Auf dem Nachttisch (1)

Schreiben über gelesene Bücher soll eigentlich integraler Bestandteil dieses Blogs sein. Aber wie das so ist im Leben – nicht immer entwickelt sich alles so wie geplant. Vor allem das Real Life funkt immer wieder gerne dazwischen. Und so gerne ich meine schon seit Jahren zurückliegende wöchentliche Buchempfehlungsrubrik weiterführen würde – es ist nicht realistisch, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren.

Nun lese ich also weiterhin Dies und Das, denke mir nach jeder beendeten Lektüre: Dazu schreibst Du was. Dann fange ich einen Beitrag an, lege ihn zur Seite und da bleibt er dann liegen – hilflos mit seinen Beinchen strampelnd, mich immer wieder ermahnend, ihn nun endlich aufzuheben. So vergehen Wochen, Monate, Jahre – und es wird doch kein veröffentlichter Text daraus. Inzwischen sind die Bücher womöglich vergriffen, kurz: Das ist unbefriedigend.

Also versuche ich es nun einmal mit kurzen Sammelrezensionen – die zwar dem einzelnen Werk nicht die Aufmerksamkeit geben, die ich ihm idealerweise geben wollte. Doch dazu sei an dieser Stelle mein früherer Chef zitiert: Better done than perfect.

Also dann, auf geht es mit der ersten Runde Bücher, die ich kürzlich vom Nachttisch geräumt habe:

Sarah Kuttner: Kurt

Drei Erwachsene, ein Kind. Die Zahl von Büchern und Filmen zu den verschiedensten Konstellationen, die sich aus einer solchen Aufzählung ergeben können, ist Legion. Warum also noch eins? Weil das Thema nie zu Ende ist. Jede Zeit, jede Konstellation ist individuell und hat ihre ganz eigene Geschichte, Sarah Kuttners Geschichte beginnt zunächst ganz vertraut: Ein Paar hat ein gemeinsames Kind, trennt sich, ein Partner findet eine neue Partnerin und zieht mit dieser in ein eigenes Haus. Jana und Kurt schaffen es, diese schwierige Situation vernünftig zu lösen und Lena lernt nach dem großen nun auch den kleinen Kurt kennen. Mit ihr erleben wir ein waches, neugieriges Kind voller Liebe für die Welt und die Menschen, die ihn umgeben.
Der tiefe Schmerz, den die Erwachsenen erleben, als das Kind plötzlich stirbt, hat auch mich beim Lesen getroffen. Ich habe den kleinen Kerl sehr ins Herz geschlossen. Sarah Kuttner findet in ihrer schnörkellosen, empathischen Sprache einen Ausdruck für die Trauer und die ganz verschiedenen Wege, die Trauernde gehen. Darin liegt für mich die Stärke und Bedeutung dieses Buchs: Worte und Ausdruck zu finden für eine Trauer, die tiefer kaum sein könnte. Worte dort zu finden, wo keine Worte mehr sind.

Ein herzzerreißendes Buch über einen Schmerz, der nicht zu begreifen ist. Ich habe jedenfalls viele Tränen vergossen und ich weiß nicht, ob ich das Buch ein zweites Mal aushalten würde.

Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Gut vierzig Jahre liegt diese Geschichte schon bei Murakami auf dem Nachttisch. Grundlage des Romans ist eine Erzählung aus den 80er Jahren, mit der der Autor nie so recht zufrieden war. Immer wieder wollte er sie weiter ausarbeiten. Nun also ist dieser Roman daraus entstanden. Vor solchen Entstehungsgeschichten warnen Lektor:innen regelmäßig, und das aus guten Gründen. So eine Geschichte bleibt nicht ohne Anlass so lange liegen. Meist stimmt mit ihnen etwas nicht, sei es, dass ihr Thema nicht so recht passt oder ein grundlegender konstruktiver Fehler es immanent nicht zu einem gutem Abschluss kommt. Das ist auch hier spürbar, der Roman sei niemandem ohne Murakami-Erfahrung empfohlen.

Und dennoch zeigt sich Murakami in diesem dichten Roman von seiner Stärke als Romancier. In der metapherngesättigten Geschichte um eine verlorene und unerreichbare Liebe führt er dem Leser vor Augen, dass Realitätsflucht zwar ungemein beruhigend und sicherheitsversprechend ist – aber eben nicht echt. Und vor allem: Das Leben extrem einschränkend, da jede Berührung mit dem Leben außerhalb der selbst geschaffenen Mauern den Kokon und seine schutzspendende Wärme bedroht. Und auch wenn ich den Roman gerne gelesen habe: Wahrscheinlich wäre es besser, er wäre eine Erzählung geblieben.

Laura Wood: Agency for Scandal

Izzy Stanhope, eine junge Frau mit Beziehungen in der britischen Upper Class, hat viele Geheimnisse. Und jedes einzelne davon könnte ihre prekäre Stellung ruinieren. Dementsprechend unauffällig bewegt und kleidet sie sich.
Der Roman ist im Viktorianischen England angesiedelt und kreist um ein Team von Frauen, die selbstorganisiert andere Frauen unterstützen. Das ist entsprechend herausfordernd, denn offen agieren können sie naturgemäß nicht. Scheu hat das Team dabei weder vor hohen Ämtern, großem Reichtum oder Berufsverbrechern. Alle Mittel und Wege sind ihnen recht, wenn sie geeignet sind, die Sache der Klientinnen zu befördern. Dabei nutzen sie geschickt ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung aus, legen sich Tarn-Identitäten, entwickeln Spezialfähigkeiten – eben alles, was man von einem professionellen Team erwarten darf.

Ob und wie hier Anachronismen reinspielen, kann ich nicht beurteilen, dafür kenne ich die Viktorianische Gesellschaft viel zu wenig – ich bin mir aber auch nicht sicher, ob das überhaupt relevant ist. Die turbulente Handlung findet ihre Ankerpunkte in den Figuren, die ein hohes Identifikationspotential bieten. Dass hier die Protagonistinnen sich in einer männerdominierten Welt ihren Handlungsraum nehmen und nutzen ist vielleicht der stärkste Aspekt dieses Jugendbuches.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd

Mich hat dieser Thriller leider überhaupt nicht überzeugt, gerade vor dem Hintergrund des ersten Teils. Dieser war solides Handwerk, mich hatten ein paar Dinge gestört, aber insgesamt war das okay und ich war durchaus gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde.
Schon in Das Nord war die übermächtige Alice und die Hilflosigkeit aller anderen etwas dick aufgetragen. Hier aber rutschen die Figuren endgültig in die Unglaubwürdigkeit ab. Das beginnt schon beim Restaurantnamen, der gekünstelt auf den ersten Roman Bezug nimmt. Alex und Sofi würden nach all den traumatischen Erlebnissen im Nord ihr Restaurant ernsthaft Syd nennen? Insbesondere, wenn sie versuchen, sich vor Alice Duwal zu verstecken? Da war das Verlagsmarketing wohl stärker als die Figurenentwicklung.
Und dass nun wirklich jeder Schritt, den Alex macht, sich mal wieder als beobachtet und gesteuert herausstellt, was ausgerechnet ihm aber nie bewusst wird, obwohl er ständig Angst davor hat, beobachtet und gesteuert zu werden. Und wieder einmal ist es dieselbe übermächtige Alice, die hier schon James-Bond-Bösewicht-Dimensionen erreicht und wieder einmal wird es eine vergleichsweise simple Falle, mit der sie überwältigt wird. Ich weiß nicht, mich hat das wirklich nicht überzeugt. Ich hatte hier auf eine neue Geschichte gehofft, tatsächlich aber ist es weitgehend dieselbe.
Gleichzeitig ist aber ganz klar spürbar, dass die Autorinnen ihr Handwerk eigentlich verstehen – und das hat vielleicht meinen Ärger verstärkt. Wenn das Buch einfach schlecht geschrieben wäre, hätte ich es zur Seite legen und abtun können.

Buchdetails:
Sarah Kuttner: Kurt : Roman. S. Fischer Frankfurt am Main 2019, 239 Seiten, ISBN 978-3-10-397424-9, 20 € ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer : Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont Buchverlag Köln 2024, 637 Seiten, ISBN 978-3-8321-6839-1, 35 € ; als ebook 27,99 € ; als Hörbuch 34 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Laura Wood: Agency for Scandal : Roman. Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawls, Fischer Sauerländer Frankfurt am Main 2024, 432 Seiten, ISBN 978-3-7373-4389-3, 15,90 € ; als ebook 12,99 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd : Thriller. Aus dem Schwedischen von Max Stadler, HarperCollins Hamburg 2024, 270 Seiten, ISBN 978-3-365-00578-1, 14 € ; als ebook 9,99 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Nord

Bei Alex läuft es grad gar nicht – er ist abgebrannt, obdachlos und ohne Job. Da bekommt er die Chance, in Nordschweden bei einem berühmten Sterne-Koch in einem Edelrestaurant anzufangen. Mit den allerletzten Ressourcen gelingt es ihm, die Reise zu bewerkstelligen und rechtzeitig einzutreffen. Die Arbeit ist hart, Freizeit ist rar und die Arbeitsatmosphäre geprägt von Missgunst und Intrigen.

Nicht wirklich besser wird es, als er eine Affäre mit Alice Duvall, der Ehefrau des Besitzers anfängt. Schnell ist Alex ist einem verhängnisvollen Abhängigkeitsverhältnis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint – insbesondere da Alice sehr eigene Interessen verfolgt, bei deren Durchsetzung er bestenfalls als Werkzeug eine Rolle spielt.

Katarina Ekstedt und Anna Winberg Sääf gelingt ein spannender Thriller, der alle Zutaten bereithält, die es braucht. Allerdings auch nicht mehr. Beworben wird es mit Schwedische Thriller-Spannung vom Feinsten und Intrigen und Psychoterror in der Schwedischen Sterneküche. Davon habe ich wenig gelesen. Die ersten Berfreiungsversuche scheitern zu offensichtlich und für das David-Goliath-Spiel, dass hier aufgebaut wird, ist mir die letztliche Lösung sogar etwas zu platt. Darin besteht meiner Meinung nach ja die besondere Kunst: Übermächtige Bösewichte, die alles beherrschen und von allem wissen, sind leicht erschaffen. Aber eine plausible Handlung, wie diese dennoch überwunden werden können – das ist eine echte Herausforderung. Und die finde ich hier nicht restlos überzeugend gemeistert.

Das ist solides Handwerk, die Handlung spitzt sich gekonnt zu. Aber kaum weg gelegt, hatte ich Figuren, Handlung und kulinarische Finessen eigentlich auch schon wieder vergessen. Also gute Unterhaltung – und das ist gar nicht abwertend gemeint: Ich bin hier gerne dabei geblieben.

Details zum Buch
Anna Winberg Sääf/Katarina Ekstädt: Das Nord. Thriller. aus dem Schwedischen von Max Stadler. Deutsche Erstausgabe bei HarperCollins Taschenbuch, Hamburg 2023, 288 Seiten, 14 € ; als ebook (ePUB) 10,99 €
Bei youbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Marc-Uwe Kling: Views

Ich muss gestehen, meine HardCore-Marc-Uwe Kling-Fanphase ist schon einige Jahre her (Exhibit A: Gachmurets dritte Kulturwoche: Kabarett vom Februar 2010). Genau so wie ich die Radiokolumne sehr mochte, habe ich auch die ersten Känguru-Bücher mit großer Freude gelesen.

Der Guerilla-Kommunismus des Kängurus erfreut mich auch heute immer wieder. Der überragende kommerzielle Erfolg hat mich verwundert und skeptisch gemacht. Auch heute beschleicht mich durchaus das Gefühl, dass nicht alle bei dem Take Mein – Dein, das sind doch alles bürgerliche Kategorien aus denselben Gründen lachen. Tatsächlich verfolge ich Klings Arbeit eher deshalb noch mit, weil die Traumtochter™ großer Fan ist.1

Will sagen: Seit fast 15 Jahren habe ich kein Buch mehr von ihm gelesen – zwischenzeitlich hat Kling eine beachtliche Bestseller-Karierre hingelegt und das Genre der WG-Berichte aus dem Zusammenleben mit einem kommunistischen Känguru, das früher beim Vietkong war, weitgehend verlassen. Dies nur als Vorrede, um zu verdeutlichen, dass ich durchaus nicht unvoreingommen an Views herangegangen bin.

Das Buch wird als Thriller beworben, und das geht soweit auch in Ordnung. Im Mittelpunkt steht die BKA-Kommissarin Yasira Saad, die in einen Aufsehen erregenden Fall involviert wird. Die 16jährige Lena Palmer verschwindet – zunächst ein lokaler Fall, der außerhalb der Harzregion zunächst keine Bedeutung erlangt. Doch dann taucht ein verstörendes Vergewaltigungsvideo auf und die Welt gerät aus den Fugen. Schnell gibt es massive Demonstrationen, die Täter werden schnell als Geflüchtete bezeichnet und dass die leitende Ermittlerin beim BKA den Namen Yasira Saad trägt, befeuert die sich rasant militarisierende deutsche Gesellschaft zusätzlich. Dementsprechend geraten nicht nur alle, die den Tätern im Video ähnlich sehen, in akute und konkrete Gefahr, sondern auch Yasira persönlich und ihre Tochter. Außerdem erscheinen in kurzer Schlagzahl weitere Videos, etliche davon von einer Gruppierung, die sich „Aktiver Heimatschutz“ nennt und neben Hass auch konkrete Aufstandsforderungen verbreitet. Kurz: Die Gewaltspirale wird ihrem Namen mehr als nur gerecht.

Marc-Uwe Kling hat hier einen straighten Thriller geschrieben, der geübte Thriller-Leser:innen womöglich nicht vor übermäßige Herausforderungen stellt, aber er schont sein Publikum durchaus nicht. Sowohl die Handlung als auch die beschriebenen Videos sind durchaus gewaltvoll, wenn auch nicht überzogen explizit und die Gewalt selbst steht auch nicht im Vordergrund, das macht es erträglicher. Im Vordergrund steht die sich immer schneller drehende Eskalationsspirale, die es kaum noch möglich zu machen scheint, noch seriöse Ermittlungsarbeit zu leisten. Insgesamt habe ich das gerne gelesen, mich hat der Thriller in Bann gezogen und das ist ja letztlich Hauptaufgabe von Spannungsliteratur. Ein paar Anmerkungen habe ich noch, aber zunächst einmal die Detail-Angaben zum Buch:

Marc-Uwe Kling: Views : Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2024, 269 Seiten, ISBN 978-3-550-20299-5, 19,99 €. Auch erhältlich als ebook und Hörbuch.

Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

An dieser Stelle ein Break: Ich kann nicht weiter schreiben, ohne konkret auf Handlungsstränge einzugehen. Daher eine unbedingte SPOILER-WARNUNG.

Weiterlesen „Marc-Uwe Kling: Views“

Steffen Mau: Ungleich vereint

Über Ost und West, die Einheit und ihre (Nicht-)Vollendung ist bereits viel geschrieben worden. Vieles davon beruht aber eher auf gefühltem Wissen oder tradierten (Vor-)Urteilen.

 Steffen Mau nimmt in diesem Buch seine Profession als Soziologe aber Ernst und macht etwas, das überraschend selten getan wird: Er schaut ganz genau hin, nutzt das Instrumentarium der Sozialwissenschaften und kommt dabei zu präzisen Ergebnissen. Dieser nüchterne, genaue Blick darauf, was wirklich ist – also welche Einstellungen, welche Wertvorstellungen, welche Mentalitäten tatsächlich im Osten existieren und woher sie stammen, hebt sich wohltuend von gängigen Polemiken ab.

Dabei zeichnet er die verschiedenen Phasen des Umgangs mit „dem Osten“ nach und macht überzeugend deutlich, dass die Strategie der Anwandlung an „den Westen“ nicht nur nicht zielführend, sondern auch schlicht nicht funktioniert hat – und auch nicht funktionierend wird. Eine demokratische Zukunft ist überhaupt nur erreichbar, wenn wir in der Gesamtgesellschaft anerkennen, dass es erhebliche Unterschiede gibt, die unterschiedliche Herangehensweisen und Instrumente erfordern. Wir müssen endlich weg davon kommen, unsere Entscheidungen auf Voreingenommenheiten und Illusionen zu stützen. Dafür ist eine realistische, saubere Bestandsaufnahme eine unerlässliche Grundlage.

Die sorgfältige Beobachtung und Argumentation von Steffen Mau bietet eine exzellente Grundlage für künftiges politisches Handeln, weg von illusorischen Vorstellungen, hin zu einer die Realitäten anerkennenden, aktiven Gestaltung einer weiterhin möglichen demokratischen Zukunft – nicht nur des Ostens, sondern der ganzen Bundesrepublik. 

Besonders spannend fand ich Maus Gedanken, die nie wirklich gelungene Verwurzelung der bundesrepublikanischen Parteien im Osten als Herausforderung und Ideenfeld zu nutzen, wie Demokratie dennoch funktionieren könnte – denn es braucht keine prophetische Gabe, um abzusehen, dass die bereits stark bröckelnden Strukturen im Westen auch dort nicht mehr ewig halten werden. Der Trend ist seit Jahrzehnten ungebrochen und es ist nicht abzusehen, dass er endet. Also: Anstatt immer wieder herumzujammern, dass der Osten nicht wie der Westen ist, lasst uns diesen Fakt doch einfach mal anerkennen und schauen, was wir da tun können. Denn eines ist klar: Die Faschisten haben das längst erkannt und spielen ihr Playbook durch. Wird Zeit, mal ganz zügig eine 20 zu würfeln und loszulegen…

Auch wenn ich Mau’s Optimismus für seine vorgeschlagenen Lösungswege nicht ganz zu teilen vermag, sein Plädoyer dafür, dass es unabdingbar ist, jetzt etwas zu tun, ist absolut überzeugend.

Buchdetails:
Ungleich vereint : warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Suhrkamp Berlin 2024, 168 Seiten, ISBN 978-3-518-02989-3, auch als ebook erhältlich

Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Janina Ramirez: Femina

Oxford-Historikerin Dr. Janina Ramirez, die ich in einigen Geschichtsdokus gesehen habe und die mir dort sehr positiv aufgefallen ist, hat mit Femina: Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen ein spannendes Buch geschrieben.

Ihr Werk ist keine chronologische Darstellung der Epochenereignisse wie es zum Beispiel die politische Geschichte kennt. Vielmehr zeichnet sie ein Epochenportrait – ausgehend von den Lebenszeugnissen mehrerer Individuen wirft sie Schlaglichter auf die vielfältige und bunte Welt des Mittelalters.

Dabei wird immer wieder deutlich, dass die Antworten, die die Beschäftigung mit Geschichte uns bringt, stets von den Fragen abhängen, die wir stellen. Das führt sie auch deutlich aus: Schon in ihrer Vorrede macht Dr. Ramirez klar, dass ihr Blickwinkel selbstverständlich einen Fokus bewirkt, dass ihre Fragen an die Geschichte des Mittelalters verschiedene Aspekte nicht betrachtet. Dieser kurze historiographische Exkurs macht aber eben auch deutlich, dass jede Darstellung von Geschichte einen solchen Bias hat. Was eben bedeutet: Die Historiker:innen des 19. Jahrhunderts haben ganz andere Fragen interessiert als die Historiker:innen des 20. Jahrhunderts und als Historiker:innen heute – und es ist wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein. Janina Ramirez kommt darauf auch immer wieder zurück, insbesondere dann, wenn sie die Frage stellt, warum so viele Aspekte des durchaus bunten mittelalterlichen Lebens heute nicht präsent sind.

Janina Ramirez stellt Frauen in den Mittelpunkt und schafft damit erhellende Ergänzungen zu den bisherigen Bildern vom Mittelalter. Dabei verfolgt sie keinen bilderstürmenden Furor, sondern sie zeigt auf, wie das Leben im Mittelalter eben auch war, welche vielfältigen Rollen Frauen einnehmen konnten und dass starre Geschlechterrollen auch im Mittelalter durchaus aufgebrochen worden, dass es auch im Mittelalter Menschen gab, die wir heute wohl als queer bezeichnen würden. Dabei vermeidet sie ahistorische Zuschreibungen, sie arbeitet immer quellennah und macht Lücken deutlich, wo sie vorhanden sind. Das ist Geschichtsschreibung at its best.

Besonders reizvoll finde ich Ihre Verknüpfung der Lebensgeschichten dieser Frauen mit ihrer Rezeption und vor allem immer auch mit der Entdeckungsgeschichte – seien es archäologische Funde, zufällig entdeckte Schriften oder auf abenteuerlichen Wegen gerettete Handschriften.

Dabei hat sie eine Fähigkeit, die ich an Geschichtswerken besonders schätze: Sie kann erzählen. Gerade die deutsche Historiktradition stellt diese Fähigkeit nicht in den Vordergrund, es ist wohltuend, dass die angelsächsische Tradition hier anders vorgeht. Janina Ramirez hat ein großes Erzähltalent und setzt es gut ein, um ein wirklich und im wahrsten des Wortes lebendiges Bild des Mittelalters zu zeichnen.

Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen – und zwar sowohl jenen, die sich bisher nicht intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt haben, als auch jenen, die den Eindruck gewonnen haben, bereits alles zu wissen. 🙂

Zum Instagram-Account von Dr. Janina Ramirez

Buch-Details:
Femina : eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen [OT Femina: A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It] von Janina Ramirez ; aus dem Englischen von Karin Schuler. Aufbau-Verlag Berlin, 2023, 516 Seiten. ISBN 978-3-351-04181-6. auch als eBook erhältlich.

Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Juneau Black: Mord in Shady Hollow

Cover des Buches

Juneau Black zeichnet eine kleine, recht abgeschlossene Gemeinschaft im Wald, die autark funktioniert und in der jedes Tier seine Aufgabe hat, die häufig mit den jeweiligen tierischen Eigenschaften assoziiert sind. Es gibt missmutige Kröten, neugierige Füchse und tapsige Bären.

 Alle leben mehr oder weniger harmonisch zusammen. In diese naive Gemeinschaft bricht nun die Nachricht eines Mordes ein und damit brechen so einige unter der Oberfläche gehaltene Konflikte aus. 

Menschliche Verhältnisse in Tiere zu projizieren ist eine sehr alte Erzähltechnik (die Fabel lässt grüßen). Dementsprechend hoch hängt die Latte, wenn hier neue Aspekte hinzugefügt werden sollen. Ich weiß nicht, ob Juneau Black diesen Anspruch erfüllen möchte – falls ja, wäre er aus meiner Sicht nicht gelungen. Denn es gibt hier keinen überzeugenden erzählerischen Grund, warum es sich bei den handelnden Personen um Tiere handelt – sie verhalten sich derart offensichtlich und vordergründig menschlich, der Ort ist so offenkundig und vordergründig menschlich (Sägewerk, Café, Zeitung…???), dass ich nur genervt war.

Hinzu kommt, dass es auch nicht gelingt, die Spezifika, die Tiere haben, in die Geschichte einzuweben – ganz im Gegenteil: Die Mühe, die entworfene Erzählidee in ein tierisches Setting zu platzieren, ist so sehr spürbar – bei mir schafft das ein ungutes Leseerlebnis.

Ursula Scheer verweist in ihrer Rezension in der FAZ auf Glennkill [btw: Unbedingt in der Lesung von Andrea Sawatzki anhören, ich kann das Wort Gerechtigkeit seither nicht mehr anders als geblökt hören] – allerdings nur mit dem Hinweis, dass es auch dort um Tiere ging. Dabei wäre gerade dieser Vergleich sehr ergiebig: Bei Leonie Swann sind die Schafe unzweifelhaft Schafe, sie leben in einem Schafsetting, reden über Schafthemen und haben Schafprobleme – der entscheidende Kniff bei Swann ist, dass sie unterstellt, sie wären zu ähnlichen Erkenntnisprozessen fähig wie Menschen. In Shadow Hollow hingegen ist der ungeschickte Dorfpolizist ein sehr typischer ungeschickter Dorfpolizist – und nur zufällig ein Bär. Der stinkreiche Fabrikbesitzer ist ein sehr typischer stinkreicher Fabrikbesitzer nebst sehr typischem Familienanhang – und nur zufällig handelt es sich um Biber – usw. Die Lebenswelt dieser Tierchen ist ja nicht einmal maskiert, es wirkt völlig überflüssig, diese Geschichte in einem solchen Setting zu erzählen. Außer halt, weil man nicht den drölfzigsten Das kleine Café in [beliebiger touristisch relevanter Ort] – Krimi schreiben möchte. Tatsächlich aber unterscheidet lediglich die Dichte der auf den Protagonist:innen aufzufindenden Haare diesen Krimi von allen anderen.

Mich hat das leider überhaupt nicht überzeugt.

Buchdetails:
Black, Juneau: Mord in Shadow Hollow : ein Waldtier-Krimi [OT: Shady hollow: a murder mystery]. aus dem Englischen von Barbara Ostrop. Deutsche Erstausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg 2024. 282 Seiten, ISBN 978-3-499-01356-0

Bei yourbook.shop als Printbuch oder eBook bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Monika Peetz: Sommerschwestern

Vier erwachsene Schwestern werden von ihrer Mutter in den idyllischen niederländischen Ort geladen, in dem die Familie einst ihre Sommerurlaube verbrachte. Nicht nur der Ort war idyllisch, auch die verbrachte Zeit schien eine reinste Idylle zu sein – die Abwesenheit des Allltags überdeckte die Schwierigkeiten des Zusammenlebens der Geschwister und so enstand dann das Wort von den Sommerschwestern. Die Idylle endete abrupt, als der Vater bei einem Unfall am Urlaubsort stirbt.

Seither ist viel Zeit vergangen, die Geschwister sind jede ihre eigenen Wege gegangen. Die Einladung der Mutter an den Kindheitsort, die einen Hinweis auf den Anlass vermissen ließ, irritiert die Schwestern naturgemäß und jede hat so ihre eigene Idee, was dahinter stecken könnte. Mehr sei nicht verraten, der Roman ist nicht wirklich plot-getrieben und es wäre unfair, hier weiter vorzugreifen.

Als ich diese Rezension vor vielen Monaten begann (sie blieb dann liegen – mir war irgendwie nicht nach Bloggen), war der Roman bereits ein veritabler Bestseller und inzwischen sind bereits mehrere weitere Titel mit den Protagonistinnen erschienen. Diese Tatsache ist für mich denn auch das wirklich spannende an dem Roman. Denn: Die Figuren entwickeln sich praktisch gar nicht, sie sind reißbrettartig typisiert – und das große Geheimnis ist weder überraschend noch treibt es die Geschichte entscheidend voran. Doch Bestseller entstehen nicht willkürlich – sie müssen irgendetwas treffen. Fast planbare Faktoren sind da beispielsweise die Prominenz der Autor:innen oder die Skandalträchtigkeit des Inhalts (letzteres ist freilich wenig nachhaltig – sowas nutzt sich extrem schnell ab und die geradezu notwendige Spirale ist kaum geeignet, eine lange Autor:innenkarriere zu begründen).

Bei Monika Preetz muss es aber etwas anderes, etwas werkimmanentes sein. Und es treibt mich aus beruflichem Ehrgeiz um, dass es mir schwer fällt, dieses „etwas“ zu erkennen. Der Roman ist gefällig geschrieben, ich habe ihn auch gerne bis zum Ende gelesen. Das liest sich gut weg, ich hatte nie das Gefühl, der Geschichte nicht folgen zu können oder wegen emotionaler Erschütterung inne halten zu müssen. Ein ganz klassischer Sommerroman, das ruft geradezu nach Strandkorb, Sonne und Seele baumeln lassen. Aber warum schlägt gerade dieser Roman so ein? Warum sind die Sommerschwestern so erfolgreich, dass daraus eine Bestseller-Reihe wurde?

Ich weiß es nicht. Und so bleibt mir nur zu konstatieren, dass es Monika Preetz offenkundig gelingt, an Lebenserfahrungen anzuschließen, mit denen sich viele Leser:innen identifizieren können und die mir verschlossen bleiben.

Buchdetails:
Monika Preetz: Sommerschwestern. Roman. Kiepenheuer & Witsch Köln 2022, 304 Seiten, ISBN 978-3-462-00212-6, 16 €, als ebook 9,99 €, als Audio-CD 10 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie

Elizabeth Zott scheint auf dem Weg nach oben: Die brillante junge Chemikerin hat eine Promotionsstelle und widmet sich zukunftsträchtiger Forschung.
Als sie sich gegen die Vergewaltigung durch ihren Vorgesetzten wehrt (sie bekommt einen Bleistift zu fassen und rammt ihn in dessen Körper), wird letztlich sie beschuldigt und muss unter erniedrigenden und entwürdigenden Bedingungen die Universität verlassen. Einen Bleistift wird sie aber von nun an immer bei sich tragen.
In dem Forschungsinstitut, in dem sie anschließend unterkommt, wird ihre wegweisende Arbeit gering geschätzt, nichtsdestotrotz aber ausgenutzt – ihre Ergebnisse werden sogar ohne ihr Wissen und ohne sie auch nur zu erwähnen unter dem Namen des Leiters veröffentlicht. Dass sie eine Beziehung mit dem Star des Instituts, dem Nobelpreiskandidaten Calvin Evans beginnt, fügt der Missachtung nun auch noch Missgunst hinzu.

Wenden wird sich das Blatt erst, als sie landesweit bekannt wird als Star einer Kochsendung, die so gar nicht in die vorgesehenen Schubladen passen will.

Bonnie Garmus schreibt ein modernes Märchen. Ein Märchen um eine Frau, die zunächst an der Misogynie ihres Zeitalters zu scheitern scheint, sich aber mit unbeirrbarem Vertrauen in die Macht des wissenschaftlichen Arguments aus diesen Zwängen befreit – und damit nicht allein ihre unfassbar kluge Tochter, sondern Frauen im ganzen Land inspiriert. Es ist eine großartige Idee, sie ausgerechnet eine Kochsendung kapern zu lassen. Denn sie zeigt einerseits den Wert der Care-Arbeit von Hausfrauen auf, bleibt damit vordergründig im vorherrschenden Rollen- und Weltbild, unterläuft dieses aber gleichzeitig, indem sie die Anerkennung für die komplexe und wertvolle Arbeit aufzeigt und dabei Frauen wissenschaftliches Wissen und Verständnis vermittelt – sie also intellektuell ernst nimmt. Eine neue und befreiende Erfahrung für ihr Publikum. Sie verändert dabei nicht nur ein Leben.

Es hat Elisabeth Zott nicht gegeben. Und mir scheinen im Roman auch etliche Anachronismen verbaut zu sein. Das ist aber nicht schlimm und verringert die Lesefreude überhaupt nicht, denn letztlich ist es eben ein Märchen. Mit all der Kraft, die Märchen haben können: Inspirierend, aufrüttelnd, stärkend.

Buchdetails:
Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie (OT: Lessons in Chemistry). aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Piper München 2022. ISBN 978-3-492-07109-3, gebunden, 461 Seiten, 22 €, als ebook 19,99 €

Lucy Fricke: Die Diplomatin

»Im Erfahrungsbericht meines Vorgängers hatte gestanden: Genießen Sie es! Dies ist das wunderbarste Land der Welt. Ich lasse Ihnen ein paar Restaurantempfehlungen da.
Ich hatte das Papier umgedreht, die Schubladen des leeren Schreibtisches geöffnet, die Sekretärin gefragt, doch es blieb das Einzige, was er mir dagelassen hatte. Ein paar Hinweise, wo sich gut essen ließ. Vielleicht gab es mehr nicht zu sagen. Nicht ohne Grund gab es bei uns den alten Spruch: Der Vorgänger ist der größte Idiot und der Nachfolger der größte Verbrecher.«
Friederike Andermann, kurz: Fred, hat eine erstaunliche Karriere im Diplomatischen Dienst hingelegt. Kinder alleinerziehender Mütter in prekären Verhältnissen sind dort jedenfalls Mangelware. Und nun ist sie die frisch berufene Botschafterin in Montevideo.
Sie ist eine erfahrene Diplomatin, sie hat im Irak traumatisierende Dinge gesehen und erlebt, ein Botschaftsposten, dessen Hauptaufgabe darin besteht, herumzustehen und Deutschland zu sein (eine herrliche Formulierung), verspricht die dringend benötigte Ruhe. Aber es kommt anders.
Einige Jahre später ist sie Konsulin in Istanbul und dieses Mal wird sie nicht versuchen, nach den Regeln zu spielen, sondern etwas bewirken wollen.

Etwas verwundert habe ich die Verlagsbeschreibung zur Kenntnis genommen, denn ich sehe hier keine Frau, die den Glauben an die Diplomatie verliert. Vielmehr habe ich Fred als eine Frau wahrgenommen, die nach dem Möglichen sucht. Dass Fricke ihr einen persönlichen Ratgeber beiseite stellt, der seine eigene Karriere exzellent vorantreibt, indem er strikt nach den Regeln des Betriebs spielt, ist doch kein Zufall. Vielmehr verhandelt dieser Roman die Frage, wieviel persönlicher Einsatz eigentlich erforderlich ist, um das Richtige zu tun, um sich nicht selbst zu verraten. So erlebe ich Fred eher als Diplomatin, die nicht hilflos sein will, die die Chancen und Möglichkeiten ihres Berufes nutzen will.

Damit ist sie natürlich nicht das, wofür Beamtendiplomatie sonst steht, das zeichnet Lucy Fricke auch deutlich auf. »Das Amt« belohnt solches Verhalten nicht, sondern ein Verhalten, das stets dafür sorgt, für nichts verantwortlich zu sein, sich aalglatt und stromlinienförmig überall durchzuschlängeln und rückzuversichern. Nur: Solches Verhalten bewirkt halt auch nichts. Zumindest nichts gutes. Aber damit glaubt die Protagonistin doch immer noch an Diplomatie – sie glaubt nur möglicherweise nicht mehr an den Betrieb und seine kalten Regeln.

Besonders eingenommen haben mich Lucy Frickes feiner Humor, ihre nonchalant eingespielten Punchlines (»Wir haben keine Panik, wir sind Beamte.«) und ihre mit wenigen Strichen klar gezeichneten Charaktere.

Buchdetails:
Lucy Fricke: Die Diplomatin. Claassen Verlag Berlin 2022. ISBN 978-3-546-10005-2, gebunden, 253 Seiten, 22 €, als ebook 17,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

David de Jong: Braunes Erbe

Weder Aufstieg noch Herrschaft der Nationalsozialisten wäre ohne helfende oder willfährige Unterstützer in der deutschen Wirtschaft möglich gewesen. Flick, Finck, Porsche-Piëch, Oetker, Reimann, Quandt – noch heute extrem reiche Familien haben einen Großteil ihres Aufstieges, ihres Reichtums und Einflusses dem nationalsozialistischen Regime und seinen verbrecherischen Regeln zu verdanken. Und die meisten von ihnen schweigen still darüber, huldigen noch heute ihren Vorfahren, in dem sie Gebäude, Stiftungen und Preise nach ihnen benennen.

David de Jong gelingt eine packende, plastische Schilderung des Aufstiegs und der dabei verwendeten Methoden. Dramaturgisch geschickt angeordnet, zeichnet er nach, wie aus Überzeugung oder schlichtem Opportunismus die Nähe zum Regime gesucht wurde. Skrupellos wurden jüdische Angestellte oder Geschäftspartner fallengelassen, Konkurrenten erpresst, hemmungslos wurden die Chancen ergriffen, die sich mit dem staatlich forcierten Herausdrängen jüdischer und »nichtarischer« Akteure aus der Wirtschaft ergaben. Und natürlich setzten alle Zwangsarbeiter ein.

Mindestens ebenso bedrückend ist allerdings die Nachkriegsgeschichte. Durch Lügen, Täuschen und Vertuschen gelang es, zügig das eigene Vermögen zu retten und sich nahtlos in die bundesrepublikanische Wirtschaft zu integrieren, deren Wachstum die Möglichkeit zu globalem Agieren gab. Es ist erschütternd, wie leicht die eigenen Lebenslügen vermittelbar wurden und wie tief verwurzelt sie noch heute in den Familiendynastien sind, die sich häufig bestenfalls halbherzig ihrer Vergangenheit stellen. Von ernsthaften Entschädigungen gar nicht erst zu reden (einzige Ausnahme: Die Familie Reimann).

Die noch heute wirksamen Verknüpfungen und Verbindungen, zum Teil noch heute ins rechtsextreme Milieu, zeigt de Jong unnachgiebig auf. Und auch wenn ich einiges schon gewusst habe: So richtig präsent war es mir nicht und ich bin de Jong sehr dankbar für seine klare, sachliche Darstellung. Es ist ein Dokument der Schande und es sollte uns alle hellhörig werden lassen, wenn mal wieder »Ideologiefreiheit« in der Wirtschaftspolitik gefordert wird – denn genau das ist und war die Standardbegründung: Mit Politik habe man gar nichts am Hut gehabt, man war ja nur Wirtschaftler. Profit um jeden Preis, das ist keine »Ideologiefreiheit«, das ist selbst eine Ideologie, und zwar eine, die Menschenleben kostet, die keine Gnade und keinen Anstand kennt, die über Leichen geht, die Gewalt akzeptiert, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Es ist genau diese »Ideologiefreiheit«, die VW-Manager ungerührt behaupten lässt, ein Werk in Xinjang führe zu einer Verbesserung der Situation der unterdrückten, geknechteten Uiguren. Ein Werk, dass in Zusammenarbeit mit einem Staatskonzern betrieben wird – eben jenes Staates wohlgemerkt, der die Menschen dort unterdrückt. Mit demselben Zynismus behaupteten seine Vorgänger, den Zwangsarbeitern im KdW-Werk sei es sehr gut ergangen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen zu diesem Thema, ist diese hier nicht nur fachlich fundiert und mit umfassenden Quellennachweisen belegt, sondern auch literarisch exzellent geschrieben. So muss Geschichtsvermittlung sein!

Buchdetails:
David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. aus dem Englischen von Jörn Pinnow und Michael Schickenberg. Kiepenheuer & Witsch Köln 2022, ISBN 978-3-462-05228-2, gebunden, 496 Seiten, 28 €, als ebook 24,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.