesen und schon offenbare sich, was die Welt im Innersten zusammen hält. Oder zumindest doch, was eigentlich Kunst ist und welche Rolle sie in der besten der möglichen Welten spielt.
Es sind verschiedenste Lesarten dieses Bravourstücks möglich.
Man kann es als leichte Fingerübung eines talentierten Autors lesen, als intellektuelle Spielerei eines Passionsfeuilletonisten, gut geeignet, der distinguierten Zahnärztin als Geburtstagspräsent zu überreichen – bei all den Namen, die dort auftauchen, wird sie es kaum wagen, das Buch schlecht zu finden.*** Kann man machen.
Man kann es aber auch lesen als Satire auf „den Betrieb“. Auf den Theater- und sonstigen Kunstbetrieb, auf dieses um sich selbst drehende Universum, das stets darauf bedacht zu sein scheint, sich durch Deutungs- und Bedeutungshöhen abzugrenzen vom schnöden Plebs und dabei doch genau diesen, zumindest in seinem bildungsbürgerlichen Gewand, braucht, um die eigene Größe zu demonstrieren. Kann man machen.
Man kann es aber auch lesen als ein Schelmenstück, in dem ein Hamlet mit Tierpflegern und ein Godot mit einer sechsten Rolle oder 192 Tafeln auf dem Leipziger Augustusplatz eine Variation auf Kerkelings „Hurz“ sind, geeignet, das Publikum in seiner Erwartungshaltung vorzuführen, in seiner Sucht danach, sich selbst intellektuell nicht im Abseits zu sehen, alles, was das Etikett „Kunst“ trägt auch interpretieren und verstehen zu wollen – und vor allem auch zu können. Kann man machen.
Und das schöne wäre: Man hätte bei allen diesen Lesarten sein Vergnügen, je nachdem, wo man sich als Lesender selbst verortet.
Es gäbe noch zahlreiche weitere denkbare Lesarten, was für mich einen der größten Reize dieses Buches ausmacht. Die Lesart, die ich jedoch empfehle, wäre die, sich einfach darauf einzulassen. Was vor allen Dingen bedeutet, Fragen zuzulassen. Wer ist dieser Reporter eigentlich – und wieso zum Henker wird ihm ein Journalistenpreis aberkannt, noch dazu für eine Reportage über ein in höchstem Grade öffentliches Ereignis (die versprochene Berichterstattung, zu dessen Gegenstand er nun geworden sein soll, sucht man, zumindest im Buch, vergebens)?
Was ist von Menschen zu halten, der unbescholtene Bewohner entferntester Länder behelligen, nur um das Rätsel einer Inschrift einer Kunstinstallation zu lösen, die sich zudem sowieso im Momente der Erkenntnis wieder verändert?

Und schließlich, die größte aller Fragen, wieso muss ich so viele Worte zu einem Buch verlieren, in dem ein Satz wie

Es ist ja von sich aus interessant, wenn irgendwo irgendwas von irgendwem geschrieben steht.

(S. 58)**

zu lesen ist?
Eben.
Weltmüller ist für mich eines der faszinierendsten Leseerlebnisse der letzten Zeit – hochreferentiell, intertextuell geradezu ein Thanksgivingtruthahn – und doch auch ohne all dies ein exzellent funktionierender Text. Es gibt nur wenige Werke der Literatur, über die sich ähnliches sagen ließe. Ich bin mir sicher, noch eine ganze Weile daran zu sitzen und noch ganz andere Fragen als die oben erwähnten zu klären.
Damit mir das aber gelingt, müsst ihr jetzt alle mal eine der

lieferbaren Ausgaben

kaufen und – vor allem – lesen.

Denn ich muss dringend mal mit jemandem darüber sprechen.


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*Das mit der Bescheidenheit übe ich noch.
**aus: Fischer, Frank: Weltmüller. SuKuLTuR. Berlin 2012
***Genau zu diesem Behufe übrigens habe ich das Buch heute verkauft. 😉

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (101)

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Frédéric Valin: Randgruppenmitglied

Ich mag es, wenn Literatur Lebensgefühle einzufangen vermag. Das kann in einem großangelegten Panorama geschehen, es können aber auch Miniaturen sein. Solche Miniaturen schrieb Frédéric Valin in dieser Erzählungssammlung. Wie der Titel bereits nahe legt, sind seine Protagonisten nicht unbedingt diejenigen, die im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens und Interesses stehen. Es sind eher aus den verschiedensten Gründen am Rand stehende, an ihren Ansprüchen, Ideen oder schlicht dem Leben gescheiterte, zweifelnde, ausgestoßene Figuren. Valin ist dabei ein sehr genauer, einfühlsamer Beobachter*, was sich in einer durchaus behutsamen Erzählweise offenbart. Es kracht und scheppert bei Valin nicht, es gibt keine dramatischen Liebesszenen und keinen Streit mit fliegenden Gegenständen mannigfacher Gestalt. Was es aber gibt, ist eine leise Ironie. Und auch wenn ich finde, daß es einen enervierenden Hang der zeitgenössischen Literatur zu einer distanzierenden, alles ironisierenden und damit positionslosen Schreibweise gibt, hier scheint dies nicht zuzutreffen.

Das ist Punk, dachten wir. So wie er, dachten wir. So gut man eben mit vierzehn Punk sein konnte in einer süddeutschen Kleinstadt, also nicht sehr. Ein Freund aus Cottbus hat mir mal erzählt, es hätte bei ihnen nur drei Möglichkeiten gegeben, was man als Teenager hätte sein können: Punk, Nazi oder Hip-Hopper. In einer idyllischen Kleinstadt mit spitzen Kirchtürmen und Lateinleistungskursen, mit den ganzen Audis als Zweitwagen, mit Wäldern und Wiesen, mit Kühen auf der Wide und Ochsen im Rathaus, war das anders. Wir waren so sehr Provinz, wir hatten noch nicht einmal Subkultur.

(S. 77)**

Vielleicht ist eine der nachhaltigsten Wirkungen des Fängers im Roggen, daß es Salinger gelungen ist, aufzuzeigen, welche Verletzlichkeit, welche Berührbarkeit, welche Empfindsamkeit sich hinter einem schnoddrigen Tonfall verbergen kann. Wie wichtig es ist, genau zuzuhören, genau hinzusehen, den gehörten, den gelesenen Worten nachzuspüren. es gibt solche Momente auch bei Valin. So in der Erzählung »Frau Nachtweih wünscht zu sterben«, in der letztlich dem Lesenden zu überlegen bleibt, wen der Protagonisten er alles zur Randgruppe zu zählen gedenkt:

Manche brauchen zwei tage, um zu begreifen, dass das hier das Abstellgleis ist, andere Monate. Je länger einer braucht, desto beschissener geht es ihm. Frau Nachtweih geht es seit drei Monaten sehr beschissen.
Die meisten, die hier ankommen, werden innerhalb eines Monats von ihren Partnern verlassen. Die begreifen viel schneller, dass das hier das Ende der Sackgasse ist. Die haben die Reha mit durchgestanden, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten und dachten, das halbe Jahr Zuversicht und Unterstützung sind sie dem anderen schuldig. Die meisten sind allerdings drei Wochen nach der Hirnblutung schon auf irgendwelchen Datingportalen unterwegs. Ist ja auch keine einfache Situation für die Partner, wenn der andere plötzlich statt Hirn nur noch Blutwirst unter der Schädeldecke hat. Das hält man vielleicht ein halbes Jahr aus, und dann ist man froh, wenn man woanders unterkommt.

(S. 16f.)

Frédéric Valin erweist sich als ein Erzähler, der seine Protagonisten kennt, sich einzufühlen vermag und dem Lesenden en passant die eine oder andere Denkaufgabe mit auf den Weg geht. Dieser kleine Band ermöglicht einen Einblick in die Erlebniswelt all jener Figuren modernen urbanen Lebens, die wir in all den Hipster-Trend-Gentrifidingsbums-Diskursen allzu schnell zu vergessen bereit sind und die doch auch Teil genau jener Diskurse sind. Nur eben nicht im Mittelpunkt, sondern eher am Rande – wo sie vielleicht gar nicht hingehören, weil erst Ränder eine Mitte definieren können.

Und ganz unabhängig davon, macht es eben auch einfach Freude, Valin zu lesen. Das sollte eigentlich Grund genug sein, sich umgehend die

lieferbare Ausgabe

zuzulegen.


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*Was sich bemerkenswerter Weise sogar in seinen grandiosen Bundesligaspielberichten widerspiegelt, die er bis 2011 auf Spreeblick veröffentlichte. Auch wenn mich persönlich die Fußball-Bundesliga eher peripher interessiert, die Spielberichte las ich mir immer durch – mit deren Ende flachte das Interesse allerdings auch sofort wieder ab (und meine mühsam erworbene Fachkompetenz gleich mit… 😉 )
**aus: Punk Dead in: Valin, Frédéric: Randgruppenmitglied. Verbrecher Verlag Berlin 2010

Das Buch zum Sonntag (100)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Wolfram von Eschenbach: Parzival

Von meiner Schwäche für Epen war hier gelegentlich ja bereits die Rede. Der Parzival ist mir das bisher liebste.
Es gäbe zur literaturhistorischen Ausnahmestellung des Parzival, insbesondere aber seines Autors, gäbe es viel zu sagen. Und wird es auch. Vieles, was Wolfram verhandelt, ist in seinem Kontext höchst spannend und anspielungsreich und nur zu verstehen, wenn man über einen entsprechenden Kenntnisstand verfügt oder aber es sich erklären läßt – so wie es zum Beispiel Peter Wapnewski in seiner unvergleichlichen Lesung macht. Wäre dies allerdings das einzige, was zum Parzival zu sagen wäre, so wäre dieses Werk in mediävistischen Zirkeln am besten aufgehoben und bräuchte außerhalb derselben niemanden zu tangieren.
Allein, ich bin der festen Überzeugung, daß es auch einen voraussetzungsfreien Zugang zu diesem Epos gibt und ein ebensolcher Lesegenuß sich einzustellen vermag, ganz ohne historische oder germanistische Seminare zu belegen. Nur dann nämlich macht Literatur, Kunst überhaupt, in meinen Augen Sinn: Wenn ich sie voraussetzungslos begreifen und genießen kann. Wobei das so natürlich nicht stimmt, denn Voraussetzungen bringt ein jeder mit, seien sie nun kulturell geprägt oder sonstwie angelernt – ein Neo Rauch sieht ein Bild ganz anders als ich und ein Abraham-a-Sancta-Clara-Forscher wird dessen Werke völlig anders lesen als ich das tun würde und dabei durchaus einen Lesegenuß entwickeln, wo ich nur rätselnd verzweifle. Aber ehe ich mich jetzt in theoretische Überlegungen verrenne, denen ich nicht gewachsen bin, kommen wir doch lieber zum Buch. Weiterlesen „Das Buch zum Sonntag (100)“

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (99)

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Tomas Tranströmer: Sämtliche Gedichte

Der Buchempfehlungsreigen nähert sich der Dreistelligkeit, höchste Zeit also für einen Lyriker.
Einen Lyriker zudem, das sei an dieser Stelle freimütig bekannt, auf den ich ohne die Zuerkennung des Literatur-Nobelpreises wohl nicht gestoßen wäre. Es waren drei Dinge, die mich bewogen, Tranströmer zu lesen.
Zum einen der Widerwillen gegen die in unzähligen Kommentaren aufwallende „Wasfüreinbekloppteskommitteemitseinenidiotischenentscheidung“-Stimmung – von Leuten, die nie auch nur eine Zeile des soeben Geehrten gelesen hatten. Zum zweiten die immer wieder kolportierte Behauptung, es sei in Schweden durchaus üblich, das eine oder andere Tranströmer-Gedicht auswendig zu kennen. Und zum Dritten diese Zeile:

Das Erwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum.

(S. 7)*

Über die ich in einem Tweet stolperte, den ich nicht mehr wiederfinde. Vergänglich ist der Menschen Tun…
Es zeugt nicht unbedingt von Kenntnis, wenn man pauschal das Gesamtwerk eines Autoren empfiehlt. Nunja, ich kenne Tranströmer auch erst seit knapp 2 Monaten, intime Kenntnis zu behaupten, wäre da wenig glaubwürdig. Zudem ist sein Werk auch recht schmal, allzuviel ist seit 1996, das Jahr mit dem diese Zusammenstellung endet, nicht von ihm erschienen und, das scheint mir der spannendere Grund zu sein, es steckt in diesen wenigen Seiten eine erhebliche Menge drin. Es gibt hier einen Lyriker zu entdecken, der immer wieder aufzuzeigen imstande ist, warum man von Dichtkunst spricht. Warum es eben nicht um das epische Beschreiben eines Sonnenuntergangs in hügeliger Steppenlandschaft geht, sondern um das Verkürzen, Verknappen, Verdichten. Den unmittelbaren Eindruck eines Moments, eines Gefühls, eines Gedankens in ebenso unmittelbare Worte zu fassen – das ist Dichten.

Ein Zeitraum
wenige Minuten lang
achtundfünfzig Jahre breit.

Und hinter mir
jenseits der bleischimmernden Wasser
lag die andere Küste
und diejenigen, die herrschten.

Menschen mit Zukunft
statt eines Gesichts.

(S. 229)**

Er scheint mir ein sehr genauer, sehr empfindsamer Beobachter zu sein. Durchaus auch des (politischen/ideologischen) Weltgeschehens, vor allem aber seiner Mitmenschen. „Menschen mit Zukunft/statt eines Gesichts“ – da blitzen Bilder auf, da entstehen Menschen vor dem inneren Auge, die sich nicht treffender beschreiben ließen.
Es überwiegen bei Tranströmer durchaus klassische Lyrikthemen, Politprop sucht man vergebens, auch wenn es immer mal wieder den einen oder anderen Fingerzeig gibt – es geht ihm doch eher um das menschliche Miteinander in durchaus wenig pathetischem Sinne, was ihn mir sehr angenehm macht. Es ist eine eher leise Dichtkunst, die er pflegt.

Während der düsteren Monate saß die Seele zusammengekauert
und leblos,
doch der Leib ging gradenwegs zu dir.
Der Nachthimmel brüllte.
Verstohlen melkten wir den Kosmos und überlebten.

(S. 188)***

Ich bin dem Nobelpreiskomitee dankbar dafür, meinen Blick auf diesen Dichter gelenkt zu haben. Ohne die Entscheidung, ihn in diesem Jahr zu ehren, hätte ich ihn wohl nie entdeckt. Und da hätte ich doch was verpaßt. Wie zum Beispiel diese Stelle hier, die ich abschließend zitieren möchte:

Stille Zimmer.
Die Möbel stehen flugbereit im Mondschein.
Sachte gehe ich in mich selbst hinein
durch einen Wald von leeren Rüstungen.

(S. 190)****

Und auch wenn es übertrieben sein mag, daß jeder Schwede einige Lieblingszeilen Tranströmer zu zitieren vermag – für möglich halte ich es durchaus. Sein Werk gibt das her.

Wer also noch keine Lieblingszeile hat, der möge sich umgehend die

lieferbare Ausgabe

holen.


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*zitiert aus: Präludium (1954). in: Tranströmer, Tomas: Sämtliche Gedichte. Carl Hanser München 1997.
**aus: Nachtbuchblatt (1996)
***aus: Feuergekritzel (1983)
********aus: Postludium (1983)

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (98)

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Thomas Mann: Die Buddenbrooks

Zugegeben, Thomas Mann zu empfehlen, ist nicht gerade originell. Allerdings war es von Anfang an eine Linie dieser Buchempfehlungsreihe, sich um Kanonisierungen nicht zu scheren. Und das gilt auch für die Literaten, die das Pech hatten, in den bildungsbürgerlichen Heiligenstand versetzt worden zu sein.* Es scheint in der Tat so, als sei Thomas Manns Einfluß auf die deutsche Literaturproduktion und -rezeption gar nicht zu überschätzen. Wie anders als durch des Konsuls langen Schatten wäre sonst die an eine Gesetzmäßigkeit erinnernde Formel „deutsche Geschichte plus Familienroman gleich Deutscher Buchpreis“ zu erklären?
Die Buddenbrooks stehen jedoch nicht nur für absehbare Preisgewinner** Pate, sondern auch für die immer wieder gerne diskutierte Frage der Kunstfreiheit vor dem Hintergrund der Schutzwürdigkeit von Persönlichkeitsrechten. Denn natürlich war für den kommerziellen Erfolg eines derart umfangreichen Werkes (es ist rührend, den Briefwechsel zwischen Samuel Fischer und Thomas Mann zu lesen, in dem der Verleger den Autor geradezu händeringend bittet, zu kürzen) äußerst nützlich, daß so etliche ehrenwerte Bürger der ehrenwertesten Stadt Lübeck sich darin karikiert zu finden glaubten. Wäre der Roman allerdings nur das, eine armselige Kolportage, so lohnte es sich nicht, heute auch nur noch ein Wort darüber zu verlieren.
Ist es aber nicht.
Die Buddenbrooks sind ganz im Gegenteil ein wirkliches, ein dauerndes, ein großartiges Meisterwerk. Und so sehr auch unsere Schulen und Literaturexperten versuchen, diesen Schriftsteller und insbesondere diesen Roman totzuloben: Manchmal, liebe Lesende, manchmal lohnt es sich trotzdem. Manchmal steht wirklich ein Buch im Kanon, das nicht nur im literaturhistorischen Kontext spannend ist, das nicht nur exemplarisch für irgendetwas steht.
Ich habe die Buddenbrooks zum ersten Mal mit 16 Jahren gelesen und mich hatte er sofort. Da ist eine Prägnanz und Eleganz in seiner Sprache, in seinem den Roman eröffnenden Defilee der Protagonisten, die mit wenigen Sätzen vollständig beschrieben werden – mir raubte das seinerzeit den Atem und ich finde es noch heute faszinierend:

»Was ist das. – Was – ist das…«
»Je, den Düwel ook, c´est la question, ma très chère demoiselle!«
Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knieen hielt.
»Tony!« sagte sie, »ich glaube, daß mich Gott –«
Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein[…]

S. 7

Alle hatten in sein Lachen eingestimmt, hauptsächlich aus Ehrerbietung gegen das Familienoberhaupt. Mme. Antoinette Buddenbrook, geborene Duchamps, kicherte in genau derselben Weise wie ihr Gatte. Sie war eine korpulente Dame mit dicken weißen Locken über den Ohren, einem schwarz und hellgrau gestreiften Kleide ohne Schmuck, das Einfachheit und Bescheidenheit verriet, und mit noch immer schönen und weißen Händen, in denen sie einen kleinen, sammetnen Pompadour auf dem Schoße hielt. Ihre Gesichtszüge waren im Laufe der Jahre auf wunderliche Weise denjenigen ihres Gatten ähnlich geworden. Nur der Schnitt und die lebhafte Dunkelheit ihrer Augen redeten ein wenig von ihrer halb romanischen Herkunft;

(S. 8)

Toll.
Thomas Mann ist neben seiner bewundernswerten Sprachvirtuosität (auch wenn wir zugeben wollen, daß es sich hier um eine andere Art Virtuosität als die einer Juli Zeh oder einer Sibylle Berg handelt, die ihre Sätze weit kürzer zu fassen pflegen) vor allem ein glänzender Beobachter. Seine Figuren sind derart lebendig gezeichnet, daß man sich ihrem Bann nur schwer entziehen kann. Und auch wenn die Buddenbrooks dank ihres für Mannsche Verhältnisse schon überbordenden Plots zu Recht als sein unterhaltsamstes Werk gelten dürfen – es sind doch vor allem seine Figuren, die das Buch auch nach über 100 Jahren noch lebendig erscheinen lassen, völlig frei von irgendwelcher Klassiker-Patina erstehen auch für den heute lesenden Betrachter Figuren, denen ihr Menschsein nicht verlorengegangen ist. Denn eines gilt in der Kunst immer wieder: Wirklich gute Typisierungen gelingen nur ohne Typen. Gerade solche Figuren wie Tony Buddenbrook, für mich eine der mir liebsten literarischen Frauengestalten oder Bendix Grünlich, in seiner anschmeichelnden Widerwärtigkeit großartig getroffen, sind es, die bei aller zeitlichen Ferne zum Geschehen (die im Übrigen bezweifelt werden darf, denn Umbrüche aufgrund veränderter Produktivverhältnisse, das Zusammenbrechen althergebrachter Lebensformen unter der Last eines allgegenwärtigen Wandels etc. kamen ja nicht nur im 19. Jahrhundert vor…) mich auch heute ausrufen lassen:

Keine Angst vor großen Namen: Leute, lest Thomas Mann. Es lohnt sich. Wirklich.

Und damit das auch gleich beginnen kann, hier der Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben.


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*Auch wenn wir davon ausgehen dürfen, daß Thomas Mann selbst diesen Umstand nicht mit der Vokabel „Pech“ assoziiert hätte.
**Und Weihnachtsumsatzgaranten. Ich erwarte glänzende Geschäfte mit dem Ruge. Eben auch, weil er so kompatibel mit dem ist, was allgemein unter „guter Literatur“ verstanden wird.
***zitiert aus: Mann, Thomas: Die Buddenbrooks. (=Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 1) S. Fischer Frankfurt/Main. 1997

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (97)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Florian Meimberg: Auf die Länge kommt es an.

Die Geschichte der Literatur ist auch eine Geschichte der formalen Experimente – und dabei vor allem der formalen Beschränkungen. Ob Hexameter, Stabreim oder Sonett – es wurde auf allen Feldern und in allen Bereichen nach formalen Kriterien gesucht, die ein literarisches Kunstwerk als besonders gelungen erscheinen lassen. Und auch wenn die Moderne mit all dem aufräumen wollte, es gab und gibt immer Gegenbewegungen. Mag sie auch als getarnt als Zeitlimit im sonst so freien Poetry Slam auftauchen, die künstliche Beschränkung hatte immer ihren Reiz, fordert sie doch den Schaffenden heraus.
Als Herausforderung begreift denn auch Florian Meimberg die 140-Zeichen-Beschränkung des Microblogginganbieters Twitter für die über ihn versendeten Botschaften. „Sehr kurze Geschichten“ nennt er das, was in diesem Band zu lesen ist (und bei seinem Twitteraccount). Und in der Tat, das sind sie: Sehr kurz. Um in 140 Zeichen eine vollständige Geschichte zu erzählen, bedarf es neben eines Höchstmaßes an Reduktion jedoch gleichzeitig auch der Mithilfe des Lesers, in dessen Kopf die fehlenden Bilder ergänzt werden. Das ist höchst reizvoll, wenn es wirklich gelingt, können sich Kaskaden von Bildern ergeben, Stoffe für ganze Epen. Oder auch einfach nur überraschend, pointiert – nicht selten böse.

Shiro hasste seinen Chef. Was für eine sinnlose Dienstreise! Wütend starrte er auf das Zugticket. Hiroshima-Osaka. 5.8. 1945

(S. 113)*

Zac tobte. In der Klapse? Er? Brüllend schlug er gegen das Sicherheitsglas. Und verharrte. Den Mann in der matten Reflexion kannte er nicht.

(S. 129)

Das mit der Wiedergeburt hatte sich Kate irgendwie anders vorgestellt. Epischer. Träge schwappte das Wasser an die Wand des Goldfischglases.

(S. 141)

Meimberg ist hauptberuflich Werber und könnte ich ihn bezahlen, würde ich mir von ihm Werbefilme drehen lassen. In kürzester Zeit eine Geschichte zu erzählen, kann er ganz offenkundig. Natürlich sind die dramaturgischen Mittel bei einer derartigen Verkürzung des Raumes beschränkt. Und so sei für die Lektüre dieses Bandes dringend noch einmal meine Empfehlung für Anthologien jeglicher Art wiederholt: Möglichst nicht am Stück lesen. Es empfiehlt sich, immer dem einzelnen Text Zeit und Raum zur Wirkung zu geben. Das ist nicht nur fair jedem neuen Text gegenüber, es wird so auch die Gefahr verringert, durch einfachen Überdruß sich um ein Leseerlebnis zu bringen. Die Tiny Tales sind eher ein Buch, das man immer mal wieder an irgendeiner Stelle aufschlagen kann, um dort eine Perle zu entdecken. Das erscheint mir auch etwas angemessener als die thematische Sortierung des Bandes, die Redundanzen nicht gerade verhindert. Womit freilich keine Ausrede geliefert werden soll, auf die Anschaffung der

lieferbaren Ausgabe

zu verzichten.

Einen habe ich noch:

Er blickte in die leeren Mienen der jungen Krieger. Seiner Privatarmee. Das Signal ertönte. Große Pause. Die 5b war jetzt bereit.

(S. 126)


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*aus: Meimberg, Florian: Auf die Länge kommt es an. Fischer Taschenbuch. Frankfurt/Main 2011

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (96)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher

Bei dem bemerkenswerten Projekt „Fünf Bücher“ ist Walter Moers nach heutigem Stand der meist genannter Autor. Das überrascht wenig, gibt es kaum jemanden, der derartig leidenschaftliche Plädoyers fürs Lesen in seine Werke schreibt wie Moers. Das verfängt naturgemäß bei Leuten, die mit Literatur zu tun haben, sehr gut.
»Die Stadt der Träumenden Bücher« ist noch weit mehr als das. Es ist eine Liebeserklärung an die Literatur und das Buch – versteckt in einer atemberaubenden Abenteuergeschichte, gespickt mit skurrilen Figuren, ingeniösem Wortwitz und literaturhistorischen Anspielungen. Ein Plädoyer für die Literatur, das vollkommen unplädoyerhaft geschrieben ist und gerade dadurch um so stärker wirkt.
Kurz: Das Buch ist eine wahre Freude und in meinen Augen das bisher beste, was ich von Moers gelesen habe. Weiterlesen „Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (96)“

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (95)

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jerome David Salinger: Der Fänger im Roggen

„Ein jegliches hat seine Zeit“ (Prediger 8,1). Das gilt im Besonderen für Coming-of-Age-Romane. Zum richtigen Zeitpunkt gelesen, können diese geradezu offenbarische Wirkung haben, vermag der oder die Lesende das eigene Gefühlschaos, die wirren Gedanken, das Unbehagen an der Welt endlich einmal niedergeschrieben, in Worte gefasst sehen. Ein glühendes „Ja, so ist es!“ mag dann hervorgerufen werden. Und nicht selten stehen Menschen anderer Lebensalter dieser Begeisterung verständnislos gegenüber. Oder, was wahrscheinlich noch schlimmer ist, wissend erhaben lächelnd.
Es bedarf also einiges Können und vor allem auch einiges an weitergehender Aussagefähigkeit, um die Grenzen des Genres zu überwinden. Befragt man die glühenden Verehrer Salingers nach dem Alter ihrer Erstlektüre werden denn auch selten Zahlen >20 genannt. Ich selber las ihn denn auch erst kürzlich (ungläubiges Staunen, ein Raunen geht durchs Publikum), hatte ich bisher dem Druck der Peer-Group widerstanden („Wie, Du hast den noch nicht gelesen?“*), wurde mir das Buch tückischerweise von einer mir sehr lieben Freundin geschenkt – und nun ja, da konnte ich ja nicht anders.
Es gibt manchmal Kunstwerke, bei denen man spürt, daß sie verdammt gut sind und trotzdem gelingt es nicht, sie zu mögen. Das Herz will sich nicht öffnen. Mir geht das zum Beispiel bei Bob-Dylan-Songs so, zumindest, wenn sie von Bob Dylan gesungen werden. Ich merke, das sind starke Sachen, aber diese enervierende Stimme regt mich auf. Das ist irgendwie schade, aber zum Glück wurden ja einige Sachen gecovert.
Es ging mir bei der Lektüre des Fänger im Roggen streckenweise ähnlich – irgendwie nerven der schnoddrige Tonfall und die ständigen Jugendfloskeln („und so“) schon ein wenig. Mich zumindest. Gleichzeitig aber machen diese Stilmittel Sinn, gehören geradezu herein. Vielleicht liegt es auch daran, daß Heranwachsende ganz generell auf sich bereits für erwachsen haltende Menschen einfach enervierend wirken. Durch ihre Art, die Welt zu sehen, durch ihre merkwürdige Ausdrucksweise, ihre Gedankensprünge bei gleichzeitigem Hang zur Monothematik (Sex, nur gelegentlich unterbrochen von Gedanken zum Weltfrieden). Dies aber zeichnet Salinger ganz großartig.

Der gute Luce. War das ein Typ. Als ich an der Whooton war, sollte er eigentlich mein Studienberater sein. Aber eigentlich redete er bloß immer über Sex und so, nachts, wenn ein Haufen Typen bei ihm im Zimmer war. Er wusste einiges über Sex, besonders über Perverse und so. Er erzählte uns immer von einer Menge gruseliger Typen, die was mit Schafen haben, und Typen, die sich eine Mädchenunterhose in ihren Hut genäht haben. und Homos und Lesbierinnen. Der gute Luce wusste genau, wer in den Vereinigten Staaten Homo und wer Lesbierin war. Man brauchte nur jemanden – egal wen – zu erwähnen, und der gute Luce sagte einem, ob der ein Homo war oder nicht.

(S. 184)**

Diesen Luce nun trifft er eines Abends in New York wieder. Und dise Anschlußszene ist bemerkenswert:

»He, ich hab ’n Homo für dich«, sagte ich zu ihm. »Am Ende der Bar. Sieh jetzt nicht hin. Den hab ich für dich aufgehoben.«
»Sehr komisch«, sagte er. »Der gute alte Caulfield. Wann wirst du endlich erwachsen?«
Ich langweilte ihn ziemlich. Wirklich. Aber ich fand ihn lustig. Er ghörte zu den Typen, die ich ziemlich lustig finde.
»Was macht dein Sexleben?«, fragte ich ihn. Er konnte es niht ausstehen, wenn man ihn solchen Kram fragte.
»Entspann dich«, sagte er.»Versuch dich einfach mal zu entspannen, Herrgott.«
»Ich bin entspannt.«, sagte ich.»Was macht die Columbia? Gut da?«
»Sicher ist es gut da. Wenn’s da nicht gut wär, dann wäre ich gar nicht hin«, sagte er. Er konnte manchmal auch selber ganz schön langweilig sein.
»Was macht’n als Hauptfach?«, fragte ich ihn.»Perverse?«
»Was soll’n das sein – komisch?«

(S. 185f.)

Ein Dokument des gegenseitigen Unverständnisses. Mir öffneten sich da sofort Assoziationen zu duchaus ähnlichen Szenen. Es ist schon bemerkenswert, wie schnell man einander nicht mehr verstehen kann, wie Szenarien, die vor kurzem noch funktionierten, das auf einmal nicht mehr tun, weil sich die Beteiligten spürbar veränderten. Luce ist nicht mehr der strahlende Alleinunterhalter, der Jüngere mit seinem profunden Geheimwissen beeindrucken möchte – dieser Teil seines Lebens scheint ihm eher peinlich geworden. Und da kommt dann so ein Grünschnabel und konfrontiert ihn mit dem Bild, das er von ihm hat. Mit solchen Szenen hebt sich für mich Salinger über die Grenzen des Coming-of-Age hinaus. Das ist durchaus mehr als nur eine Identifikationsmöglichkeit für junge Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im Leben (obwohl es das natürlich auch und vielleicht sogar vorrangig ist).

Salingers Holden Caulfield, notorischer Kandidat für Schulverweise, weigert sich, die Weltsicht anzunehmen, die ihm von offizeller, erwachsener Seite aufgezwungen werden soll. Er will nicht zu den angepassten, durckmäuserischen, aufschneiderischen Heuchlern gehören, die ihn auf den verschiedenen Privatschulen, die er erleben durfte, begegnen, gehören und die schon genau so sind, wie angepassten, duckmäuserischen, aufschneiderischen Heuchler, als welche sich ihm die Erwachsenen darstellen. Er ist auf der Suche nach Wahrhaftigkeit, nach ernsten, tiefen Gefühlen, nach einem Leben, das sich nicht verstellt, nicht verbiegt (und geht aber trotzdem mit einer hübschen, jedoch hohlen Nuss aus – man hat es nicht leicht***). Und entlarvt dabei all die Hohlheit, die Schauspielerei, die Heuchelei, die wir tagtäglich begehen, weil wir meinen, dies tun zu müssen, weil wir »endlich erwachsen« geworden sind. Diese Notwendigkeit stellt Caulfield radikal in Frage. Er ist enttäuscht von seinem Bruder, der sein schriftstellerisches Talent an hohle Hollywoodfilme verkauft hat, empfindet seine Eltern eher als hohle Gestalten denn als lebendige Menschen und ist beeindruckt von zwei Nonnen, die konsequent ihrer Überzeugung und ihrer Weltsicht folgen.
Holden bleibt in seiner ganzen nervigen Teenagerhaftigkeit, mit der ganzen Gefühlspalette, die von tiefstem Selbstzweifel bis zum Größenwahn reicht, aber eine höchst liebenswerte Figur. Das zeigt sich an vielen Stellen (zum Beispiel in seinem rührend unbedarften, aber integrem Verhalten einer Prostituierten gegenüber), ganz besonders aber in den Szenen, in denen es um seine Schwester geht. Phoebe ist vielleicht eine der rührendsten Gestalten, die mir bisher in meiner Lektüre begegneten. Und so möchte ich schließen mit der Szene, in der denn auch ich meinen Identifikationsmoment mit Holden Caulfield hatte:

Alle Eltern und Mütter und alle liefen zum Karussell und stellten sich unters Dach, damit sie nicht bis auf die Haut nass wurden oder was, aber ich blieb noch eine ganze Weile auf der Bank sitzen. Ich wurde richtig quietschnass, besonders der Kragen und die Hose. Meine Jägermütze gab mir irgendwie eine ganze Menge Schutz, aber trotzdem wurde ich patschnass. Aber das war mir egal. Ich war auf einmal so verdammt glücklich, als die gute Phoebe da immer im Kreis fuhr. Fast hätte ich geheult, so verdammt glücklich war ich, wenn ihr’s genau wissen wollt. Warum, weiß ich nicht. Sie sah einfach nur so verdammt nett aus, wie sie da in ihrem blauen Mantel und so immer im Kreis fuhr. Gott, ich wünschte, ihr hättet auch da sein können.

(S. 268)

Und mit diesem rührenden Moment möchte ich auf die

lieferbaren Ausgaben

verweisen.


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*Wobei sich damit ja auch kokettieren läßt. Immerhin macht solch deviantes Verhalten ja auch interessant…
**zitiert nach: Salinger, J.D.: Der Fänger im Roggen. neu übersetzt von Eike Schönfeld. Rowohlt TB. 12. Aufl. 2010.
***auch dies übrigens eine großartige Szene gegenseitigen Unverständnisses.

Das Buch zum Sonntag (94)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Frank Fischer: Der Louvre in 20 Minuten

Die UNESCO definiert ein Buch als eine nichtperiodische Publikation mit 49 oder mehr Seiten Umfang.
Demnach wäre das heute zu empfehlende Werk kein Buch. Nun ist der Verfasser dieser Zeilen ja hauptberuflich Buchhändler und im Buchhandel gibt es (unter anderem, dies sei der Fairness halber erwähnt) die äußerst pragmatische Definition »Ein Buch ist alles, was eine ISBN hat.«, an welche ich mich denn heute auch einmal halten möchte.


Der Titel von Frank Fischers neuestem Streich ist in doppelter Hinsicht programmatisch. Zum einen beschreibt er das wahnwitzige Projekt der Protagonisten des Werkes, nämlich den Louvre in 20 Minuten – wenn nicht vollständig, so doch erschöpfend – zu durchqueren. Zum anderen dauert die lesende Begleitung der Kunsttouristen auch kaum länger als 20 Minuten. Man befindet sich sozusagen im Gleichklang mit der beschriebenen Handlung – und die rast von Anfang an:

… stürmen wir den Denon-Flügel, überwinden die ersten Stufen, springen die Wendeltreppen hinauf in den Salle du Manège und von da aus sofort weiter in die Galerie Michel-Ange, ziehen dort im Slalom um ein paar Skulpturen herum und halten dann zum ersten Mal. Vor uns steht Michelangelos »Sterbender Sklave« (1513-1516), dessen Körper auf die schönste Weise vom Morgenlicht beschienen wird. Sébastien2000, unser sicher nicht ganz legal arbeitender Hochgeschindigkeitsmusemsführer, erläutert laut und schnell die berühmten Verrenkungen der Figuren.

(S. 3)*

Eine solche Tour de force durch die europäische Kunstgeschichte ist naturgemäß hochselektiv, offenbart dabei aber auf deutliche Weise die Willkür einer jeden Kanonisierung. So mag ich das Buch denn auch nicht wegen seiner profunden Einführung in zentrale Kunstepochen und deren Vertreter empfehlen, sondern eher wegen Fischers Fähigkeit zur Miniatur, zur pointierten Charakterisierung. Das Büchlein ist ein Kaleidoskop glitzernder Perlen, bei deren Betrachtung geradezu kindliche Freude aufkommt. Das trifft nicht nur auf seine Begleiter und im Vorbeiziehen aufscheinende andere Besucher zu, sondern durchaus auch auf seine Beschreibungen, die vor selten verwandten Neologismen keinen Halt machen, wenn sie denn den Punkt treffen:

Die nächsten Kommandos von Sèbastien dirigieren uns in die Helligkeit des Folgesaals, den Salon Carré. Bereits dessen Decke ist üppig zugekunstet, aber wir widmen uns dezidiert einer »Jungfrau mit Kind« von Cimabue (um 1280), während ich hinter mir jemanden sagen höre: »This is just like in the Sistine Chapel.« Was jetzt genau hier in diesem Saal wie dort in der Kapelle sein soll, kann ich nicht heraushören, aber ich muss an Leute denken, die in Zürich sind und sich an London erinnert fühlen oder an Cottbus.

(S. 6)*

Mit diesen wenigen Sätzen entstehen doch gleich ganze Bilder, sowohl von der Einrichtung als auch von den Mitanwesenden…
Und so geht es munter weiter, 20 Minuten lang, bis sowohl Reisegruppe als auch Lesender, je nach Kondition leicht bis mittelmäßig erschöpft, aber doch zufrieden und leicht beglückt, den Louvre-Rundgang beendet haben. Ich würde gerne noch mehr über das Buch plaudern, allein, ich möchte ja nicht spoilern und bei einer Paginierung, die mit der Zahl 19 endet, hat man doch schneller zu viel verraten als es der geneigten Leserschaft lieb sein kann.

Also, holt euch lieber die

lieferbare Ausgabe in Print oder als eBook.

und lest selber.

Wer nicht online bestellen mag, kann das Werk problemlos auch hier erwerben (zum Beispiel, wenn man nächsten Donnerstag ja eh dort ist 😉 ) oder auch, was besonders für die Berliner interessant sein dürfte, an den unglaublich tollen Bücherautomaten.

*zitiert aus: Fischer, Frank: Der Louvre in 20 Minuten. (=Schöner Lesen Nummer 105) SuKuLTuR Berlin 2011