Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (107)

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Alexandra Tobor: Sitzen vier Polen im Auto

Kindheitsgeschichten (nicht: Kindergeschichten) zu schreiben gehört zu den literarischen Versuchen, die selten gelingen und falls doch, dann meist kaum Anerkennung bringen. Zu banal, zu einfältig, zu eindimensional scheinen die Gedankenwelten von Kindern, als dass deren Darstellung zu hohem feuillotinistischen Ansehen berechtigte. Ich halte aber genau diese Disziplin zu einer der höchsten Ansprüche überhaupt, denn um eine Kindheitsgeschichte glaubhaft erzählen zu können, ist ein radikaler Perspektivwechsel nötig. Es gilt ja nicht einfach nur die Seiten zu wechseln, ein paar Nuancen der Wahrnehmung und Interpretation zu verschieben, sondern vielmehr ein völlig anderes Werte- und Denksystem anzunehmen. Kinder denken und werten anders. Sich daran aus eigener Erfahung erinnern und hineinfühlen zu können, ist weit schwieriger als dies gemeinhin angenommen werden mag.*
Keine Kindheit ist wirklich unbeschwert, weil das Leben nie unbeschwert und sorgenfrei ist, kann es eine Kindheit auch nicht sein. Kinder sind genauso von Ängsten, Sorgen und Sehnsüchten erfüllt wie es erwachsene Menschen auch sind. Aber es mögen andere Ängste, Sorgen und Sehnsüchte sein. Wir lernen Alexandra Tobors Protagonistin 1986 kennen als Kind in der polnischen Provinz mit einem erheblichen Hang zum Dramatischen, was ihr in unangenehmen Situationen hilft, aus eben diesen auszubrechen, wenn sie sich nicht anders auflösen. Wir verlassen sie wieder etwa 6 Jahre später, nach ihrer Kommunion in einer deutschen Vorstadt.
Natürlich ist die Geschichte dazwischen voller grotesker, teils absurder Situationen, wie sie entstehen müssen in einer Welt, in der ein Quelle-Katalog zum Inbegriff des Paradieses wird, wo leere Cola-Dosen als Trophäen in der Glasvitrine landen, wo schlußendlich eine Familie in ein verheißungsvoll ersehntes Land auswandert, dessen Sprache und kulturellen Codes ihnen völlig fremd sind.
Wäre es nur dies, ich würde das Buch hier nicht empfehlen. Was nämlich Alexandra Tobor ganz hervorragend gelingt, ist, die Perspektive des Kindes zu schildern, ohne in kindliche Sprache zu verfallen. Und auch wenn dabei Thomas-Mann- und Cicero-Jünger eher nicht auf ihre Kosten kommen, so ist das doch sehr überzeugend gelungen. Es sind berührende Szenen, in denen die Tragik der Diskrepanz zwischen Hoffnungen, Erwartungen und dem letztlich klaren Nichterwünschtsein durchscheint. Frau Tobor läßt ihre Protagonistin einfach nur erzählen, sie analysiert nicht, sie ist nicht die Erwachsene, die rückblickend ihre Kindheit reflketiert, sondern sie erzählt einfach nach, was dieses Kind sieht und empfindet. Und genau das macht die Stärke dieses Buches aus.

Während der Weihnachtsfeier in ihrer Schule wird ihre Mutter von der Mutter einer polnischen Klassenkameradin angesprochen und aus diesem Dialog möchte ich kurz zitieren:

»Pschsch!«, zischte Frau Kowalski. »Ich bin keine von euch … Wir sind schon vor fünf Jahren gekommen und haben hart dafür gearbeitet, Deutsche zu werden. Wir haben was geleistet, verstehen Sie? Wir wollen mit den anderen Spätaussiedlern nicht in einen Topf geworfen werden. Es kann ja sein, dass Sie eine gebildete Frau waren in Polen, darum rede ich überhaupt mit Ihnen.« […]
»Sie müssen sich schon anpassen, wenn Sie hier ein ruhiges Leben haben wollen, meine Liebe. Ich kaufe meiner Ewa zum Beispiel nur Markenkleidung. Das ist hier ziemlich wichtig.«
»Ich persönlich finde es wichtiger, dass aus meiner Tochter ein anständiger Mensch wird«, sagte Mama.
»Sehen Sie? Und genau deswegen hat Ewa Freunde und Ihre Tochter nicht. Entschuldigen Sie mich« – sie schaute auf ihre goldene Armbanduhr -,»wir müssen jetzt gehen. Mein Mann holt uns gleich ab.«
»Es war nett, Sie kennenzulernen«, sagte Mama knapp, und Frau Kowalski erhob sich, um Ewa in die Jacke zu helfen.
»Sie hat uns nicht mal gefragt, ob sie uns mitnehmen kann«, sagte Mama, als die beiden außer Hörweite waren. »Dieser Frau mangelt es völlig an Kultur. Polin will sie nicht sein, aber das macht sie nicht zur Deutschen. Sie ist überhaupt nichts.« In Momenten größter Enttäuschung erinnerte mich Mama an Oma Greta.

(S. 162ff.)**

Es ist eine schlichte Szene und doch steckt die ganze Tragik des Kampfes um die eigene Würde darin, den die Familie nach ihrer Auswanderung ausficht. Dass sie diesen Weg nicht psychologisierend, nicht analysierend, nicht überdramatisiert darstellt***, dafür bin ich ihr sehr dankbar. Diese Geschichte eines jungen Mädchens, das in eine völlig neue Welt gerät, in der die Menschen noch merkwürdiger sind als in der Welt, die sie verließ, und die doch dort sein möchte und willens ist, ihren Platz zu finden, ohne sich aufzugeben – diese Geschichte ist in der Lage viel mehr Augen zu öffnen als so manch elaboriertes kulturwissenschaftliches Werk.

Zum Abschluß noch eine Szene, die mir persönlich sehr nahe ist:

Papa hatte schon mehrere Vorstellungsgespräche erfolglos hinter sich gebracht. Hinterher hat er uns immer erzählt, wie sie gelaufen waren. Wenn ein Arbeitgeber auf seine guten Abschlussnoten zu sprechen kam, behauptete Papa, die hätten nichts mit seinem Können zu tun. Dass er in der Schule Russisch gelernt hatte, gab er zu; dass er sich selbst Englisch begebracht hatte, verschwieg er. Nach seinen persönlichen Interessen berfragt, zuckte er nur die Schultern, als hätte er die Frage nicht verstanden. Warum sollte es einen Arbeitgeber interessieren, dass er gern Bücher über die Funktionsweise von Computern las, wenn er am Ende bloß Fernseher reparieren würde?

(S. 168f.)

Ich hoffe, nie darüber lachen zu können.

Und natürlich soll auch heute nicht der Hinweis auf die

lieferbare Ausgabe

fehlen.


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P.S.

»Schorle!«, sagte Dominik entschlossen.
»Was ist das?«
»Was? Du kennst Schorle nicht?«
»Nie gehört.«
»Hahaha! Wie kann man das nicht kennen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Dominik sprang auf und griff zur Mineralwasserflasche und zum Apfelsaft, die beide auf dem Tisch standen. Das Glas, das ich ihm gereicht hatte, füllte er nur zur Hälfte mit Apfelsaft, dann goss er bis zum Rand Mineralwasser nach, bis das Glas fast überschwappte.
»DAS ist Schorle«, sagte er stolz.
»Soso, die Deutschen sparen also auch«, hörte ich Oma unter der Nase murmeln.

(S. 204)

Ullstein platziert dieses Werk in einem Segment, in dem “humorvoll und augenzwinkernd” (vulgo: schenkelklopfend) Kulturen aufeinander prallen dürfen. Meist bewegen sich dort dann die Helden mit der kulturellen Empathie eines Obelix (“Die spinnen, die [Volksstam]”). Was bei Jan Weiler zumindest ja stilistisch noch gefällig war und gelegentlich sogar fein beobachtet, gerät dort häufig zum bloßen Klischeefestival. Wogegen ich nichts sagen will, Selbstbestätigung verkauft sich immer gut. Allerdings tut man Frau Tobors Buch damit Unrecht, es gehört dort nicht so recht herein (auch wenn es hier natürlich, wie oben erwähnt, einiges zu lachen gibt) und das wird eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrem Werk nicht eben befördern. Allerdings sei dem zuständigen Lektorat unterstellt, dass man wenig Möglichkeiten sah, das Buch anderweitig zu platzieren (und nicht selten muss man ja schon im Haus kämpfen, wenn kein passendes Etikett zur Verfügung steht), es aber wichtig genug fand, um es trotzdem zu bringen. Möge das Buch also als Trojaner wirken und all jene zum Nachdenken bringen, die es sich auf ihren Klischeesofas mit dem “Diesindsounddiesindanders”-Muster allzu bequem gemacht haben.

*Als kleine Übung dazu betrachte man doch einmal “die Jugend” und versuche sich ernsthaft vorzustellen, keinen Deut anders gewesen zu sein. Fällt schwer, aber wenn man nicht völlig der Hybris erliegt, schon immer besser als der Rest der Welt gewesen zu sein, führt kein Weg an der bitteren Erkenntnis vorbei, dass man selbst tatsächlich ziemlich genau so gewesen ist. Möglicherweise mit anderem Vokabular, möglicherweise mit anderen modischen Varianten – aber nicht wesentlich. Wäre dem so, klagten nicht sämtliche Quellen zu diesem Thema über die Verdorbenheit der Jugend – und zwar seit Erfindung der Schrift. 😉
**zitiert aus: Tobor, Alexandra: Sitzen vier Polen im Auto. Ullstein Taschenbuch. Berlin 2012.
***Man denke nur an Julia Francks “Rücken an Rücken“, wo es immer noch ein Trauma mehr sein muss.