Klaus Leesch: Eduard Bernstein (1850-1932)

Klaus Leesch hat sich in seiner Werkbiographie des frühen Sozialdemokraten Eduard Bernstein einer Mammutaufgabe gestellt.

Bernstein ist sowohl während seiner Lebzeiten als auch in der späteren Rezeption stets voreingenommen bewertet worden. In seinem Wirken während der Flügelkämpfe in der Sozialdemokratie, insbesondere in der Kaiserzeit, mag das noch in der Natur der Sache liegen.

Als bedeutender Publizist in der sozialdemokratischen Presse, der noch dazu immer wieder klar Stellung bezog, konnte er kaum mit einem ausgewogenen Urteil rechnen. In der Rezeption der Nachkriegszeit wiederum diente er beidseits der Mauer vorrangig als Projektionsfläche nebst der dazugehörigen Rosinenpickerei.

Das führte nicht nur zu einseitigen Urteilen, sondern auch zu erheblichen Forschungsdesideraten, denn wirklich intensiv und sachlich beschäftigten sich kaum Forscher mit ihm. So kommt es denn auch zustande, dass von einem der wichtigsten Vertreter der frühen Sozialdemokratie bis heute keine vollständige Werkausgabe vorliegt.

Vor diesem Hintergrund ist Klaus Leeschs umfassende Arbeit nicht nur zu begrüßen, sie ist willkommen zu heißen.

Leeschs Arbeit umfasst in der gedruckten Ausgabe zwei Bände mit insgesamt über 1700 Seiten und war seine Dissertation an der Fern-Universität Hagen. Leesch hat sich lange und intensiv mit Bernstein beschäftigt. Das ist von der ersten Seite an zu spüren – ebenso wie die Sympathie des Autors der Person Bernsteins gegenüber. Dass ihm trotzdem die sachliche Distanz nicht abhanden kommt, ist ein unbedingter Pluspunkt. Und unbedingt notwendig, voreingenommene Bernstein-Literatur gibt es ja – wie eingangs erwähnt – bereits zur Genüge.

Dennoch wäre hier ein etwas rigoroseres Lektorat gewinnbringend gewesen. Ich hatte beim Lesen sehr bald den Eindruck, Klaus Leesch wolle nun gleich alle bestehenden Lücken mit einem Mal schließen. Insbesondere seine langen und umfangreichen wörtlichen Zitate aus Bernsteins Werk machen die Lektüre schnell mühsam. Natürlich ist die Belegarbeit schwierig, wenn keine in Umfang und Güte zufriedenstellende Werkausgabe zur Verfügung steht. Eine bessere Lösung wäre hier aber wahrscheinlich dennoch die Auslagerung in einen Quellenband bzw. in den Anhang gewesen. So aber entstehen Redundanzen und Längen, die es schwer machen, die Biographiearbeit des Autors wahrzunehmen. Das ist sehr schade, denn so entsteht der Eindruck, dass vor lauter Ansprüchen, denen diese umfangreiche Arbeit gerecht werden will, sie letztlich keinem wirklich gut entspricht.

Dennoch: Dieses Mammutwerk wird seinen unübersehbaren Platz in jeglicher Arbeit zu Bernstein und der frühen deutschen Sozialdemokratie finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand zu diesem Themenkomplex arbeiten kann, ohne künftig Leeschs Werkbiographie zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Bergwerk werden noch so manche Schätze geholt werden.

Und dem interessierten Publikum wünsche ich, dass Klaus Leesch noch einmal nachlegt – mit einer schlankeren Biographie unter dem Motto: Mehr Leesch wagen.

Details zum Buch:
Klaus Leesch: Eduard Bernstein (1850-1932). Campus Verlag Frankfurt/Main 2024, 2 Bde., 1788 Seiten, 189 € ; als ebook (epub oder PDF) 179,99 €
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Janina Ramirez: Femina

Oxford-Historikerin Dr. Janina Ramirez, die ich in einigen Geschichtsdokus gesehen habe und die mir dort sehr positiv aufgefallen ist, hat mit Femina: Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen ein spannendes Buch geschrieben.

Ihr Werk ist keine chronologische Darstellung der Epochenereignisse wie es zum Beispiel die politische Geschichte kennt. Vielmehr zeichnet sie ein Epochenportrait – ausgehend von den Lebenszeugnissen mehrerer Individuen wirft sie Schlaglichter auf die vielfältige und bunte Welt des Mittelalters.

Dabei wird immer wieder deutlich, dass die Antworten, die die Beschäftigung mit Geschichte uns bringt, stets von den Fragen abhängen, die wir stellen. Das führt sie auch deutlich aus: Schon in ihrer Vorrede macht Dr. Ramirez klar, dass ihr Blickwinkel selbstverständlich einen Fokus bewirkt, dass ihre Fragen an die Geschichte des Mittelalters verschiedene Aspekte nicht betrachtet. Dieser kurze historiographische Exkurs macht aber eben auch deutlich, dass jede Darstellung von Geschichte einen solchen Bias hat. Was eben bedeutet: Die Historiker:innen des 19. Jahrhunderts haben ganz andere Fragen interessiert als die Historiker:innen des 20. Jahrhunderts und als Historiker:innen heute – und es ist wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein. Janina Ramirez kommt darauf auch immer wieder zurück, insbesondere dann, wenn sie die Frage stellt, warum so viele Aspekte des durchaus bunten mittelalterlichen Lebens heute nicht präsent sind.

Janina Ramirez stellt Frauen in den Mittelpunkt und schafft damit erhellende Ergänzungen zu den bisherigen Bildern vom Mittelalter. Dabei verfolgt sie keinen bilderstürmenden Furor, sondern sie zeigt auf, wie das Leben im Mittelalter eben auch war, welche vielfältigen Rollen Frauen einnehmen konnten und dass starre Geschlechterrollen auch im Mittelalter durchaus aufgebrochen worden, dass es auch im Mittelalter Menschen gab, die wir heute wohl als queer bezeichnen würden. Dabei vermeidet sie ahistorische Zuschreibungen, sie arbeitet immer quellennah und macht Lücken deutlich, wo sie vorhanden sind. Das ist Geschichtsschreibung at its best.

Besonders reizvoll finde ich Ihre Verknüpfung der Lebensgeschichten dieser Frauen mit ihrer Rezeption und vor allem immer auch mit der Entdeckungsgeschichte – seien es archäologische Funde, zufällig entdeckte Schriften oder auf abenteuerlichen Wegen gerettete Handschriften.

Dabei hat sie eine Fähigkeit, die ich an Geschichtswerken besonders schätze: Sie kann erzählen. Gerade die deutsche Historiktradition stellt diese Fähigkeit nicht in den Vordergrund, es ist wohltuend, dass die angelsächsische Tradition hier anders vorgeht. Janina Ramirez hat ein großes Erzähltalent und setzt es gut ein, um ein wirklich und im wahrsten des Wortes lebendiges Bild des Mittelalters zu zeichnen.

Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen – und zwar sowohl jenen, die sich bisher nicht intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt haben, als auch jenen, die den Eindruck gewonnen haben, bereits alles zu wissen. 🙂

Zum Instagram-Account von Dr. Janina Ramirez

Buch-Details:
Femina : eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen [OT Femina: A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It] von Janina Ramirez ; aus dem Englischen von Karin Schuler. Aufbau-Verlag Berlin, 2023, 516 Seiten. ISBN 978-3-351-04181-6. auch als eBook erhältlich.

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