C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold

Umschlagabbildung von Wie viel von diesen Hügeln ist Gold von C Pham Zhang

Lucy und Sam sind unterwegs durch die Prärie gen Westen. Mit dabei haben sie eine alte Kiste mit dem Leichnam ihres Vaters, den sie begraben wollen – doch dafür fehlen ihnen zwei Silberdollars.

C Pam Zhang erzählt die Geschichte des Geschwisterpaars als Reise durch ein Land, in dem Vertrauen gefährlich ist und die Liebe sich versteckt. Das wäre noch nicht sehr bemerkenswert, solche Erzählungen aus dem »Wilden Westen« sind Legion.

Doch diese vordergründige Erzählung ist nur die Folie, vor der sie ein ganzes Panorama an Geschichten öffnet, Geschichten um skrupellose Geschäftsleute, die die Träume und Sehnsüchte von Einwanderern ausnutzen. Geschichten von degradierten Menschen, die bestenfalls als Material betrachtet werden und im Zweifelsfall als Sündenböcke für gescheiterte Lebensentwürfe herhalten müssen. Geschichten von zerbrochenen Identitäten, von familiärer Gewalt, von Verzweiflung, Depression und der unstillbaren Sehnsucht danach, einen Platz in dieser Welt zu finden und sei es unter Verleugnung der eigenen Herkunft und Biographie.

Sie erzählt in einer mitreißenden, sprachmächtigen Intensität, die einen Sog erzeugt, dem ich mich gerne hingegeben habe. C Pam Zhang Protagonist:innen bleiben alle nicht frei von Schuld, manche begehen schreckliche Taten und doch gelingt es ihr, sie in ihrer Komplexität und ihrer Geworfenheit in eine Welt, die ihnen überall mit Ablehnung und Hinterlist begegnet, so zu zeichnen, dass es mir unmöglich war, nicht mit ihnen zu fühlen, nicht zu verstehen, was sie antreibt.

Buchdetails:
C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold [OT: How Much of These Hills is Gold], übersetzt von Eva Regul. S. Fischer Frankfurt am Main 2021, 347 Seiten, gebunden. 22 €, als ebook 14,99 €
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bell hooks: Alles über Liebe

Umschlagabbildung von über liebe von bell hooks

»Today we lost a titan.« schrieb Amanda Gorman, als die Nachricht vom Tode bell hooks bekannt wurde. Und sie hat damit nicht übertrieben.

Den letzten Anstoß zur Lektüre hatte mir Şeyda Kurt gegeben, die sich in »Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist« unter anderem auch ausgiebig auf bell hooks bezieht. Das hatte mich neugierig gemacht und so kam mir diese neue Übersetzung von Heike Schlatterer gerade recht.

bell hooks gelingt hier eine beeindruckend scharfsinnige Analyse des Zusammenwirkens gesellschaftlicher Vorstellungen, Strukturen und Interessen auf und mit persönlichen Entscheidungen, Ideen und Beziehungen. Sie zeigt, wie patriarchale, kolonialistische und rassistische Strukturen unser aller Leben durchziehen und prägen. Dies gelingt ihr ganz besodners eindrücklich durch ihre besondere Art, ihr eigenes Leben, ihre eigenen biographischen Prägungen mit gesellschaftlicher Analyse so zu verweben, dass ich das Gefühl hatte, plötzlich ganz klar und leuchtend Erkenntnisse vor mir zu sehen, die ich vorher gar nicht oder zumindest nicht in dieser Klarheit zu haben. Ihr sprachliches, schriftstellerisches Talent ist beeindruckend, umso beeindruckender, da es kein Jota an ihrer analytischen Brillanz verringert.

Am stärksten beeindruckt hat mich in diesem Werk ihre Wärme, ihre Zugewandtheit zur Welt, eine tiefe Liebe zur Menschheit und ihren Möglichkeiten, die ihr ganzes Denken zu durchziehen scheint. Ihr Plädoyer für den Kampf gegen Diskriminierung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit ist entschieden und deutlich. Und genauso entschieden und deutlich ist es ein Plädoyer für Warmherzigkeit, dafür, dass nur die Liebe, nur das Bestreben dafür, nicht allein selbst zu wachsen, sondern dafür zu sorgen, dass andere wachsen können, diese Welt verbessern kann. Ich habe noch kein Buch erlebt, dass so stark für Spiritualität eintritt und dennoch völlig frei von jeglicher Esoterik ist. Ich bin nachhaltig beeindruckt und werde mit Sicherheit noch viele Jahre von diesem Erlebnis zehren und neue Aspekte entdecken, die ich jetzt noch nicht sehe.

Wie konnte ich bisher nur durchs Leben gehen ohne bell hooks zu lesen? I know, I’m late to the party, aber wenn es da draußen noch Menschen geben sollte, die noch ohne diese Lektüreerfahrung leben: Ändern Sie das, lesen Sie bell hooks!

Buchdaten:
bell hooks: Alles über Liebe – Neue Sichtweisen [OT: All About Love: New Visions], übersetzt von Heike Schlatterer. HarperCollins Hamburg 2021, 304 Seiten, gebunden. 20 €, als ebook 16,99 €
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Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub

Umschlagabbildung zu Richard Osman, Der Donnerstagsmordclub

Ältere Menschen, die für die Polizei wesentliche Ermittlungsarbeit übernehmen, so dass die nur noch verhaften müssen. Das Muster ist nun wahrlich nicht neu und seit Agatha Christie wurde es ausgiebig durchexerziert.


Um damit zu punkten, braucht es originelle Ideen. Und die hat Richard Osman ohne Zweifel mit seinen Protagonistʔinnen gefunden. Dieser unverfrorenen, ideenreichen und entwaffnend charmanten Rentnerbande, die ihre im Laufe ihres langen Lebens gewonnenen Erfahrungen und Netzwerke so geschickt einsetzen, ohne die Polizei zu düpieren oder als Trottel dastehen zu lassen und trotzdem immer wieder wie Puppenspieler:innen alle anderen tanzen lassen bin ich sehr gerne gefolgt.

Wie es sich für einen Krimi dieser Gattung gehört, besteht das Hauptvergnügen in der Interaktion der Personen und die Frage, wer es denn nun eigentlich war, ist nicht ganz egal, läuft aber eher so mit. So füllt Osman ein altes Muster mit neuem Leben, das macht wirklich Spaß.

Buchdetails:
Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub [OT The Thursday Murder Club], übersetzt von Sabine Roth, List Verlag München 2021, 458 Seiten, Paperback, 15,99 €, als ebook 12,99 €
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If you love someone…

Tucholsky Gruß nach vorn Cover Hörbuch von Steffen Ille

Der 3. Oktober ist, das ist allgemein bekannt, der Tag der Südharzreise. Landauf, landab treffen sich hunderte, ach was, tausende Menschen zu Lesekreisen, um rituelle Lesungen ihrer Lieblingskapitel aus dem grandiosen Reisebericht vorzunehmen.

Es ist ein bezauberndes Schauspiel.

Auf den Tag genau seit vier Jahren steht denn auch das zugehörige Hörbuch unter der Lizenz CC by-nc-sa 4.0 und ist damit frei zur nichtkommerziellen Nutzung.

Dies inspirierte mich nun, auch den heutigen 3. Oktober der alten Weisheit »If you love somebody set them free« zu widmen und das bereits vor sieben Jahren veröffentlichte Tucholsky-Hörbuch »Gruß nach vorn« ebenfalls archive.org anzuvertrauen und zur freien Verfügung zu stellen.

Ich wünsche also viel Vergnügen mit dem Hausheiligen dieses Blogs und freue mich auf spannende Projekte, die mit diesen Aufnahmen vielleicht entstehen mögen.

Der Tag, an dem Marianne Fredriksson meine Prinzipien zerstörte

Bei einem der zunehmend sporadischer werdenden Besuchen (»zunehmend sporadisch«? Mhm.) in meiner Twitter-Timeline spülte mir der Algorithmus diese Frage vor die Augen:

Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Sie ist vor allem deshalb sehr schwer zu beantworten, weil sich die Frage nach der Langeweile durchaus nach der Lesebiographie richtet. Die Binsenweisheit »Leseerfahrungen sind immer individuell.« bezieht sich nämlich durchaus auch auf die eigene Biographie, wie ich bei einer Neulektüre – bzw. beim Versuch derselben – von Karl May schmerzlich feststellen musste. Was für ein grauenhaft langatmiges, moralinsaures Zeug: Und das habe ich mal mit Begeisterung gelesen, ach was, verschlungen.

Will sagen: Es dürfte in meiner Lesebiographie noch etliche Bücher geben, an die ich wunderbare Erinnerungen knüpfe, die ich heute aber wohl grauenhaft langweilig fände. Die herauszufinden bedürfte jedoch eines erheblichen Aufwandes, ich müsste ja meine Lesebiographie wiederholen und ehe ich damit durch wäre, wäre aufgrund der verstrichenen Zeitspanne und der hinzugekommenen Leseerfahrungen eine erneute Lektüre nötig etc. ad infinitum.

Wahrscheinlich war die Frage so aber auch gar nicht gemeint, sondern bezieht sich auf bereits bei der Erstlektüre empfundene Langeweile. Selbst diese Frage ist gar nicht mal so trivial wie sie auf den ersten Blick scheint (wie entscheidet man denn, welches Buch langweiliger war? Gibt es da einen offiziellen Kriterienkatalog? Erstellt man da ein Punktesystem? »Meine Sorgen möchte ich haben.«) und doch gibt es für mich eine klare Antwort:

Marianne Fredriksson, Hannas Töchter.

Marianne Fredriksson gehörte zu den Überflieger-Bestsellerautorinnen der späten Neunziger Jahre und wurde von unglaublich vielen Menschen gelesen. Ganz eng lassen sich die Zielgruppen dementsprechend nicht fassen, aber: Männer Anfang 20 gehörten eher nicht dazu. Ich war allerdings ein Mann Anfang 20, vor allem jedoch noch recht frisch in dem Betätigungsfeld, das tatsächlich mein Beruf werden sollte. Frisch das Studium abgebrochen, gerade die erste Vollzeitstelle im Buchhandel angenommen, war ich hochmotiviert nun mir alles anzueignen, was wichtig sein könnte.

Vor allem jedoch glaubte ich, man müsse als Buchhändler doch alles lesen, was man verkaufen will. Immerhin: Das Buch wurde derartig oft und offenkundig begeistert gelesen: Da musste doch was dran sein.
Und ich brachte das eherne Prinzip mit, kein Buch vor dem Ende abzubrechen. Beides gilt seit »Hannas Töchter« für mich nicht mehr.

Ich habe mich durch dieses Buch gequält, zum ersten Mal bewusst empfindend, was es bedeutet nicht Zielgruppe zu sein. Und ich muss sagen: Es hat sich nicht gelohnt. Weder persönlich noch beruflich. Für keine Sphäre brachte die durchgehaltene Lektüre eine Erkenntnis, die sich nicht bereits nach wenigen Seiten eingestellt hätte. Seitdem beende ich Bücher, wenn ich das Gefühl habe, unnötig Lebenszeit zu verlieren und lasse mir meine Lektüre nicht mehr von der Bestsellerliste diktieren. Im Ergebnis bleibt die bittere Erkenntnis: »Hannas Töchter« hat mein Leseverhalten beeinflusst wie kein anderes Buch. Es schmerzt, diese Zeilen zu schreiben.

Zum Schluss noch ein Exkurs:

Ich glaube andererseits aber, dass beide Prinzipien richtig sind, es gibt nur einfach einen Punkt, an dem man sich davon verabschieden sollte. Es ist vielleicht eine Art des Erwachsenwerdens. Zum einen der berufliche Aspekt: Wer in den Buchhandel einsteigt, zumal noch als tatsächlich junger Azubi, sollte sich tatsächlich auch zu Genreliteratur zwingen. Es ist wichtig, mal gelesen und verstanden zu haben, wie verschiedene Arten von Literatur funktionieren (und das meine ich wirklich so: Die Masse der verkauften Bücher sind Produktionen und nicht der Audruck des Weltschmerzes gequälter Künstlerseelen). Das ist wichtig, um vernünftig beraten zu können. Hat man das aber gelernt, ist es Zeit sich davon frei zu machen und seine Zeit für die Bücher zu verwenden, die tatsächlich gelesen werden müssen, um sie empfehlen zu können.
Zum anderen der persönliche Aspekt: Mein bevorzugtes Beispiel aus der eigenen Lesebiographie ist da  Der Name der Rose: Es lohnt sich, durchzuhalten. Das Fundament, das Eco baut, ist wichtig, um nachher in den vollen Genuss zu kommen. Man muss das nicht ein Leben lang goutieren, aber die Erfahrung, dass es lohnenswert sein kann, auch mal langweilig scheinende Passagen zu akzeptieren und durchzuhalten, halte ich für wichtig. Wichtig deshalb, weil meiner Meinung nach diese Fähigkeit eine Hilfe ist, wenn es darum gehen soll in Lektüre mehr zu sehen als eine nette Unterhaltungstätigkeit. Dann kann es hilfreich sein, dem Autor, der Autorin gegenüber gnädig zu sein und das Buch nicht bei der ersten Passage, die nicht mehr mitreißt, gelangweilt in die Ecke zu hauen. Man könnte was verpassen. Ich glaube freilich, dass dies eine Frage der Erfahrung ist: Irgendwann ist man in der Lage zu erkennen, ob der Autor, ob die Autorin noch mit Überraschungen aufwarten kann (sei es in der Handlung, sei es stilistisch) oder nicht. Aber bis dahin finde ich es einen schönen Anspruch, einem Buch immer noch eine Chance zu geben. Man weiß ja nie…

P.S. Meinem Exkurs folgend, würde das bedeuten, dass Marianne Fredriksson mich zu einem erwachsenen Leser gemacht hat. Das ist ja noch gruseliger. Das wollen wir mal ganz schnell vergessen.

Das Buch zum Sonntag (81)

Cover von Prokop: Wer stiehlt schon Unterschenkel?

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Gert Prokop: Wer stiehlt schon Unterschenkel?

Diese Woche gibt es mal wieder etwas entspannende Lektüre, denn die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, läßt Prokop weitgehend unbeantwortet.
Im Mittelpunkt der Erzählungen steht der Privatdetektiv Timothy Truckle, der in den USA der Zukunft lebt. Eine der interessanten Ideen bei Prokops Zukunftsentwurf scheint mir dabei zu sein, daß es der Welt irgendwann einfach mal reicht und sie bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts die USA unter einer riesigen Käseglocke verschwinden läßt. Es gibt also zwei Welten, die isolierten USA und DRAUSSEN. Natürlich spielt bei Prokops dystopischer Zukunftsvision, in der Gods own Country ohne Hilfe von außen gar nicht mehr lebensfähig wäre (was jetzt nicht heißt, daß man sich um sie kümmern würde – man läßt sie halt leben) und sich zudem die Bürger im festen Würgegriff von alleswissenden und alleskontrollierenden Staats- und Wirtschaftsinstitutionen befinden, unbedingt eine bestimmte Weltsicht mit. Und natürlich laufen Science-Fiction-Geschichten immer Gefahr, von der Realität überholt zu werden und damit merkwürdig angestaubt oder gar lächerlich zu wirken. Das gilt sicherlich, soweit wir utopische Literatur als konkrete Prophezeiung auffassen. Doch genauso wenig wie Khan Noonien Singh lächerlich wurde, als klar wurde, daß das mit den eugenischen Kriegen bs 1996 wohl nix mehr werden würde, oder Jules Vernes Mondreise weniger faszinierend, nachdem sich herausstellte, daß Schießbaumwolle wohl nicht der entscheidende Treibstoff würde, wird Timothy Truckle zu einer abwegigen Figur, nur weil sich die Weltpolitik seit 1978 in andere Richtungen entwickelte.
Überhaupt gilt für Science-Fiction ähnliches wie zu einem anderen Genre:

Jeder historische Roman vermittelt ein ausgezeichnetes Bild von der Epoche des Verfassers.

*

Das Verlegen einer Handlung in andere Welten und Zeiten ist ein probates Mittel, Aussagen über die eigene Welt und Zeit zu treffen. Mit dem wunderbaren Vorteil, sich um deren exaktes Abbild keine Gedanken machen zu müssen (daran hätte der Biller mal denken sollen). Aber zurück zum Buch, das den Untertitel “und andere unglaubliche Kriminalgeschichten” trägt. Kriminalgeschichten behauptet Prokop also zu erzählen. Nun, das ist technisch nicht völlig unzutreffend, Truckle löst tatsächlich Kriminalfälle unterschiedlicher Art (das bringt der Beruf eines Privatdetektivs ja konstitutiv mit sich), andererseits:

“Aber es gibt anscheinend in ganz Chicago auch keinen Patienten, der auf einen zweiundfünfziger Unterschenkel wartet. Zumindest steht niemand auf den Wartelisten der offiziellen Kliniken und der registrierten Ärzte. Vielleicht bei den CAPOs, sollten die keine eigenen Kliniken haben?”
“Die CAPOs!” Timothy lachte, daß ihm fast die Tasse aus der Hand gefallen wäre. “Was sind Sie doch für ein braver Bürger, Edward! Sie glauben wohl alles, was über Video flimmert? Die CAPOs sind nichts als eine Erfindung cleverer Journalisten und Public-Relations-Manager.”
“Wollen Sie behaupten, der ganze Kampf gegen die CAPOs sein nur -”
“Ein Märchen”, ergänzte Timmothy, “eine hübsche Geschichte für naive Gemüter, damit die etwas zum Gruseln haben und nicht soviel über andere Dinge nachdenken.”
“Und die CASA NOSTRA, die MAFIA?”
“Das war einmal. Im vorigen Jahrhundert. Glauben Sie mir, Edward, es gibt längst keine Unterscheidung mehr zwschen saubern und schmutzigen Unternehmen. Zumal die Ausnutzung der heutigen Gesetze in der Regel mehr Geld einbringt als ihre Verletzung.

(S. 27)**

Ich weiß, völlig absurd. Als ob eine Welt existieren könnte, in der ein Popanz aufgebaut wird, um alle gesellschaftlichen Aktivitäten unter dem Argument der Sicherheit zu kontrollieren. Diese Literaten… kopfschüttel
Unabhängig davon aber, denn wie eingangs erwähnt, empfehle ich Prokop ja nicht, weil er essentiell Neues und Sensationelles zur Großen Frage beizutragen hat***, sondern vorrangig, weil er, ohne platt zu werden, Freude macht. Es steckt eine Menge Phantasie in diesem Band, durchaus mit einem Hang zum Absurden, es werden hier nicht nur Körperteile gestohlen, sondern auch freigewählte Todesarten diskutiert (mit interessanten Optionen) und Identitätsfragen auf diversen Ebenen durchdekliniert. Mhm. Wenn ich es mir recht überlege, stecken vielleicht doch ein paar Antworten oder zumindest ein paar sehr interessante Fragen in den sich harmlos gebärdenden Geschichten.

Derzeit lieferbar ist eine Gesamtausgabe mit dem Fortsetzungsband “Der Samenbankraub”. Die ebook-Ausgabe ist auch einzeln erhältlich.

P.S. Eins noch:

Als Timothy schon im Mausoleum verschwinden wollte, räusperte sich Napoleon. Im Geber lag noch ein Streifen.
+ + aus der anleitung für die bedienung von electronicgehirnen + 12c3 merke: dein computer ist nicht allwissend + n. + + +

(S. 87)

* aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932, S. 209. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8925 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 98)
**zitiert nach: Prokop, Gert: Wer stiehlt schon Unterschenkel. Das Neue Berlin. Berlin 2006
***Wobei auch das natürlich eine Frage der eigenen Welterfahrung ist. Ich möchte mitnichten ausschließen, daß sich hier ganz wunderbare Ansätze zum Weiter- und Neudenken finden lassen. Ein reines Plauderbüchlein ist es nun auch wieder nicht.

Das Buch zum Sonntag (48)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Luther Blissett: Q

Zum Autorenkollektiv, das hinter diesem Roman steckt, ließe sich einiges sagen. Ich möchte es einmal bei der Bemerkung des Hausheiligen belassen, der meinte seinerzeit:

Jeder historische Roman vermittelt ein ausgezeichnetes Bild von der Epoche des Verfassers.*

“Q” spielt im Europa der Reformationszeit, der Protagonist ist dabei, einsetzend dem thüringischen Bauernkrieg unter Führung Thomas Müntzers, an den wesentlichen Unruhen und Umwälzungen dieser Umbruchsepoche beteiligt. Gerade Deutschland kommt in dieser Zeit eine Schlüsselstellung zu, hatten sich doch gerade hier Bewegungen gebildet, die den Freiheitsgedanken, der in Luthers radikaler Neupositionierung des Verhältnisses zwischen den Glaubenden und ihrem Gott steckt, eben nicht nur auf die religiöse Sphäre beschränkt sahen.
Zusammen mit den Verwerfungen, die der Frühkapitalismus in die geordnete Ständegesellschaft brachte und die nun massiv spürbar wurden, ergab dies eine explosive Mischung. Eine ideale Zeitspanne also, um einen ambitionierten Roman dort anzusiedeln.
Daß ein historischer Roman ambitioniert sein könnte, fällt in einer Welt, in der die allgemeine Assoziation mit dieser Kategorie eher Ken Follett** als Heinrich Mann produziert, schwer zu glauben. Aber hier haben wir einen solchen Fall. Die Handlung ist keineswegs geradlinig erzählt, immer wieder gibt es Rückblenden, die zu vergangenen Ereignissen zurückführt und immer wieder tauchen die Berichte und Briefe von “Q” auf, einem unermüdlichen Spion und agent provocateur der Kurie.
Doch hören wir mal in den Roman hinein:

Beinahe blindlings.
Tun, was ich tun muß.
Schreie in den Ohren, in denen noch der Donner der Kanonen dröhnt. Geronnenes Blut und Schweiß verschließen mir die Kehle, ein Hustenanfall zerreißt mich.
Die Blicke der Fliehenden: Entsetzen. Verbundene Köpfe, zerquetschte Glieder… Immer wieder sehe ich mich um: Elias ist hinter mir. Er bahnt sich einen Weg durch die riesige Menge. Trägt den reglosen Magister Thomas auf den Schultern.
Wo ist der allgegenwärtige Gott? Seine Herde wird hingemetzelt.
Tun, was ich tun muß. Die Briefsäcke festgezurrt. Nicht stehenbleiben. Das Schwert schlägt mir an die Seite.
Elias immer hinter mir.
Eine wirre Gestalt kommt auf mich zugerannt. Das Gesicht halb unter Verbänden, offenes Fleisch. Eine Frau. Sie erkennt uns. Tun, was ich tun muß: Der Magister darf nicht entdeckt werden. Ich packe sie: nicht sprechen. Schreie hinter meinem Rücken: “Landsknechte! Landsknechte!”
Ich stoße sie fort; weg, sich in Sicherheit bringen. Eine Gasse zur Rechten. Im Laufschritt, Elias hinter mir, Hals über Kopf. Tun, was ich tun muß: Haustüren. Die erste, die zweite, die dritte, sie geht auf. Drinnen.

(S. 20)***

Es steht zu vermuten, daß die kooperative Arbeitsweise sich nicht in der ungewöhnlichen Erzählstruktur niederschlug, sondern auch hilfreich war, die unterschiedlichen Handlungsstränge auch sprachlich abzubilden. Für mich zählt es jedenfalls zu den Stärken des Buches, stets geradezu eintauchen zu können in die Situationen, Orte und Begebenheiten, weil Rhythmus und Wortwahl einfach immer passen. Wie bei der eben zitierten Stelle, in der die gehetzte Stimmung einer überstürzten Flucht, das hektische Suchen nach einem geeigneten Versteck geradezu spürbar wird. Ganz anders die Ankunft in Venedig:

Kaum habe ich einen Fuß an Land gesetzt, überwältigt mich das lebhafte Treiben: Die Menschen laufen in alle Richtungen durcheinander, schreien herum, drängeln, rufen sich Grüße zu und streiten sich lautstark; vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, das Meer, den Ort gedämpfter Geräusche, vom Rest der Stadt zu trennen.
Kaum habe ich also einen Fuß an Land gesetzt, werde ich, aufgrund welcher Merkmale auch immer, sofort als deutschsprachiger Fremder erkannt und von zwei Dutzend Jungen umringt, die sich mühen, mir zu erklären, wie unmöglich es sei, sich in Venedig zu bewegen, ohne die Stadt gründlich zu kennen, wie groß die Gefahr, sich zu verlaufen, Gaunern in die Hände zu fallen, beim Wechseln übervorteilt zu werden; und während sie diese Gefahren anschaulich schildern, versuchen sie auf jedenur erdenkliche Weise, mit ihren Händen in meine Taschen zu gelangen.

(S. 535)

Womit ich noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückkommen möchte. Es ist natürlich kein Zufall, daß Luther Blissett, bzw. Wu ming, wie die Gruppe heute heißt, eine Phase der europäischen Geschichte wählte, in der sich eine alte Ordnung in Auflösung befand und die Gesellschaft auf der Suche nach Lösungen war. Meine Empfehlung ist jedoch, sich im Vorfeld nicht mit den Autoren zu beschäftigen. Vergleiche ich meine Leseerfahrungen mit denen der Rezensenten des (Vorsicht, Spoiler)Feuilletons, so komme ich zu dem Schluß, daß man sich einiges an Leservergnügen verwehrt. Denn es macht doch sehr viel mehr Fruede, eigene Bezüge zur Gegenwart herzustellen, als sie vorgekaut zu bekommen. Wer es trotzdem nicht genauer wissen möchte oder für den Klick nach der eigenen Lektüre, bitte schön.
Zu guter Letzt sei noch erwähnt, daß meine Sympathie für dieses Buch wohl nicht zuletzt auch von meiner eigenen per Sozialisation erworbenen, durchaus romantisch-verklärten, Sympathie revolutionären Bewegungen gegenüber herrührt (ich überlasse die tiefenpsychologische Deutung da aber lieber anderen). Auch wenn ich im Laufe der Jahre durchaus die Fähigkeit erworben habe, in Müntzer nicht einfach den strahlenden Helden der frühbürgerlichen Revolution zu sehen und mein Lutherbild nicht mehr ausschließlich das “geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg” vor Augen hat, so schlägt mein Herz doch immer noch eher für den Magister Thomas denn für Junker Jörg. Warum, nun, auch das läßt sich ganz wunderbar im Roman erfahren, denn obwohl das Zitat des Hausheiligen ohne weiteres zutrifft: Es läßt sich durchaus auch einiges über die Epoche der Protagonisten erfahren.

“Nun, meine Herren, heute, müßt ihr wissen, hat ein alter Feind sich endlich entschlossen, das Zeitliche zu segnen. Ich bin versucht, auf dieses erfreuliche Ereignis zu trinken.”
Die drei wechselten rätselhafte Blicke, als könnten sie sich im Geiste verständigen, doch es ist immer der eine, der für alle spricht. “So sagt uns doch bitte, wer es war, der sich Euren Haß zugezogen hatte.”
“Nur ein alter Augustinermönch, Deutscher wie ich, der in unserer Jugend mich und Tausende anderer schändlich verraten hat.”

(S. 563)

Ob er mit diesem Haß wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht. Also das Licht der Leselampe.

Zum Abschluß auch heute der gewohnte Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

*aus: “Schnipsel” in: Werke und Briefe: 1932, S. 209. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8925 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 98) (c) Rowohlt Verlag
**womit ich nichts gegen Herrn Follett gesagt haben will. “Die Säulen der Erde” beispielsweise ist ein athmosphärisch gelungener, sauber geschriebener Roman. Exzellente Handwerksarbeit. Man kann aber mit Literatur auch mehr wollen. 😉
***zitiert nach: Luther Blissett: Q. Piper. München und Zürich 2002

Das Buch zum Sonntag (12)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot.

Frau Berg wurde nach eigenen Angaben in den sechziger Jahren in Weimar geboren, verließ die DDR in den achtziger Jahren als Republikflüchtling. “Mit der DDR verbindet mich keinerlei Heimatgefühl, keine Sentimentalitäten.”, so Frau Berg selbst. Genaueres läßt sich auf ihrer wunderbaren Webpräsenz (und ich empfehle ausdrücklich: nur dort.) nachlesen.

Der heute empfohlene Roman ist ihr Debut, erschienen 1997 bei Reclam Leipzig (ja, ihr lieben Kinder, sowas gab´s mal 🙁 ).
Es handelt sich um einen Episodenroman, dessen Personal mehr oder weniger eng miteinander verbunden ist oder im Laufe der Erzählung wird.
Frau Bergs Stärke liegt dabei in der Charakterisierung der Personen, in der Schilderung des Innenlebens, dem Aufzeigen der Absurdität so mancher unserer Ideale, denen wir meinen, nachjagen zu müssen.
Und ganz besonders in ihrer Formulierkunst. Die Kapitel sind sehr kurz, kaum mehr als zwei Seiten, gelegentlich sogar nur eine. Alles andere wäre aber ihrem Schreibstil auch nicht entsprechend. Frau Berg ist eine Meisterin des einen Satzes.

Ich versuchs mal, einfach zwei Sätze, aus dem Zusammenhang gerissen:

Jeden Abend das Lied des eigenen Versagens spielen zu müssen kann ja nun wirklich nicht interessant sein.

Volle Kühlschränke sind ein zwingendes Indiz für Weisheit.

Ich halte es für keinen Zufall, daß Frau Berg Inhaberin eines sehr beliebten Twitter-Accounts ist.

Übrigens deutet auf diese Kunstfertigkeit auch bereits der Titel hin, auf den ich zufällig in der Bibliographie stieß. Ich fand damals (laßt es 9 Jahre her sein), wer einen solchen Titel verwendet, hat eine Chance verdient und bestellte das gute Stück.
Frau Berg ist definitv keine Schriftstellerin für den Feuilleton-Leser, der stets hochgradig bildungsbürgerlich aufgeladene Textungetüme benötigt, bei denen der Autor sein Publikum mit gelehrten Anspielungen auf bereits Gelesenes bauchpinselt. Nein, Frau Bergs lakonische, kurze Sätze wählende Schreibweise fordert den geneigten Leser heraus, sich selbst und sein Denken, Fühlen, Sehnen und Hoffen in Beziehung zum Text zu setzen.
Kurz:
Man muß bereit sein, sich auf das Buch einzulassen. Mit einer distanzierten Leserrolle, mit der üblichen Bewertungshaltung des Lesenden dem Schreibenden gegenüber (“Na, was haben Sie denn zu bieten? Erzählen Sie doch mal…”), wird man wenig Freude an Frau Berg haben.

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