Rebecca Russ: Die erste Frau

Umschlagabbildung zu Rebecca Russ, Die erste Frau

Hannah bricht alle ihre Zelte ab und zieht bei Thomas in seinem großen Haus am Bodensee ein. Sie freut sich auf eine strahlende Zukunft mit Kind und voller Liebe.

Doch schon bald trübt sich alles ein. Sie hat das Gefühl, nicht allein zu sein, sie erhält beunruhigende Nachrichten, Dinge verschwinden oder tauchen auf ohne ihr Zutun. Und die Geschichten über Thomas’ vorherige Frau sind widersprüchlich, er selbst bei diesem Thema zurückweisend.

Es dauert nicht lange und Thomas’ beginnt an ihr und ihrem Geisteszustand zu zweifeln – Hannah selbst ist sich auch nicht sicher, was sie glauben und wem sie trauen soll.

Rebecca Russ’ Psychothriller ist spannend geschrieben und handwerklich ordentlich gearbeitet. Mich überzeugt aber ihre Protagonistin nicht. Ihre Handlungen wirken auf mich eher dem Plot als der inneren Logik der Figur geschuldet und dieser folgt für meinen Geschmack den Genrekonventionen etwas zu sehr.

Als spannende Lektüre zwischendurch, etwa im Urlaub oder am Wochenende ist das freilich absolut passend und empfehlenswert.

Buchdetails:
Rebecca Russ: Die erste Frau. Aufbau Taschenbuch Berlin 2021, 319 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-7466-3781-5, 10 €, als ebook 7,99 €
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Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal

Umschlagabbildung zu Franz Orghandl, Der Katze ist es ganz egal

Leo ist eigentlich Jennifer. Das war schon immer so, aber erst jetzt ist sie dieser Verwechslung auf die Spur gekommen. Die Katze nimmt das ungerührt zur Kenntnis. Bei den Menschen sieht das etwas anders aus.

Während ihre Freund:innen und Klassenkamerad:innen das sehr schnell verstehen, scheinen die Erwachsenen eine etwas längere Leitung zu haben.

Franz Orghandls Kinderbuch ist eine herrlich leichte, humorvolle Geschichte, die es schafft, völlig ohne große Dramen und Problematisierungen auszukommen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie Kinder abholt, weil sie konsequent aus Jennifers Perspektive schreibt – und aus Jennifers Perspektive ist ja jetzt endlich alles normal und so wie es sein soll.

Was mich besonders mitgenommen hat, sind ihre glaubwürdigen Charaktere. Gerade die Erwachsenen, für die das alles nicht so einfach ist, sind keineswegs böse oder dumm – sondern kämpfen mit ihren widerstrebenden Gefühlen, deren Grundlage ja aber doch die Zuneigung zu Jennifer ist. Es ist ihre Sorge vor Zurückweisung, ihre Angst, dem geliebten Menschen könnten negative Erfahrungen drohen, die sie zögern lässt, die für sie neue Realität zu akzeptieren.

Diese tiefgehende Warmherzigkeit als Grundton macht dieses Kinderbuch zu etwas ganz Besonderem – denn so kommt es ganz ohne Belehrungen, Moralisierungen und Bedeutungsschwere aus. Es ist einfach alles ganz normal.

Buchdetails:
Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal. Mit Bildern von Theresa Strozyk. Klett Kinderbuch Leipzig 2020. 104 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-95470-231-2, 13 €
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John Le Carré: Silverview

Umschlagabbildung zu John Le Carré Silverview

Julian möchte nicht mehr in der Londoner City das große Geld machen und steigt aus dem Businesstrubel aus. Was könnte dafür geeigneter sein als eine Buchhandlung in einer englischen Kleinstadt?

Dort begegnet er einem freundlichen älteren Herrn, der ihn um einen kleinen Gefallen bittet. Das ist der Auftakt zu einer Reihe regelmäßiger Besuche mit kleinen Geschichten, Wissenshäppchen über Julians Familie und immer mal wieder einer kleinen Gefälligkeit. Aber schließlich ist der Herr auch ungemein nett und von ausgezeichneter Höflichkeit und Zurückhaltung, Aber damit gerät Julian in eine Angelegenheit größeren Ausmaßes, gegen die der Stress der Londoner Businesswelt geradezu erholsam scheint.

Denn natürlich ist hier nichts wie es scheint, der ältere Herr alles andere als ein harmloser Sammler, sein Heim namens »Silverview« keineswegs einfach nur ein altes Anwesen und seine eingeforderten Gefallen nicht annähernd so klein wie Julian meint.

John Le Carré schreibt hier einen in jeder Hinsicht klassischen Agentenroman, mit der leichten Hand eines Könners seines Faches. Mit Agenten, die zwischen den Loyalitäten geliebten Menschen und auftraggebenden Diensten jonglieren und ihr Wissen über Funktions- und Denkweisen einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Und die müssen nicht immer völlig deckungsgleich mit denen ihrer Auftraggeber sein. Mir hat es eine große Freude gemacht, ihm beim Zelebrieren zuzuschauen, seine Figuren sind überzeugend und sehr sympathisch – ein gelungener Fall.

Buchdetails:
John Le Carré: Silverview [OT Silverview], übersetzt von Peter Torberg, Ullstein Verlag 2021, 251 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-550-20206-3, 24 €, als ebook 19,99 €
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Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben

Umschlagabbildung zu Carolin Kebekus, Es kann nur eine geben

Mit Carolin Kebekus bin ich sehr lange nicht so recht warm geworden. Wie bei vielen Comedians, die ihr Handwerk im Karneval-Kontext erlernt und erprobt haben, war mir das lange Zeit zu krawallig, zu platt, zu sehr schenkelklopfend (auch wenn ich hier mal selbstkritisch überprüfen muss, ob mich das bei ihr nicht besonders gestört hat, weil sie eine Frau ist – ich kann das nicht abschließend beurteilen, weil es extrem schwierig ist, sich in sein früheres Ich hineinzuversetzen, aber insbesondere nach der Lektüre dieses Buch muss ich das für wahrscheinlich halten).

Das hat sich in den letzten Jahren geändert, dennoch war ich skeptisch. Allerdings völlig zu Unrecht. Sie legt hier einen Grundkurs zu den drängendsten gesellschaftlichen Fragen aus feministischer Perspektive hin, der keine Themen scheut, Probleme klar benennt und dabei erstaunlich locker bleibt. Das ist eine große Kunst und Carolin Kebekus beherrscht sie meisterhaft. Immer wieder im Fokus steht dabei der Slogan »Die eine, die Schönste, die Beste, die Auserwählte.«

Es ist Augen öffnend, wie sie immer wieder zeigt, an wie vielen Stellen und mit wie vielen Mitteln und Methoden wir gesellschaftlich dafür sorgen, dass Frauen sich nicht nur permanent gegenseitig behindern, sondern das auch noch wollen. Wie sie dazu gebracht werden, es völlig normal und natürlich zu finden, dass es eben nur »die Eine« geben könne. Wie dazu schon unsere Urmythen, unsere Kindheitshelden, unsere Jugendidole, unsere Eltern beitragen.

Für mich ist das eine der großen Stärken dieses Buches, aufzuzeigen, wie viel möglich wäre, würden Frauen sich verbünden, Netzwerke schaffen, sich gegenseitig stärken und stützen – genau so wie Männer das ganz selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert auch tun.

Und: Carolin Kebekus zeichnet ihren eigenen Erkenntnisweg nach, beschreibt, wie sie selbst erst gelernt hat, bestimmte Dinge zu sehen, wie sie heute Dinge anders handhabt als sie das noch vor wenigen Jahren getan hat. Das führt zu einer Haltung, die die Hand reicht, die mitnimmt, die einlädt. Und damit vielleicht in der Lage ist, Menschen mitzunehmen, die sich von Appellen nicht angesprochen fühlen.

Mich hat sie auf jeden Fall erreicht und ich habe vieles zu sehen gelernt, das mir vorher nicht so klar war.

Buchdetails:
Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben. Mit einem Kapitel von Mariella Tripke. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021. 352 Seiten, Paperback. ISBN 978-3-462-00174-7, 18 €, als ebook 14,99 €
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Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht

Umschlagabbildung zu Alina Bronsky, Barbara stirbt nicht

Herr Schmidt kommt gut zurecht im Leben. Alles geht seinen ordentlichen Gang, seine Welt als Wille und Vorstellung ist in Ordnung. Bis eines Tages seine Frau Barbara nicht mehr aufsteht.

Plötzlich ist Herr Schmidt mit Fragen und Problemen konfrontiert, denen er sich zuvor nicht stellen musste. Essen kochen, Wohnung reinigen, Einkaufen, soziale Kontakte pflegen…

Nach anfänglichem Scheitern an diesen Hürden widmet er sich mit einem unerschütterlichen Glauben an seine Lernfähigkeit und einer beeindruckenden Fähigkeit, unbeirrbar alles zu ignorieren, was ihm unverständlich und unnötig vorkommt, den neuen Herausforderungen seines Alltags.

Alina Bronsky schafft hier einen Helden, dessen Verhalten auf andere brüsk, zurückweisend, unempathisch wirken muss. Er ist völlig unempfänglich für Zwischentöne einer Kommunikation – sei es mit seinen Kindern, Nachbar:innen oder Ärzt:innen, die sich um Barbara sorgen, nach ihr erkundigen, gemeinsame Aktivitäten oder Besuche vorschlagen. Er hat diese Art Gespräche zuvor nie geführt, kennt ihre Regeln nicht. Und genau so, wie er nicht versteht, wird er auch nicht verstanden. Denn Herr Schmidt ist weder lieblos noch unempathisch. Das wurde mir zumindest beispielsweise sehr deutlich, als er mit großer Akribie versucht, Barbaras Lieblingsgericht in Perfektion zuzubereiten. Da ist eine große Menge Liebe in diesem Menschen, er hat es nur nie gelernt, diese auch nur annähernd adäquat zu äußern. Oder sie bei anderen wahrzunehmen.

Es steckt sehr viel Tragik in dieser Figur, in seiner beharrlichen Weigerung, Barbaras Zustand zu akzeptieren, darin, wie er sich immer weiter in die Perfektionierung der Essensversorgung steigert, je schlechter es Barbara geht. Seinen Glaubenssatz, sie müsse nur wieder ordentlich essen, dann ginge es ihr wieder besser und sie stünde wieder auf, hält er immer verzweifelter aufrecht – ohne sich selbst freilich seine Verzweiflung einzugestehen.

Dadurch entstehen naturgemäß hochgradig absurde Szenen, die dadurch sehr komisch wirken können. Beispielsweise, wenn er Facebook-Kommentare nicht nur wortwörtlich nimmt, sondern sich auch noch die Mühe macht, auf jeden einzelnen zu antworten. Da entstehen großartige Gesprächsfäden, die durchaus ein Kapitel in Lehrbüchern über gescheiterte Kommunikation verdienen. Aber mir blieb trotz allem häufig das Lachen im Hals stecken, weil ich gleichzeitig Herrn Schmidts Leiden gesehen habe – und das Leid, das er ungewollt über andere bringt.

Buchdetails:
Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021, 256 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-462-00072-6, 20 €, als ebook 14,99 €
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Kira Jarmysch: DAFUQ

Umschlagabbildung zu Kira Jarmysch, Dafuq

Anja wird zu 10 Tagen Arrest verurteilt. Sie hatte einen Aufruf für eine Anti-Korruptionsdemo geteilt. Einen Großteil des Arrests verbringt sie mit fünf anderen Frauen in einer Zelle.

Dass Anja, ehemals Kandidatin für die Arbeit im Außenministerium, noch immer an ein funktionierendes Rechtssystem glaubt, zeigt sich bereits zeitig, als sie tatsächlich meint, mit einer Beschwerde gegen das Urteil etwas erreichen zu können. Stattdessen lernt sie in den zehn Tagen ihrer Arrestzeit, wie sehr sie der Willkür der Machthabenden ausgesetzt ist – und sei es nur die Macht über die Suppenkelle, mit der bestimmt wird, wessen Portion wie groß ist.

Kira Jarmysch zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, in der alle versuchen, sich irgendwie zu arrangieren. Nichts stößt auf so viel Unverständnis wie Anjas Engagement gegen Korruption, überhaupt ihr Eintreten für politische Veränderungen. In ihrer Schicksalsergebenheit, ihrem Glauben daran, sowieso nichts ändern zu können, erinnern ihre Protagonist:innen an zahlreiche Vorbilder in der russischen Literatur.

Es ist faszinierend, wie alle ihre eigenen Erfahrungen mit Ungerechtigkeiten, Ausnutzung, Gewalt, Übergriffen, Diskriminierung machen – und die Idee des Aufbegehrens aber nicht aufkommt. Stattdessen finden Anjas Zellengenossinen ihre eigenen Wege, mit der gegebenen Welt umzugehen und ihre Vorteile zu finden.

Die Gespräche der Frauen miteinander sind – bei aller Rauheit im Ton – geprägt von Verständnis und im engen Rahmen, den der Arrest bietet, unterstützen sie sich gegenseitig, decken sich, schlagen den Wächtern Schnippchen oder manipulieren sie oder Mithäftlinge zu ihren Gunsten.

Kira Jarmysch schafft es dabei, ihre Heldinnen mit all ihren Eigenheiten und Schwierigkeiten, manchmal auch Abgründen, sympathisch und lebendig zu zeichnen.

Mir wurde sehr deutlich, warum es keine wirksame, öffentlich sichtbare Widerstandsbewegung gibt: Viele Menschen sind schlicht damit beschäftigt, irgendwie durch ihr Leben durchzukommen – auffallen ist dann gefährlich.

Es dürfte schwer fallen, diesen Roman zu lesen ohne die Biographie der Autorin zur Kenntnis zu nehmen. Aber es lohnt sich.

Buchdetails:
Kira Jarmysch: DAFUQ [OT Невероятные происшествия в женской камере № 3], übersetzt von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin 2021, 412 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-7371-0140-0, 22 €, als ebook 14,99 €
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Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer

Umschlagabbildung zu Anne Bandel, Von oben fällt man tiefer

Theophil Kornmeier hat ein unverarbeitetes Trauma: Sein Bruder stürzte bei einer Alpenwanderung vor seinen Augen ab und starb. Irgendwo zwischen Überlebensschuld und der nagenden Frage, ob er nicht vielleicht doch selbst – bewusst, unbewusst? – Schuld daran war, irrlichtert sein Geist unruhig hin und her. Und so versucht er nun in einem letzten Therapie-Versuch, dadurch Ruhe zu finden, dass er den Wanderweg E5 durch die Alpen entlangwandert. Einige Stücke alleine, einen großen Teil des Weges aber in Begleitung einer Wandergruppe.

In grandioser Selbstüberschätzung macht er sich also – weitgehend untrainiert und nur unzureichend vorbereitet (was soll an Wandern schon schwierig sein?) auf den Weg zur Erlösung.

Um mit anderen Menschen viel Zeit zu verbringen und gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen, könnte es hilfreich sein, die Anwesenheit anderer Menschen nicht als Zumutung zu empfinden. Das wird auch Anne Bandels Protagonisten sehr schnell klar. Dass alle Mitglieder der Wandergruppe ihre ganz eigenen Probleme haben und diese mittels einer Alpenwanderung zu lösen gedenken, sorgt für eine turbulente Wanderung, bei der neben etlichen zwischenmenschlichen Missverständnissen und Irrungen Tag für Tag auch noch die Anzahl der Gruppenmitglieder dezimiert wird.

Anne Bandel nimmt in ihrem Wander-Krimi etliche menschliche Schwächen aufs Korn und ihre satirische Überzeichnung der Figuren hat einen erheblichen Reiz. Eine besonders hübsche Idee finde ich dabei, die Wandergruppe unverdrossen weiterwandern zu lassen, obwohl doch offenkundig ist, dass ein Mörder mitläuft. Der ganze Roman ist tatsächlich recht unterhaltsam, fordert nicht zu sehr heraus – und bei all den Sticheleien und Fiesheiten, die sich die Protagonist:innen gegenseitig antun, bleibt die Frage nach dem Mörder tatsächlich eher nebensächlich. Spannender ist da schon eher, wie sich die einzelnen Figuren von ihren inneren Fesseln und Illusionen befreien und so zumindest für die Überlebenden sich ganz neue Perspektiven eröffnen. Ein unterhaltsamer Roman im besten Sinne.

Buchdetails:
Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer. dtv München 2022, 272 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-423-21992-1, 10,95 € als ebook 4,99 €
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Franziska Schreiber: Inside AfD

Umschlagabbildung zu Inside AfD von Franziska Schreiber

Franziska Schreiber will aufklären. Über die AfD, ihre Gefährlichkeit und ihre »wahren« Ziele. Leitlinie ist dabei ihr eigener Weg, den sie nachzeichnet.

Im Laufe der Jahre haben viele Menschen der AfD den Rücken gekehrt, darunter zahlreiche Amtsträger – tatsächlich nahezu alle ehemaligen Vorsitzenden. Zu ihnen gehört auch Franzsika Schreiber.

Wie viele andere vor und nach ihr, macht sie eine »zunehmende Radikalisierung« der Partei für ihren Schritt verantwortlich. Nun mag es von außen schwer vorstellbar sein, wie es möglich sein soll, in diese Partei einzutreten und in ihr Karriere zu machen und das Offensichtliche nicht zu sehen – aber es wäre andererseits fatal, Menschen dafür zu verdammen, dass sie mit Idealen in die Politik gehen und sich in einer Partei engagieren wollen. Dabei kann man sich irren und dabei kann man auch Illusionen unterliegen. Umso ehrenwerter, wenn sich jemand zu seinen Fehlern bekennt und die eigenen Erfahrungen öffentlich macht, um anderen vergleichbare Irrtümer zu ersparen.

Nur: Das macht Franziska Schreiber in ihrem Buch nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Apologetik in eigener und Frauke Petrys Sache. Statt einer Analyse der eigenen Fehleinschätzung erzählt Schreiber das Märchen einer Radikalisierung weiter, bei der böse Kräfte das eigentlich gute Projekt verderben würden. Dass die AfD im Kern und von Anfang an ein nationalistisches, rassistisches Projekt war, dass auch und gerade Frauke Petry alles andere als eine verkannte Liberale ist, die zum Opfer radikaler Kräfte wurde – dazu kommt sehr wenig. Ihre Berichte aus den internen Zirkeln mögen Boulevard-Wert haben, der politische Erkenntniswert ist freilich gering.

Buchdetails:
Franziska Schreiber: Inside AfD. Europa Verlag München 2018. 224 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-95890-203-9, 18 € als ebook 12,99
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Emi Yagi: Frau Shibatas geniale Idee

Umschlagabbildung von Frau Shibatas geniale Idee von Emi Yagi

Frau Shibata, 34, Angestelle in einer Tokyoter Firma, ist stillschweigend und unausgesprochen dafür zuständig, dass der Kaffee frisch, die Blumen ansehnlich und die Geburtstage der Angestellten unvergessen sind. Dafür ist sie zwar gar nicht angestellt worden, aber schließlich ist sie ja die Frau hier.

Die Ignoranz ihren Fähigkeiten und Leistungen gegenüber will sie eines Tages nicht mehr hinnehmen. Sie verfällt eines Tages auf den Gedanken, eine Schwangerschaft zu behaupten. Und plötzlich wird sie sehr zuvorkommend behandelt, all die ungeliebten Tätigkeiten kann sie von sich weisen – und das wird sehr verständnisvoll aufgenommen. Ohne die angebliche Schwangerschaft wohl kaum denkbar.

Sie besorgt sich eine Schwangerschafts-App, besucht eine Schwangerschaftsgruppe und durchlebt so tatsächlich die Schwangerschaftszeit mit allen bekannten Symptomen.

Emi Yagi beschreibt Frau Shibatas Weg so genau und überzeugend, dass mir während der Lektüre Zweifel kamen, ob die Schwangerschaft wirklich nur vorgetäuscht ist – insbesondere zum unweigerlich ja bevorstehenden »Tag der Wahrheit« hin, wurde ich immer unsicherer, so sehr geht Frau Shibata in ihrer Rolle auf, so intensiv erlebt sie die Zeit mit den anderen Schwangeren, beschreibt sie körperliche und psychische Veränderungen, macht sie sich Gedanken über die Zeit mit dem Kind.

Auf herrlich unverkrampfte Art entlarvt Emi Yagi zutiefst verankerte patriarchale und misogyne Denk- und Lebensstrukturen der (japanischen) Gesellschaft, die nicht nur die Männer prägen. Es macht sehr viel Spaß, Frau Shibata bei der Verwirklichung ihrer »genialen Idee« zu begleiten.

Buchdetails:
Emi Yagi: Frau Shibatas geniale Idee [OT Kūshin techō], übersetzt von Luise Steggewentz. Atlantik Verlag Hamburg 2021, 204 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-455-01259-0, 21 €, als ebook 14,99 €
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Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Umschlagabbildung von Zukunftsmusik von Katarina Poladjan

Chopins Trauermarsch tönt aus den Radios an diesem Tag im März 1985. Die Symbolik ist den Protagonist:innen dieses Romans vertraut – in Moskau ist wohl mal wieder jemand gestorben. Wahrscheinlich ein Generalsekretär, aber so ganz sicher ist man sich da nicht. Über allen und allem schwebt denn auch die mehrfach ausgesprochene Frage, was denn nun wohl werden werde.

Die Kommunalka im fernen Sibirien (Moskau ist weit…) und hier insbesondere die Vier-Generationen-WG aus Janka, ihrer Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter dienen Katerina Poladjan als Brennglas für ein Gesellschaftsportrait. Für das Portrait einer Gesellschaft, deren Regeln schon lange hohl geworden sind, die zwar scheinbar noch wirken und gelten, deren Sinnhaftigkeit aber selbst von ihren Verfechtern nicht mehr verteidigt wird. Es ist nur ein Tag im Leben dieser Menschen, den wir begleiten, der aber umso dichter wird, je mehr Katerina Poladjan den Blick nach innen öffnet, in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Protagonist:innen, in ihre Vergangenheit und ihre Sehnsüchte.

Mich hat besonders ihre Sprache eingenommen, die Präzision, mit der sie Erlebnisse und Eindrücke beschreibt, die sie auch in diffusen, scheinbar magischen Momenten nicht verlässt. Es ist ihre Genauigkeit, die nachfühlen lässt, wie sich eine Zeitenwende anfühlt, von der keine:r weiß, dass sie eine Zeitenwende ist. Mich hat es sehr begeistert, wie sie sie für jede Figur eine eigene Sprache findet und sie so lebendig werden lässt. Großartig.

Buchdetails:
Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. S. Fischer Frankfurt am Main 2022, 185 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-10-397102-6, 22 €, als ebook 18,99 €
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