Auf dem Nachttisch (10)

Der Stapel auf dem Nachttisch erreicht mal wieder bedrohliche Höhen – allerhöchste Zeit, einige Bände herunterzuräumen. Heute haben wir eine norwegische Krankenschwester, zwei grandios wütende Wahlschwestern, einen israelischen Alleskönner und eine Kekse verteilende Provenienzforscherin dabei.

Coverabbildung des Romans "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid von Alena Schröder

Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Erstmal: Was für ein toller Romantitel? Wer da nicht interessiert zugreift und zumindest mal den Klappentext liest, ist ein mir unbegreiflicher Mensch.

Hannah steckt fest. Ihr Dissertationsprojekt ist in einer Sackgasse gelandet, so richtig motivieren kann sie sich auch nicht. Dass sie vor einigen Monaten Sex mit ihrem Doktorvater hatte, macht die Situation nicht einfacher. Regelmäßig besucht sie ihre Großmutter Evelyn in deren Seniorenresidenz. So vergehen Tage, so vergehen Wochen, so vergehen Monate. Die Geschichte setzt ein, als ein Brief von einer Anwaltskanzlei eintrifft. Diese auf Restitutionsfragen spezialisierte Kanzlei teilt mit, dass Ansprüche auf arisierten Besitz von Evelyns Mutter bestehen könnten. Diese Mutter aber wird von Evelyn, die bei ihrer Tante aufwuchs, konsequent verleugnet., sie weigert sich, zu dem Thema auch nur irgendetwas zu sagen – gibt Hannah aber den Brief mit.

In ihren Nachforschungen öffnet sich Hannah ein ihr völlig unbekanntes Kapitel ihrer Familiengeschichte. Alena Schröder kontrastiert diese mühsame Suche nach den Puzzlestücken, von denen unklar ist, was sich bei ihrem Zusammensetzen ergeben wird, mit der Erzählung der Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter und deren Schwester.

Mir gefällt hier besonders, wie Alena Schröder die Entscheidungen und Handlungen der Protagonist:innen einbettet in deren Lebensumstände, Weltanschaungen und Wertvorstellungen – mit immer wieder im klassischen Sinne tragischen Ergebnissen. Das lässt sie sehr lebendig werden und hat zumindest bei mir immer wieder zum Innehalten geführt. Denn so unsympathisch mir auch etliche Figuren waren: Ganz häufig konnte ich nachvollziehen, warum sie sich so entschieden haben, wie sie sich eben entschieden. Was – insbesondere in Hannas Zeitlinie – die resultierenden Handlungen gerade der anwesenden Männer nicht besser macht. Und: Die Geschichte läuft nicht nach Schema F ab – auch der Plot hebt sich wohltuend von den herzerwärmenden Familienromangeschichten ab (deren eskapistischen Wert ich nicht schmälern möchte). Es gibt die eine oder andere Wendung, die mich überrascht hat. Habe mich durchaus gelegentlich ertappt, wie ich dachte: „Och nö, nicht doch“ – und dann ging es doch in eine andere Richtung weiter. Mein Herz allerdings gehört ganz und gar Marietta Lankwitz. Keks?

Buchdetails:
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid : Roman ; dtv München 2021, 366 Seiten ; ISBN 978-3-423-28273-4 ; als Taschenbuch 13 € ; als ebook 10,99 € ; als Hörbuch 11,19 €

Coverabbildung des Buches "Wenn wir lächeln von Mascha Unterlehberg

Mascha Unterlehberg: Wenn wir lächeln

Jara und Anto lernen sich beim Fußball kennen – und werden schnell verschworene Freundinnen. Wenn nicht sogar Schwestern.

Was in diesem kurzen Roman tatsächlich passiert – „tatsächlich“ im Sinne eines stringent zu erzählenden Plots, ist gar nicht mal so genau zu sagen. Da bleiben Unklarheiten, Ungewissheiten. Gleichzeitig aber ist sehr klar zu fassen, was geschieht. Mascha Unterlehberg erzählt mit einer bezwingenden Sprache die Geschichte einer Schwesternschaft, die sich gegen die Welt, gegen männliche und patriarchale Zumutungen stellt und sich in ihrer Wut nicht aufhalten lässt. Hier erleben wir zwei junge Frauen, die sich nicht ergeben, nicht ihr Leid hinnehmen, sondern mit Wucht zurückschlagen. Was mich besonders beeindruckt hat: Es geht hier viel um Gewalt – aber sprachlich ist dieser Roman voller Zartheit, voller Humor und doch unerbittlich unverblümt. Und damit unfassbar wirkmächtig.

Buchdetails:
Mascha Unterlehberg: Wenn wir lächeln : Roman ; DuMont Köln 2025, 253 Seiten ; ISBN 978-3-7558-0036-1 ; als Hardcover 23 € ; als ebook 19,99 € ; als Hörbuch 14,89 €

Coverabbildung des Buches "Station 22" von Anne Elvedal

Anne Elvedal: Station 22. Wo bist Du sicher?

Ida ist Krankenschwester auf Station 22, einer psychiatrischen Krankenhausstation. Dort ist sie beliebt, insbesondere bei den Patientinnen. Ihr kommt dabei zugute, dass sie aufgrund ihrer traumatischen Kindheitsgeschichte besonders empathisch auf sie eingehen kann. Dieses Trauma sitzt so tief, dass es bis heute und bis in die kleinsten Details ihres Alltags hineinwirkt.

Das Verschwinden einer Patientin, die angegeben hatte, verfolgt zu sein und deren Eltern diametrale Positionen zu den Ursachen ihres Verschwindens vertreten, löst eine Kette von weiteren Entwicklungen aus, die offenbaren, dass hier schrecklichste Befürchtungen wahr werden.

Der Thriller ist spannend und in seiner Intensität durchaus geeignet, gängige Vorstellungen über skandinavische Spannungsliteratur zu bestätigen. Wir haben es hier mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun. Dagegen wäre wenig einzuwenden, mich aber hat es nach einer Weile doch sehr enerviert – denn, wenn die Erzählerin so unzuverlässig ist, dass man gar nichts mehr glauben kann, wird es für mich öde. Wen das nicht stört, der kommt hier aber voll auf seine Kosten.

Buchdetails:
Anne Elvedal: Station 22. Wo bist du sicher? : Thriller [OT: Du kan kalle meg Jan] ; aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann ; Ullstein Paperback Berlin 2025, 352 Seiten ; ISBN 978-3-86493-351-6 ; als Paperback 16,99 € ; als ebook 13,99 € ; als Hörbuch 19,59 €

Coverabbildung des Buches "Die Fälschung" von Daniel Silva

Daniel Silva: Die Fälschung

Gabriel Allon hat seine Geheimdienstkarriere beendet. Aber natürlich ist er nicht der Typ für gemütlichen Ruhestand mit Rotwein und schönem Ausblick vom Balkon. Naja, möglicherweise ist er das schon – aber bei einer solchen Biographie lässt einen die Welt nie in Ruhe.

Als er also auf eine spektakuläre Kunstfälschung stößt, gerät er sehr schnell in den Strudel sehr schwerer Interessenten mit nicht besonders lauteren Interessen. Und schon sind Frau und Kinder doch nicht mehr der einzige Lebensinhalt und er stürzt sich in die Aufdeckung dieses Skandals.

Allon ist nicht nur begnadeter Kunstrestaurator, er ist natürlich auch begnadeter Kunstfälscher, begnadeter Agent, begnadeter Netzwerker und begnadeter Zweikämpfer. Marvel-Superhelden können einpacken gegen Gabriel Allon. Als Leser begleitet man ihn durch die Welt und sieht, wie er mit brutalen Schlägern ebenso umgehen kann wie mit raffinierten Spionen. Hinterhöfe sind genauso sein Metier wie Hochfinanzviertel und Kunstgalerien. Auch wenn es zwischendurch so aussieht, als könnte ihm doch nicht alles gelingen oder er vielleicht doch nicht alles wissen – dieser Eindruck wird regelmäßig und zügigst wieder korrigiert.

Ich verstehe, dass es hierfür ein Publikum gibt und es Freude machen kann, einem solchen Helden zu folgen. Mir jedoch liegt das leider gar nicht, ich finde solche Alleskönner sehr öde. Dies ist der 22. Roman in der Gabriel Allon-Reihe und der erste, den ich gelesen habe. Es wird der einzige bleiben.

Buchdetails:
Daniel Silva: Die Fälschung : ein Gabriel-Allon-Thriller [OT: Portrait of an unknown woman] ; aus dem amerikanischen Englisch von Wulf Bergner ; HarperCollins Hamburg 2023, 447 Seiten ; als Paperback 16 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 15,79 €

Auf dem Nachttisch (9)

Heute räume ich wieder drei Bücher vom Nachttisch. Es fällt mir dieses Mal etwas schwer, da eine inhaltliche Klammer zu finden – daher geht an dieser Stelle ohne eine solche los:

Allie Reynolds: Blutige Bucht

Als Kenna von ihrer Freundin Mikki hört, dass sie heiraten will, ist sie alarmiert. Nicht allein, dass sie den Mann erst seit kurzem kennt – sie klingt einfach auch nicht nach der Freundin, die sie kennt. Also fliegt sie kurzerhand nach Sydney, um sie zu überraschen.

Beruhigend sind ihre Beobachtungen vor Ort nicht, besonders dann, wenn Mikki nicht allein mit ihr ist, wirkt sie verändert. Gemeinsam mit einigen Freunden soll es zum Surfen gehen – zu einer Bucht, die nur sie kennen. Im Laufe der wenigen Tage, die sie dort sind, offenbaren sich Gruppendynamiken und jede Menge rote Flaggen. Und dann sterben Menschen…

Allie Reynolds ist geübte Thriller-Autorin und dieser ist rasant erzählt, mit der geschickt gewählten Perspektive der Gruppenaussenseiterin Kenna (die ja weder zur verschworenen Surfer-Gruppe gehört, noch überhaupt deren Surfleidenschaft teilt) gibt es wenig Gewissheiten. Einen besonderen Reiz macht zudem die unverkennbare Insider-Perspektive der Autorin aus – Allie Reynolds stand mit Sicherheit schon auf Boards und wartete auf die passende Welle. Ich mag es sehr, wenn das Setting so selbstverständlich ist, dass auch der völlig fachfremde Lesende die Faszination nachvollziehen kann. Ich bin mir sicher, Thriller-Freunde werden hier auf ihre Kosten kommen.

Buchdetails:
Allie Reynolds: Blutige Bucht : Thriller [OT: The bay] ; aus dem Englischen von Sybille Uplegger ; HarperCollins Hamburg 2023, 413 Seiten ; ISBN 978-3-365-00287-2 ; als Paperback 17 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 17,95 €

Anne Sauer: Im Leben nebenan

The road not taken: Was, wenn wir im Leben eine andere Abzweigung nehmen würden? Und was wäre der tatsächliche Unterschied?

Toni wacht eines Morgens nicht dort auf, wo sie eingeschlafen ist. Und nicht nur der Ort ist anders, sie ist in einem anderen Leben gelandet. Statt einer Wohnung in der Großstadt mit Jakob ist ihr Lebensort ein Haus auf dem Land mit Ehemann Adam, einer omnipräsenten Schwiegermutter und statt einer Fehlgeburt hat sie nun ein Kind.

Der Gedanke »Was wäre, wenn?« ist zunächst einmal ja ein Grundgedanke von Literatur überhaupt. Was Anne Sauer hier aber macht, nämlich einerseits ihre Protagonistin mit dem Wissen um ihr anderes Leben auszustatten und andererseits immer wieder in das Original?-Leben herüberzublenden, erzeugt eine besondere Spannung. Und illustriert die Kämpfe und Krämpfe, die Zumutungen und Anmutungen verschiedener Lebenswege sehr eindrücklich. Tonis und Antonias Sehnen und Suchen nach ihrem Weg, nach ihrem Leben hat mich nachhaltig beeindruckt. Ich mag die konsequent weibliche Perspektive, die der Roman einnimmt. Eine Perspektive, die sich selbst nicht in den Vordergrund stellt und gerade dadurch eine berührende und dennoch klare Sprache findet und ich werde noch lange über diesen Roman nachdenken.

Buchdetails:
Anne Sauer: Im Leben nebenan : Roman. dtv München 2025, 272 Seiten ; ISBN 978-3-423-28483-7 ; als Hardcover 23 € ; als ebook 16,99 € ; als Hörbuch 15,79 €

Sylvia Kaml: Solar System – Lost

In der Zukunft dieses Romanes ist es der Menschheit gelungen, die Ressourcen des Sonnensystems nutzbar zu machen und so gibt es Kolonien, Raumstationen und Minen überall im Sonnensystem verteilt. Aber es ist nicht alles Friede. Freude, Eierkuchen und beim Solar-Bund unter Führung der Erde wollen nicht alle mitspielen. Auf dem Mars mit der Kolonie Adventiva zum Beispiel hat sich eine rassistische, eugenische Überwachungsdiktatur etabliert. Aus eben dieser und der Übermacht seines sadistischen Vaters möchte Generalssohn Ray fliehen – er desertiert, versteckt sich und baut sich ein Fluchtfahrzeug. Als Teil einer sehr kruden Crew gerät er in die Suche nach einem Artefakt, hinter dem mindestens das halbe Sonnensystem, auf jeden Fall aber einige mächtige Personen her sind.

Sylvia Kaml hat ein klassisches Sci-Fi-Abenteuer geschrieben mit allem, was dazugehört. Skrupellose Wissenschaftler, grausame Militärs, geheime Forschungen, politische Verwerfungen und Außenseiter mit besonderen Fähigkeiten, die sich so zufällig wie schicksalhaft begegnen. Flüssig erzählt, klar strukturiert und natürlich wird mal wieder viel zu wenig auf die kluge Frau gehört… Das hat Spaß gemacht, auch wenn ich nichts gegen vielschichtigere Figurenzeichnung gehabt hätte. So liest sich das gut weg und ich habe nichts gegen ein anständiges Abenteuer zwischendurch. 🙂

Buchdetails:
Sylvia Kaml: Solar System: lost : Hard Science Fiction. dp Verlag Stuttgart 2023, 442 Seiten ; ISBN 978-3-98778-513-9 ; als Paperback 13,99 € ; als ebook 5,99 € ; als Hörbuch 12,79 €

Auf dem Nachttisch (8)

Es ist wieder an der Zeit, ein paar Bücher vom Nachttisch zu räumen. Dieses Mal drei Bücher, bei denen es in unterschiedlicher Weise um unsichere Wahrheiten geht und die Bilder, die wir uns von uns selbst oder von anderen machen.

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Johanna kommt nach Jahrzehnten in ihre Heimat zurück. In eine Heimat, deren Offizielle sie mit einer Retrospektive ehren, in der aber ihre Familie sie ablehnt. Insbesondere ihre Mutter verweigert jeden Kontakt. Nun ist sie selbst keine junge Frau mehr, ihr Mann verstorben, ihr Sohn ausgezogen und sie versucht, die Gräben zu überwinden. Immer wieder versucht sie neue Wege, sich ihrer Mutter zu nähern, den festen Panzer der Ablehnung zu durchbrechen. Doch dieser Panzer besteht aus Wahrheit. Aus der Wahrheit, die ihre Mutter entwickelt hat, ganz eigene Erzählungen, die sich von Johannas eigenen massiv unterscheiden.

Ich habe die Ambivalenz aus dem Wunsch, die Mauern niederzureißen und sich selbst aber weder aufzugeben noch leiden zu wollen, jederzeit klar spüren können. Die schlichte, aber emotional tiefe Sprache hat mich begeistert. Die Redundanz ohne Entwicklung machte das Werk schwer zu ertragen – und das ist wahrscheinlich werkimmanent, aber es fiel mir schwer, bis zum Ende dranzubleiben.

Buchdetails:
Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter : Roman [OT: Er mor død] ; aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023, 398 Seiten, ISBN 978-3-10-397512-3 ; als Hardcover 24 € ; als Taschenbuch 15 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 19,95 €

Zoë Beck: Memoria

Harriet rettet eine Frau vor einem Brand – und anschließend ist nichts mehr wie vorher. Aus ihr nicht verständlichen Gründen tauchen Fragmente in ihren Erinnerungen auf, die nicht zu ihren Erinnerungen passen. Stück für Stück bricht ihre eigene Geschichte auseinander.

Was macht das mit einem Menschen, wenn er sich auf seine eigenen Erinnerungen nicht verlassen kann? Harriet zumindest nimmt das nicht hin und beginnt nachzuforschen. Eine nicht ganz ungefährliche Idee, denn es gibt Gründe…

Zoë Beck, the Queen of Near Future-Thriller, schont auch dieses Mal ihr Publikum nicht, Unzuverlässige Erinnerungen treffen auf undurchsichtige Figuren, technische Möglichkeiten und skrupellose Machenschaften. Die Spannung entsteht dabei nicht allein durch den Plot, eine der erschreckendsten Erkenntnisse beim Lesen ist: Das alles könnte genau so geschehen – und vielleicht geschieht es schon.

Buchdetails
Zoë Beck: Memoria : Thriller ; Suhrkamp Verlag Berlin 2023, 280 Seiten ; ISBN 978-3-518-47292-7 ; als Paperback 16,95 € ; als ebook 14,99 € ; als Hörbuch 20 €

Tom Hillenbrand: Die Erfindung des Lächelns

Leonardo da Vincis Mona Lisa ist von Legenden umrankt, wozu auch die Legende gehört, es sei vor seinem Diebstahl aus dem Louvre 1911 nahezu unbekannt gewesen. Wie das mit Legenden so ist, so ist auch das natürlich ebenso unrichtig wie nicht ganz falsch. Vor 1911 war die Mona Lisa noch nicht das Überbild, der Übermythos, zu dem das Gemälde heute geworden ist.

Es gibt kaum eine prominente Persönlichkeit aus der Zeit, die nicht mit dem Diebstahl in Verbindung gebracht wurde. Tom Hillenbrand webt aus den unzähligen Legenden und Gerüchten ein Panorama der flirrenden, nervösen Zeit am Ende der Belle Epoque. Mich haben die zahlreichen realen Personen etwas gestört, es hatte ein bisschen was von Name-Dropping – für mich war das unnötig und lenkte etwas ab, weil es einen Fokus verschiebt. Der Roman wäre auch ohne dieses Panoptikum gelungen. Aber meine persönlichen Befindlichkeiten sollen nicht schmälern, dass dieser Roman ein dichtes Portrait der Endzeit des langen 19. Jahrhunderts zeichnet und die Stimmung mindestens einiger Gesellschaftsschichten einfängt und nachempfinden lässt.

Buchdetails
Tom Hillenbrand: Die Erfindung des Lächelns : Roman, Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 2023, 503 Seiten, ISBN 978-3-462-00328-4 ; als Hardcover 25 € ; als Taschenbuch 16 € ; als ebook 12,99 € ; als Hörbuch 25 €

Auf dem Nachttisch (7)

Auf geht’s mit einer neuen Runde Kurzrezensionen. Heute geht es insgesamt sehr abenteuerlich zu, mal im historischen London, mal im zeitgenössischen Singapur und einmal rund um die Welt mit einem preußischen Bergbaubeamten.

Mat Osman: Das Vogelmädchen von London

Shay hat eine bemerkenswerte Berufskombination: Sie überbringt Botschaften, ist Falknerin und Wahrsagerin im spätelisabethanischen London. Mit dieser Mischung sind ihre Dienste gleichzeitig begehrt wie sie auch gering geschätzt werden. Reichtum gehört mithin nicht zu ihren Privilegien. Aber es dürfte wohl nur wenige Menschen geben, die mehr von dem mitbekommen, was in der Stadt geschieht. Und sie führt ein Doppelleben in dem Sinne, dass sie Teil einer Gemeinschaft ist, die Vögel als Götter verehrt und die deshalb außerhalb der offiziellen Gesellschaft lebt. Das bringt einige Komplikationen mit sich, die sich nicht verringern, als sie Vögel aus der Gefangenschaft ihrer Auftraggeber frei lässt.

Dieser Roman ist als „historischer Roman“ gelabelt und tatsächlich hatte ich beim Lesen das Gefühl, in einem historischen London unterwegs zu sein. Das heißt, nicht selten auch über dem historischen London, wie bei einer vogelaffinen Heldin nicht weiter überraschend, gehen viele Wege über die mehr oder weniger eng stehenden Häuserdächer – gerade, wenn es untergeschossig mal wieder eng wird mit den Schergen und sonstigen Unsympathen. Und auch wenn hier auf einen mysteriösen Vogelkult abgehoben wird: Die Atmosphäre der religiösen Verfolgungen in Elisabeths England wird hier spürbar und erlebbar.

Ein gut erzählter, spannender Abenteuerroman, der sich an ein junges Publikum richtet. Hat mir sehr gefallen.

Mat Osman: Das Vogelmädchen von London : Historischer Roman [OT: The ghost theatre] ; aus dem Englischen von Ulrike Seeberger, Rütten & Loening Berlin 2023, 493 Seiten, ISBN 978-3-352-00993-8 ; als Hardcover 22 € ; als ebook 16,99 € ; als Hörbuch 16,99 €

Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur

Dieses Buch wirkt wie eine Alexander von Humboldt-Biographie, wurde auch so vermarktet. Tatsächlich ist sie das aber nicht – auch wenn sich hier sehr viel über Humboldts Leben erfahren lässt. Vielmehr hat Andrea Wulf eine Geistesgeschichte Alexander von Humboldts geschrieben. Es gibt nicht viele Menschen, bei denen sich das überhaupt machen ließe. Humboldts Wirken aber ist so umfangreich, so weitreichend, dass er tatsächlich eine eigene Kategorie darstellt.

Wulf entwickelt entlang wichtiger Stationen von Humboldts Leben dessen Weltsicht, die sich aus seiner ungezügelten Neugier, seiner Begeisterung und seiner Offenheit speist. Seinen ganzheitlicher Ansatz, der sich auf besondere Weise mit einer sehr genauen Beobachtung und Messungen verbindet und der in seinem Kosmos-Werk kulminiert, stellt Andrea Wulf besonders heraus. Und immer wieder in den Zusammenhang mit Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern. Dabei entsteht ein unglaublich lebendiges Bild, entstehen Zwiegespräche, die ganz tief in die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts eintauchen lassen. Ich war ja schon länger von Alexander von Humboldt fasziniert – Andrea Wulf hat mich für ihn begeistert.

Buchdetails:
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur [OT: The invention of nature] ; aus dem Englischen übertragen von Hainer Kober, C. Bertelsmann München 2016, 555 Seiten, ISBN 978-3-570-10206-0 ; als Hardcover 28 € ; als Taschenbuch 16 € ; als ebook 14,99 € ; als Hörbuch 14,99 €

Silke Tobeler: Majulah! Gestrandet in Singapur

Franzi und Finn sind frisch an einer hochangesehenen Hamburger Journalistenschmiede abgelehnt worden und machen sich nach Australien auf. Sie kommen aber nur bis Singapur. Was zum einen an ihrem verwegenen Plan liegt, zunächst nur bis Singapur zu buchen und dann von dort aus günstige Anschlussflüge nach Australien zu finden. Zum anderem aber auch daran, dass sich ihre kurze Bekanntschaft als nicht sehr tragfähig erweist – schon gar nicht, um gemeinsam ans andere Ende der Welt zu flieg(h)en.

Während Finn im Gefängnis landet, weil er unvorsichtig genug ist, sich beim Kiffen erwischen zu lassen, gelangt Franzi in die Obhut eines Pfarrers, der sie in einem Kloster unterbringt. Abgeschieden von den Zumutungen der Welt lernt sie dort eine Sara Smit kennen, deren Ausstrahlung sie fasziniert und mit der sie einen wilden Road-Trip nach Malaysia und in die Vergangenheit unternimmt.

Ausgehend von der historischen Geschichte Maria Hertoghs erzählt Silke Tobeler eine Selbstfindungsgeschichte, die mich überhaupt nicht überzeugt. Ihre Figuren befinden sich in existentiellen Krisen oder kämpfen mit jahrzehntealten Traumata und entwickeln sich im Laufe der Geschichte überhaupt nicht weiter, bis sich alles in Wohlgefallen auflöst. Ihre Sara Smit weiß alles und kann alles, Franzis Offenheit ist pure Naivität und überhaupt sind die Figuren des Romans klischeehaft, statische Holzschnitte. Was sehr schade ist, denn die Grundidee ist durchaus reizvoll.

Buchdetails:
Silke Tobeler: Majulah! – Gestrandet in Singapur [auch u.d.T. Malayas Echo – das Geheimnis der Sara Smit], Nova MD Vahlendorf, 978-3-98595-010-2, 236 Seiten ; als Softcover 10,95 € ; als ebook 4,99 € ; als Hörbuch 4,29 €

Auf dem Nachttisch (6)

Ein neuer Schwung Kurzrezensionen. Dieses Mal mit dem BND, einer Afghanistanreise, ermittelnden Rentern und einer Migrantenmutti.

Wolf Harlander: Systemfehler

Nach zunächst vereinzelten Ausfällen an neuralgischen Punkten bei kritischer Infrastruktur wie Kliniken, Flughäfen oder U-Bahnen, sind die europäischen Geheimdienste alarmiert. Anfangs allerdings zeigt man sich insbesondere beim BND nicht bereit, das Undenkbare zu denken: Könnte es einen Feind geben, der in der Lage ist, nach Belieben in die vernetzte Infrastruktur einzudringen und Krankenhäuser, Energieversorger, Verkehr – einfach alles und jeden lahmzulegen? Die Realität beendet dann zügig alles Leugnen, denn genau das geschieht. Wolf Harlander erzählt die Geschichte dieses Blackouts routiniert: Es gibt beim BND den Außenseiter, dem nicht geglaubt wird und natürlich wird zunächst ein Unschuldiger gejagt. Geschickt verknüpft er die Schilderung der mannigfaltigen Auswirkungen des Zusammenbruchs mit den verschiedenen Familienmitgliedern des Protagonisten. Durch ihre sehr unterschiedlichen Perspektiven und Lebensumstände gelingt dabei ein umfassender Rundumblick. IT-Fans werden sicherlich einige Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten ausmachen können, aber Harlander zeichnet auf jeden Fall ein überzeugendes Bild davon, wie abhängig unsere moderne Welt von funktionierender Technik ist – und wie angreifbar sie ist, weil eben alles mit allem verbunden ist. Der Spannungsplot ist typisch für das Genre, ich fand die Auflösung etwas plump und wenig überraschend. Dass Harlander aber einen überzeugenden Blick auf die Berührungspunkte von Islamismus und Rechtsextremismus wirft und dabei darstellt, wie schnell beide zusammenarbeiten können, um das gemeinsam verhasste „System“ zu destabilisieren, ist jedoch ein echter Gewinn dieses Romans.

Buchdetails:
Wolf Harlander: Systemfehler : Thriller. Rowohlt Polaris Hamburg 2021, 493 Seiten, ISBN 978-3-499-00661-6 ; als Paperback 16 € ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 19,95 €

Roger Willemsen: Afghanische Reise

2006 reist Roger Willemsen nach Afghanistan, in Begleitung einer afghanischen Freundin, um das Land kennenzulernen, das gerade eine 25jährige Kriegsgeschichte hinter sich hatte. Ein Land im Aufbruch, ein Land voller Hoffnung.

Willemsen zeigt sich als offener, interessierter Beobachter, der seinen Gesprächspartner:innen Raum gibt. Es ist berührend, wie in diesem geplagten Land Hoffnung aufkeimt, wie Menschen, die teils seit Jahrzehnten offen oder versteckt Freiräume suchen und geschaffen haben, jetzt endlich frei atmen und voller Tatendrang sind, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Und es schmerzt ungemein, davon nun zwanzig Jahre später zu lesen, da all dies wieder verloren ist.

Buchdetails:
Roger Willemsen: Afghanische Reise. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2007, 221 Seiten, ISBN 978-3-596-17339-6 ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 9,99 €

Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel

Die Rentner-Gang des Donnerstagsmordclubs widmet sich dieses Mal einem zehn Jahre alten Fall. Die Journalistin Bethany Waites hatte in einem Steuerbetrugsfall recherchiert und wurde ermordet. Dieses Mal geraten sie allerdings auch ernsthaft in Gefahr, insbesondere als MasterMind Elisabeth entführt wird. Richard Osman ist ein routinierter Autor, der genau weiß, wie man Geschichten aufbaut und der ein Händchen für skurrile Charaktere hat. Mit Band drei lässt die Serie aber doch etwas nach – denn das Konzept lebt natürlich von der Originalität. Hier aber wirkt nun doch einiges schon etwas eingefahren. Aber das ist schon Jammern auf einem erheblichen Niveau, auch der dritte Fall ist souverän geschrieben und ein großer Spaß.

Buchdetails:
Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel : Kriminalroman [OT: The bullett that missed] ; aus dem Englischen von Sabine Roth, 430 Seiten, List Verlag Berlin 2023, 978-3-471-36052-1 ; als Paperback 17,99 € ; als Taschenbuch 12,99 € ; als ebook 10,99 € ; als Hörbuch 18 €

Elina Penner: Migrantenmutti

Soziale Codes sind ganz häufig Distinktions- und Exklusionswerkzeuge. Häufig bewusst eingesetzt, sehr oft aber auch unbewusst. Elina Penner öffnet dazu mit klarem Blick, schnoddrigem Ton, kluger Reflexion und warmem Herzen viele Perspektiven.
An ganz alltäglichen Situationen – vom Mittagessen mit Gastkindern über Besucherstraßenschuhe bis zu Cousin-reichen Familienfeiern – zeigt sie die manchmal unsichtbaren Grenzen auf, die zu Missverständnissen, Ausgrenzung und Abwertung führen können.

Ihr unbestreitbares satirisches Talent macht aus dieser Essaysammlung eine Lektüre, die mir viel Freude gemacht hat, bei der ich sehr viel gelacht habe und über die ich immer wieder nachdenke.

Buchdetails:
Elina Penner: Migrantenmutti. Aufbau-Verlag Berlin 2023, 207 Seiten, ISBN 978-3-351-04208-0 ; als Paperback 18 € ; als ebook 13,99 € ; als Hörbuch 14,99 €

Gachmurets Notizblog per email abonnieren:

Auf dem Nachttisch (5)

In der fünften Ausgabe der Nachttischrezensionen geht es dieses Mal recht heftig zu. Ohne Machtmissbrauch oder Gewalt kommt dieses Mal kein Buch aus…

Anna Benning: Was die Magie verlangt

Genre-Literatur wird gerne mal naserümpfend betrachtet. Und spätestens seit es Buchblogs gibt, tobt darum ein immer wieder aufflammender Diskurs. Leider dreht dieser sich seit zwanzig Jahren im Kreis, weil es den Diskursteilnehmenden nicht gelingt, ihre Begriffe und Kategorien zu klären. Ich möchte mich daran nicht beteiligen, wie gehabt steht dieser Blog unter dem Moers’schen Diktum Lest Straßenschilder und Speisekarten, lest die Anschläge im Bürgermeisteramt, lest von mir aus Schundliteratur – aber lest! Lest! Sonst seid ihr verloren!

Beim Auftakt der Dark-Sigils-Trilogie handelt es sich um Urban Fantasy, noch dazu welche, die sich an Menschen mit einer kurzen Lesebiographie richtet. Wir begleiten die junge Heldin Rayne, die in den Armenvierteln Londons lebt und dort versucht über die Runden zu kommen, bei der Entdeckung ihrer mächtigen Fähigkeiten, die sie beherrschen lernen muss und die sie gleichzeitig weit aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen führen. Magie beruht in diesem Universum auf einer dunklen Flüssigkeit, die in Artefakten – Sigils – eingeschlossen ist.

Das gelingt ihr nicht ohne Unterstützung, insbesondere durch Protagonist:innen, die im Umgang mit der Magie geübter sind und mehr über deren Regeln und Wirkungen wissen.

Und bei aller Auserwähltheit, die offenkundig ist und Lesende daher fest an Raynes Überleben und Erfolg glauben lässt, erlaubt Anna Benning ihrer Heldin Fehler, Scheitern und Lernen. Das macht mir den spannend, flüssig und gut geschriebenen Roman sehr sympathisch. Diese Heldin habe ich gerne begleitet.

Buchdetails:
Anna Benning: Was die Magie verlangt [=Dark Sigils Band 1], Fischer KJB Frankfurt am Main, 2022, 482 Seiten, 978-3-7373-6200-9 ; als Hardcover 19 € ; als ebook 14,99 € ; als Taschenbuch (ET August 2025) 11,90 € ; als Hörbuch 24,95 €

Stephen Fry: Troja

Die Neuerzählung antiker Mythen ist ein literarischer Dauerbrenner. Jede Zeit scheint ihren ganz eigenen Zugriff darauf zu suchen und bietet in der Auseinandersetzung mit den inzwischen jahrtausendealten Stoffen spannende Einblicke in ihren jeweiligen Zeitgeist.

Ob Stephen Fry nun als prototypischer Vertreter des Zeitgeistes betrachtet werden kann (wie es etwa Gustav Schwab zweifellos war), daran habe ich doch einige Zweifel. Aber ohne Zweifel repräsentiert er einen zeitgenössischen Blick.

In einer reizvollen Nacherzählung des komplexen Ilias-Stoffes brilliert Fry durch Humor und Lockerheit, ohne dabei albern oder flapsig zu werden. Damit gelingt es ihm meiner Meinung nach sehr gut, eine klassische Perspektive ins Hier und Heute zu transponieren. Dabei entseht ein kurzweiliges Werk, das sich ausgezeichnet lesen und dabei den schieren Umfang glatt vergessen lässt. Eine Neuerzählung oder gar Neudeutung des Mythos ist das nicht. Muss es ja aber auch gar nicht sein.

Buchdetails:
Stephen Fry: Troja : von Göttern und Menschen, Liebe und Hass [OT: Troy] ; aus dem Englischen von Matthias Frings, Aufbau-Verlag Berlin 2022, 375 Seiten, ISBN 978-3-351-03927-1 ; als Hardcover 26 € ; als ebook 16,99 € ; als Taschenbuch 16 € (ET November 2025) ; als Hörbuch 24 €

Anika Landsteiner: Nachts erzähle ich Dir alles

Léa muss aus ihrem Leben heraus – und ist in der glücklichen Lage, das leer stehende Familienanwesen an der Côte d’Azur benutzen zu können. Wie häufig bei solchen Fluchten so ist auch diese der Auftakt einer Katharsis. Zunächst aber begegnet ihr eine junge Frau, die das Gelände und Haus gerne als Rückzugsort nutzt, als einen safe space vor all den Zumutungen, mit denen heranwachsende junge Frauen konfrontiert werden.

Sie sprechen lange miteinander, direkt und herausfordernd die eine, sich plötzlich sehr erwachsen fühlend die andere. Am nächsten Tag ist die junge Besucherin tot und zusammen mit ihrem verzweifelten Bruder beginnt Léa nachzuforschen, was geschehen ist.

Dabei wird ihr allmählich klar, dass Haus, Anwesen und Ort durchaus nicht der idyllische Rückzugsort ihrer Erinnerung ist. Was nach einem durchaus kitschigen Plot klingt, ist in Wirklichkeit die Geschichte einer Ermächtigung. Einer Selbstermächtigung, die die Komplexität von Gegenwart, Vergangenheit und den vielfältigen Beziehungen sich nahe stehender Menschen akzeptiert und kennt, sich darin aber eben nicht verliert, sondern zur Selbstbestimmung führt. Ein Roman, zurückhaltend in Sprache und Form – aber wuchtig in seiner Wirkung.

Buchdetails:
Anika Landsteiner: Nachts erzähle ich dir alles : Roman, Fischer KRÜGER Frankfurt am Main 2023, 366 Seiten, ISBN 978-3-8105-3087-5 ; als Hardcover 24 € ; als ebook 12,99 € ; als Taschenbuch 14 € ; als Hörbuch 19,49 €

Anne Holt: Ein notwendiger Tod

Selma Falck wacht in einer brennenden Hütte irgendwo im Schnee auf irgendeinem Berg auf. Es gelingt ihr, sich geradeso noch zu retten, ehe das Gebäude bis auf die Grundmauern abbrennt.

Ganz offenkundig sollte sie sterben – jemand anderes ist aber auch gestorben. Während sie sich durch Kälte, Schnee und Wildnis und um ihr Leben kämpft, gewinnt sie allmählich ihre Erinnerungen zurück.

Aus den Rückblicken wird allmählich klar, dass hier ein Komplott geschmiedet wurde. Eines von nationaler Bedeutung, mit tief in die Politik und Geschichte verstrickten Protagonisten. Und damit ist zusätzlich klar: Sie befindet sich in einem Wettlauf mit der Zeit.

Anne Holt ist eine erfahrene Krimischriftstellerin, gerade in Sachen Politkrimi. Und so ist denn auch dieser Roman – der zweite in ihrer Selma Falck-Reihe – sauber gearbeitet und handwerklich ohne Fehl und Tadel. Ich persönlich bin aber nicht so der ganz große Freund von „Eine gegen die Welt“-Settings. Das ist aber eine Geschmackssache.

Buchdetails:
Anne Holt: Ein notwendiger Tod : Selma Falcks zweiter Fall : Kriminalroman [OT: Furet/værbitt] ; übersetzt von Gabriele Haefs, Atrium Verlag Zürich 2022, 476 Seiten, 978-3-85535-124-4 ; als Hardcover 22 € ; als ebook 11,99 € ; als Taschenbuch 13 € ; als Hörbuch 21,99 €

Auf dem Nachttisch (4)

Es gibt weiterhin noch einiges an Lektüre aufzuarbeiten. Heute habe ich im Angebot: Liebe, Mord und Historie – den gängigen Branchen-Narrativen nach sollte diese Zusammenstellung Riesen-Erfolg garantieren. Nun, wir werden sehen…

Coverabbildung des Buches Es ging immer nur um Liebe von Musa Okwonga

Musa Okwonga:
Es ging immer nur um Liebe

Wie ist es, als PoC nach Berlin zu ziehen? Wo ein Zimmer finden, wie sich zurechtfinden, wie zugewandte Menschen finden?

Ich weiß es nicht und ich werde es wahrscheinlich auch nie wissen. Zumindest nicht in dem Maße, wie ich viele andere Zu- und Umstände weiß und wissen kann. Musa Okwonga erzählt davon, eher in Episoden als in einer geradlinig verlaufenen Geschichte – aber hey, ist das Leben nicht auch genau so? Und so erzählt er vom Fußballspielen, von Café-Besuchen, von Freund:innen, von Liebe und Verlust, Vergangenheit und der Suche nach einer Zukunft. Seine zarte Sprache erzeugt dabei ein Gefühl von Zerbrechlichkeit und hat mich sehr berührt. Okwonga erzählt so schwerelos von Schwere, das ist ein echtes Erlebnis.

Buchdetails:
Musa Okwonga: Es ging immer nur um Liebe : Roman [OT In the end, it was all about love]; aus dem Englischen von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, mairisch Verlag Hamburg 2022, 148 Seiten, ISBN 978-3-948722-19-7 ; als Hardcover 20 €, als Taschenbuch (ET 1.8.25) 14 €, als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 9,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Amy McCulloch:
Der Aufstieg

Es ist die Chance ihrer jungen Karriere: Reisejournalistin Cecily bekommt die Möglichkeit, exklusiv und als Erste den Bergsteiger Charles McVeigh zu interviewen. Diesem ist es gelungen, innerhalb eines Jahres bereits 13 Achttausender zu besteigen. Nun macht er sich auf den Weg, auch noch den vierzehnten – den Manaslu – innerhalb dieser Frist zu erklimmen und sich so einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern.

Allerdings darf sie dieses Interview erst nach erfolgreichem Abschluss dieser Mission führen und außerdem soll sie ihn dabei begleiten. Cecily ist keine ungeübte Bergsteigerin, aber der Snowdon ist doch ein etwas anderes Kaliber als ein nepalesischer Achttausender. Und außerdem ist das Thema Bergsteigen für sie nicht ganz unbelastet.

Aber natürlich muss sie diese Chance ergreifen und zusammen mit einer illustren Gruppe beginnt der Aufstieg.

Dieser Roman wäre kein Thriller, wenn alles glatt ginge. Geht es auch nicht, ganz im Gegenteil entgleist die Kampagne zusehends und die Anzahl der Lebenden sinkt kontinuierlich. Amy McCulloch ist eine geübte Autorin und sie hat hier einen spannungsreichen, atmosphärischen Thriller geschrieben, der sowohl von ihrem gekonnt gebauten Plot profitiert als auch das Setting perfekt einfängt. Die ganz besonderen Bedingungen im Höchstgebirge (darf man das so schreiben?), mit der Kälte, dem Schnee, den unvorhersehbaren Abgründen, der dünnen Luft und den äußerst problematischen Sichtbedingungen (insbesondere, wenn man gejagt wird) macht sie erlebbar, geradezu spürbar. Ich war jedenfalls gefangen und habe diesen Thriller geradezu atemlos gelesen.

Buchdetails:
Amy McCulloch: Der Aufstieg : in eisiger Höhe wartet der Tod : Thriller [OT: Breathless] ; aus dem Englischen von Leena Flegler, Piper Verlag München 2022, 494 Seiten, 978-3-492-06343-2 ; als Paperback 17 € ; als ebook 12,99 € ; als Taschenbuch 13 € (ET 1.10.25) ; als Hörbuch 17 €
Bei youbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Natasha Pulley:
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

1898 wird Joe Tournier am Bahnhof Gare du Roi in Londres aufgefunden – er hat keinerlei Erinnerungen und wird folgerichtig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die kann er zwar wieder verlassen, aber dass er daraufhin eine Postkarte erhält, die 90 Jahre alt ist, ihn – den „liebsten Joe“ aber auffordert, nach Hause zu kommen, ist nicht geeignet, seine Irritation gegenüber dieser Welt zu verringern.

Warum in London französisch gesprochen wird, was diese Postkarte soll und warum da ein Leuchtturm drauf ist – das sind nur einige der Indizien, die darauf hindeuten, dass diese Welt nicht in dem Jahr 1898 liegt, das wir kennen.

Natasha Pulley erzählt auf mehreren Ebenen von Verschiebungen im Raum-Zeit-Gefüge und den den Auswirkungen, die es hat, wenn die Machtoptionen erkannt werden, die sich aus der Kontrolle darüber ergeben (Trekkies wird der Gedanke nicht fremd sein). Der Roman ist detailreich ausgearbeitet und geübte Phantastik-Lesende werden eventuell von den Auflösungen der Geheimnisse nicht übermäßig überrascht sein. Wie ihr ganz generell die Konventionen des Genres nicht fremd sind. Mir scheint es aber äußerst unfair, einem phantastischen Roman vorzuwerfen, dass er ein phantastischer Roman ist. 😊Ich bin ihr daher sehr gerne gefolgt und fühlte mich sehr gut unterhalten. Besonders empfehlen möchte ich den Roman aber Menschen, die eine noch junge Lesebiographie haben – ich bin mir sicher, sie werden hier etliche Anknüpfungspunkte finden, über die nachzudenken sich lohnt.

Buchdetails:
Natasha Pulley: Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit : Roman [OT: The Kingdoms] ; aus dem Englischen von Jochen Schwarzer, Klett-Cotta Stuttgart, 536 Seiten, 978-3-608-98636-5 ; als Hardcover 25 € ; als ebook 10,99 € ; als Taschenbuch 14 € ; als Hörbuch 17,49 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Karen Duve: Sisi

Ist es überhaupt noch möglich, über Kaiserin Elisabeth von Österreich zu schreiben? Sie gehört zu den Menschen, deren Mythos derart übergroß geworden ist, dass ihr alles Menschliche fremd geworden zu sein scheint.

Es hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder Versuche gegeben, diesen Mythos zu dekonstruieren und die Frau, die doch ein Mensch war, wieder hervortreten zu lassen. Bisher aber hat sich Sissi noch immer gegen Sisi durchgesetzt.

Karen Duve nähert sich in ihrem Roman der Figur auf ungewohnte Weise. Anstatt das Panorama ihres ganzen Lebens auszubreiten, beschränkt sie die Handlung auf eine kurze Zeitspanne in Elisabeths Leben und die handelnden Figuren auf dementsprechend wenige. Sie zeichnet eine Frau, die sich ihrer Privilegien nicht nur bewusst ist, sondern sie auch einzusetzen weiß. Und das keineswegs vorrangig altruistisch. Mir gefällt diese Figur sehr – nicht, weil ich sie überaus sympathisch fände und nicht einmal deshalb, weil sie sehr heftig an Mythos und Legende rüttelt, sondern weil sie einen Menschen in seiner Zeit und seinem Stand zeigt. Eine Frau, die durchaus Teil eines um sich selbst kreisenden Milieus ist und sich in diesem bewegt, Handlungsräume nutzt und Sympathien und Antipathien pflegt. Dass Karen Duve den Zeitrahmen eher kurz setzt, ermöglicht ihr, Schwerpunkt auf facettenreiche und tiefgehende Charakterporträts zu legen und ein Panoptikum zu schaffen, das nicht gerade von Identifikationsfiguren bevölkert ist. Dafür aber von Menschen, die zumindest ich sehr lebhaft vor Augen hatte.

Buchdetails:
Karen Duve: Sisi : Roman, Verlag Galiani Berlin, Köln 2022, 408 Seiten, ISBN 978-3-86971-210-9 ; als Hardcover 26 € ; als ebook 10,99 € ; als Taschenbuch 14 € ; als Hörbuch 10 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Auf dem Nachttisch (3)

Der NGB (Nachttisch gelesener Bücher) ist reichlich vollgeräumt, es wird Zeit, den wieder etwas freizuräumen. Mithin, let’s go!

Cover des Buches "Fischers Frau" von Karin Kalisa

Kuratorin Maria Sund stößt auf ein bemerkenswertes Exemplar eines alten Fischerteppichs. Einst als Ersatzbeschäftigung für arbeitslose Fischer und ihre Familien entwickelt, haben sich solche Teppiche zu einem eigenen Genre der Teppichkunst entwickelt. Dass diese Tradition zudem in der Gegenwart so gut wie verschwunden ist, macht sie selbstredend auch zu attraktiven Kunsthandelsgegenständen. Nebst der dann unweigerlich auftretenden Fälscherbegleitmusik. Als Kuratorin muss Mia Sund ergründen, woher das Exponat stammt – und natürlich, ob es echt ist. Dies ist der Ausgangspunkt für eine Reise, die sie verändern wird. Ein Teppich als Metapher für Geschichten, noch dazu miteinander verknüpfte, ist aus guten Gründen beliebt. Erzählen uns Teppiche doch seit Jahrhunderten bereits Geschichten – in ihren Motiven ebenso wie in ihrer Provenienz. Karin Kalisa erzählt in zwei aufeinanderzulaufenden Geschichten eindrücklich die Lebensgeschichten zweier Frauen, die in ihrer jeweiligen Zeit ihren Platz im Leben suchen und finden.

Das ist gut erzählt, ich habe das sehr gerne gelesen – und eine ganze Menge über Fischerteppiche gelernt. Als Wochenend- oder Urlaubslektüre unbedingt zu empfehlen. 🙂

Buchdetails:
Karin Kalisa: Fischers Frau : Roman. Droemer München 2022, 255 Seiten. ISBN 978-3-426-28209-0, 22 € ; als Taschenbuch 12,99 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 20,95 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Diaz erzählt vom Leben eines Börsenspekulanten, der zu erheblichem Reichtum gelangt. Dies gelingt – wenig überraschend – nicht durch moralisch einwandfreies Verhalten. Ein Topos, das in der US-amerikanischen Literatur nicht gerade unterrepräsentiert ist. Diaz hält sich allerdings mit Holzhammern und ausgiebigen Erörterungen zurück. Das ist sehr wohltuend. Stattdessen setzt er auf die Kraft der erzählten Geschichte, die er aus vier sehr verschiedenen Perspektiven erzählt und geschickt miteinander verknüpft. Jede dieser vier Perspektiven ist auf ihre Weise „wahr“ und natürlich eignet sich kaum etwas mehr dazu, aufzuzeigen, wie unsere Handlungen von unseren Perspektiven und unseren Annahmen geleitet werden, wie die Börsenwelt. Ich mag an diesem Roman neben seiner wirklich überaus gelungenen Struktur (ich rate davon ab, diesen Roman in zu kleinen Häppchen zu lesen, es könnte schwierig werden, die Fäden wiederzufinden) vor allem das Vertrauen in sein Publikum. Diaz erzählt, er urteilt nicht. Was nicht heißt, dass sich hier keine Position herauslesen lässt – aber sie will eben herausgelesen werden, sie wird nicht postuliert.

Buchdetails:
Hernan Diaz: Treue : Roman [OT: Trust] ; aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin München 2022, 411 Seiten, ISBN 978-3-446-27375-7, 27 € ; als Taschenbuch 15 € ; als ebook 19,99 € ; als Hörbuch 25,95 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Maike stirbt bei einem Zusammenstoß mit einem Stier – und Henri steht urplötzlich vor der Aufgabe, über die Zukunft ihres Handarbeitsladens „Nähschiff & Nadelflotte“ nebst zugehörigem Häkelclub zu entscheiden. Natürlich wird er von seinen Verkaufsplänen abkommen und auch an der Unglücksursache von Maikes Tod regen sich bald Zweifel.

Zu diesem Buch habe ich gegriffen, weil ich die Ausgangssituation ganz putzig fand und mir dachte, daraus könnte doch etwas entstehen. Aber leider hat mich die Umsetzung nicht überzeugt. Ich habe durchaus eine Schwäche für Cosy Crime – manchmal tut so ein bisschen Eskapismus nicht nur Not, sondern auch gut. Hier aber sind mir – bei allem Zugeständnis an die genreinhärenten Konventionen – die Figuren zu hölzern, die Geschichte zu schleppend geraten. Schade.

Buchdetails:
Karla Leterman: Mörderische Masche : ein Fall für Henri und den Häkelclub. Deutscher Taschenbuch Verlag München 2022, 285 Seiten, 978-3-423-22039-2, 10,95 € ; als ebook 9,99 € ; als Hörbuch 20,95 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Die Geschichte klingt kompliziert: Reese und Amy sind ein glückliches Paar in New York, als sich Amy zu einer Detransition entscheidet. Wieder Ames, wird drei Jahre später seine Chefin Katrina von ihm schwanger. Und Ames hat die Idee, das Kind zu dritt aufzuziehen.

Das klingt nicht nur kompliziert, es klingt auch konstruiert und ich hatte die leise Befürchtung, hier könnte es vor allem um Botschaft gehen. Aber: Nicole Seifert hat den Roman übersetzt – und das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Lektüre lohnend ist. So ist es auch, das im Vorfeld irgendwie gewollt, geradezu künstlich klingende Szenario, ist es überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, eine „natürlichere“, klarere Geschichte habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Gut möglich, dass ich hier im Vorfeld Opfer meines Bias und meiner Berührungsängste wurde. Amy/Ames Geschichte wird mit einem bitteren Humor und ungeschminkt erzählt, entwickelt dabei einen starken Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Mir eröffneten sich dabei Lebensrealitäten, die mir aus eigener Anschauung völlig fremd sind. Und hey, darum geht es doch bei Literatur schließlich, oder?

Ein wunderbares, warmherziges Buch aus einer Welt voller Zweifel, Ansprüche, Hoffnungen und Sehnsüchte. Dem Leben halt.

Buchdetails:
Torrey Peters: Detransition, Baby : Roman [OT Detransition, Baby] ; aus dem Englischen von Nicole Seifert und Frank Sievers. Ullstein Berlin 2022, 460 Seiten, ISBN 978-3-550-20204-9, 24 € ; als Taschenbuch 13,99 € ; als ebook 10,99 € ; als Hörbuch 24,95 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen

Auf dem Nachttisch (1)

Schreiben über gelesene Bücher soll eigentlich integraler Bestandteil dieses Blogs sein. Aber wie das so ist im Leben – nicht immer entwickelt sich alles so wie geplant. Vor allem das Real Life funkt immer wieder gerne dazwischen. Und so gerne ich meine schon seit Jahren zurückliegende wöchentliche Buchempfehlungsrubrik weiterführen würde – es ist nicht realistisch, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren.

Nun lese ich also weiterhin Dies und Das, denke mir nach jeder beendeten Lektüre: Dazu schreibst Du was. Dann fange ich einen Beitrag an, lege ihn zur Seite und da bleibt er dann liegen – hilflos mit seinen Beinchen strampelnd, mich immer wieder ermahnend, ihn nun endlich aufzuheben. So vergehen Wochen, Monate, Jahre – und es wird doch kein veröffentlichter Text daraus. Inzwischen sind die Bücher womöglich vergriffen, kurz: Das ist unbefriedigend.

Also versuche ich es nun einmal mit kurzen Sammelrezensionen – die zwar dem einzelnen Werk nicht die Aufmerksamkeit geben, die ich ihm idealerweise geben wollte. Doch dazu sei an dieser Stelle mein früherer Chef zitiert: Better done than perfect.

Also dann, auf geht es mit der ersten Runde Bücher, die ich kürzlich vom Nachttisch geräumt habe:

Sarah Kuttner: Kurt

Drei Erwachsene, ein Kind. Die Zahl von Büchern und Filmen zu den verschiedensten Konstellationen, die sich aus einer solchen Aufzählung ergeben können, ist Legion. Warum also noch eins? Weil das Thema nie zu Ende ist. Jede Zeit, jede Konstellation ist individuell und hat ihre ganz eigene Geschichte, Sarah Kuttners Geschichte beginnt zunächst ganz vertraut: Ein Paar hat ein gemeinsames Kind, trennt sich, ein Partner findet eine neue Partnerin und zieht mit dieser in ein eigenes Haus. Jana und Kurt schaffen es, diese schwierige Situation vernünftig zu lösen und Lena lernt nach dem großen nun auch den kleinen Kurt kennen. Mit ihr erleben wir ein waches, neugieriges Kind voller Liebe für die Welt und die Menschen, die ihn umgeben.
Der tiefe Schmerz, den die Erwachsenen erleben, als das Kind plötzlich stirbt, hat auch mich beim Lesen getroffen. Ich habe den kleinen Kerl sehr ins Herz geschlossen. Sarah Kuttner findet in ihrer schnörkellosen, empathischen Sprache einen Ausdruck für die Trauer und die ganz verschiedenen Wege, die Trauernde gehen. Darin liegt für mich die Stärke und Bedeutung dieses Buchs: Worte und Ausdruck zu finden für eine Trauer, die tiefer kaum sein könnte. Worte dort zu finden, wo keine Worte mehr sind.

Ein herzzerreißendes Buch über einen Schmerz, der nicht zu begreifen ist. Ich habe jedenfalls viele Tränen vergossen und ich weiß nicht, ob ich das Buch ein zweites Mal aushalten würde.

Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Gut vierzig Jahre liegt diese Geschichte schon bei Murakami auf dem Nachttisch. Grundlage des Romans ist eine Erzählung aus den 80er Jahren, mit der der Autor nie so recht zufrieden war. Immer wieder wollte er sie weiter ausarbeiten. Nun also ist dieser Roman daraus entstanden. Vor solchen Entstehungsgeschichten warnen Lektor:innen regelmäßig, und das aus guten Gründen. So eine Geschichte bleibt nicht ohne Anlass so lange liegen. Meist stimmt mit ihnen etwas nicht, sei es, dass ihr Thema nicht so recht passt oder ein grundlegender konstruktiver Fehler es immanent nicht zu einem gutem Abschluss kommt. Das ist auch hier spürbar, der Roman sei niemandem ohne Murakami-Erfahrung empfohlen.

Und dennoch zeigt sich Murakami in diesem dichten Roman von seiner Stärke als Romancier. In der metapherngesättigten Geschichte um eine verlorene und unerreichbare Liebe führt er dem Leser vor Augen, dass Realitätsflucht zwar ungemein beruhigend und sicherheitsversprechend ist – aber eben nicht echt. Und vor allem: Das Leben extrem einschränkend, da jede Berührung mit dem Leben außerhalb der selbst geschaffenen Mauern den Kokon und seine schutzspendende Wärme bedroht. Und auch wenn ich den Roman gerne gelesen habe: Wahrscheinlich wäre es besser, er wäre eine Erzählung geblieben.

Laura Wood: Agency for Scandal

Izzy Stanhope, eine junge Frau mit Beziehungen in der britischen Upper Class, hat viele Geheimnisse. Und jedes einzelne davon könnte ihre prekäre Stellung ruinieren. Dementsprechend unauffällig bewegt und kleidet sie sich.
Der Roman ist im Viktorianischen England angesiedelt und kreist um ein Team von Frauen, die selbstorganisiert andere Frauen unterstützen. Das ist entsprechend herausfordernd, denn offen agieren können sie naturgemäß nicht. Scheu hat das Team dabei weder vor hohen Ämtern, großem Reichtum oder Berufsverbrechern. Alle Mittel und Wege sind ihnen recht, wenn sie geeignet sind, die Sache der Klientinnen zu befördern. Dabei nutzen sie geschickt ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung aus, legen sich Tarn-Identitäten, entwickeln Spezialfähigkeiten – eben alles, was man von einem professionellen Team erwarten darf.

Ob und wie hier Anachronismen reinspielen, kann ich nicht beurteilen, dafür kenne ich die Viktorianische Gesellschaft viel zu wenig – ich bin mir aber auch nicht sicher, ob das überhaupt relevant ist. Die turbulente Handlung findet ihre Ankerpunkte in den Figuren, die ein hohes Identifikationspotential bieten. Dass hier die Protagonistinnen sich in einer männerdominierten Welt ihren Handlungsraum nehmen und nutzen ist vielleicht der stärkste Aspekt dieses Jugendbuches.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd

Mich hat dieser Thriller leider überhaupt nicht überzeugt, gerade vor dem Hintergrund des ersten Teils. Dieser war solides Handwerk, mich hatten ein paar Dinge gestört, aber insgesamt war das okay und ich war durchaus gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde.
Schon in Das Nord war die übermächtige Alice und die Hilflosigkeit aller anderen etwas dick aufgetragen. Hier aber rutschen die Figuren endgültig in die Unglaubwürdigkeit ab. Das beginnt schon beim Restaurantnamen, der gekünstelt auf den ersten Roman Bezug nimmt. Alex und Sofi würden nach all den traumatischen Erlebnissen im Nord ihr Restaurant ernsthaft Syd nennen? Insbesondere, wenn sie versuchen, sich vor Alice Duwal zu verstecken? Da war das Verlagsmarketing wohl stärker als die Figurenentwicklung.
Und dass nun wirklich jeder Schritt, den Alex macht, sich mal wieder als beobachtet und gesteuert herausstellt, was ausgerechnet ihm aber nie bewusst wird, obwohl er ständig Angst davor hat, beobachtet und gesteuert zu werden. Und wieder einmal ist es dieselbe übermächtige Alice, die hier schon James-Bond-Bösewicht-Dimensionen erreicht und wieder einmal wird es eine vergleichsweise simple Falle, mit der sie überwältigt wird. Ich weiß nicht, mich hat das wirklich nicht überzeugt. Ich hatte hier auf eine neue Geschichte gehofft, tatsächlich aber ist es weitgehend dieselbe.
Gleichzeitig ist aber ganz klar spürbar, dass die Autorinnen ihr Handwerk eigentlich verstehen – und das hat vielleicht meinen Ärger verstärkt. Wenn das Buch einfach schlecht geschrieben wäre, hätte ich es zur Seite legen und abtun können.

Buchdetails:
Sarah Kuttner: Kurt : Roman. S. Fischer Frankfurt am Main 2019, 239 Seiten, ISBN 978-3-10-397424-9, 20 € ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer : Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont Buchverlag Köln 2024, 637 Seiten, ISBN 978-3-8321-6839-1, 35 € ; als ebook 27,99 € ; als Hörbuch 34 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Laura Wood: Agency for Scandal : Roman. Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawls, Fischer Sauerländer Frankfurt am Main 2024, 432 Seiten, ISBN 978-3-7373-4389-3, 15,90 € ; als ebook 12,99 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd : Thriller. Aus dem Schwedischen von Max Stadler, HarperCollins Hamburg 2024, 270 Seiten, ISBN 978-3-365-00578-1, 14 € ; als ebook 9,99 €
Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Nord

Bei Alex läuft es grad gar nicht – er ist abgebrannt, obdachlos und ohne Job. Da bekommt er die Chance, in Nordschweden bei einem berühmten Sterne-Koch in einem Edelrestaurant anzufangen. Mit den allerletzten Ressourcen gelingt es ihm, die Reise zu bewerkstelligen und rechtzeitig einzutreffen. Die Arbeit ist hart, Freizeit ist rar und die Arbeitsatmosphäre geprägt von Missgunst und Intrigen.

Nicht wirklich besser wird es, als er eine Affäre mit Alice Duvall, der Ehefrau des Besitzers anfängt. Schnell ist Alex ist einem verhängnisvollen Abhängigkeitsverhältnis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint – insbesondere da Alice sehr eigene Interessen verfolgt, bei deren Durchsetzung er bestenfalls als Werkzeug eine Rolle spielt.

Katarina Ekstedt und Anna Winberg Sääf gelingt ein spannender Thriller, der alle Zutaten bereithält, die es braucht. Allerdings auch nicht mehr. Beworben wird es mit Schwedische Thriller-Spannung vom Feinsten und Intrigen und Psychoterror in der Schwedischen Sterneküche. Davon habe ich wenig gelesen. Die ersten Berfreiungsversuche scheitern zu offensichtlich und für das David-Goliath-Spiel, dass hier aufgebaut wird, ist mir die letztliche Lösung sogar etwas zu platt. Darin besteht meiner Meinung nach ja die besondere Kunst: Übermächtige Bösewichte, die alles beherrschen und von allem wissen, sind leicht erschaffen. Aber eine plausible Handlung, wie diese dennoch überwunden werden können – das ist eine echte Herausforderung. Und die finde ich hier nicht restlos überzeugend gemeistert.

Das ist solides Handwerk, die Handlung spitzt sich gekonnt zu. Aber kaum weg gelegt, hatte ich Figuren, Handlung und kulinarische Finessen eigentlich auch schon wieder vergessen. Also gute Unterhaltung – und das ist gar nicht abwertend gemeint: Ich bin hier gerne dabei geblieben.

Details zum Buch
Anna Winberg Sääf/Katarina Ekstädt: Das Nord. Thriller. aus dem Schwedischen von Max Stadler. Deutsche Erstausgabe bei HarperCollins Taschenbuch, Hamburg 2023, 288 Seiten, 14 € ; als ebook (ePUB) 10,99 €
Bei youbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Marc-Uwe Kling: Views

Ich muss gestehen, meine HardCore-Marc-Uwe Kling-Fanphase ist schon einige Jahre her (Exhibit A: Gachmurets dritte Kulturwoche: Kabarett vom Februar 2010). Genau so wie ich die Radiokolumne sehr mochte, habe ich auch die ersten Känguru-Bücher mit großer Freude gelesen.

Der Guerilla-Kommunismus des Kängurus erfreut mich auch heute immer wieder. Der überragende kommerzielle Erfolg hat mich verwundert und skeptisch gemacht. Auch heute beschleicht mich durchaus das Gefühl, dass nicht alle bei dem Take Mein – Dein, das sind doch alles bürgerliche Kategorien aus denselben Gründen lachen. Tatsächlich verfolge ich Klings Arbeit eher deshalb noch mit, weil die Traumtochter™ großer Fan ist.1

Will sagen: Seit fast 15 Jahren habe ich kein Buch mehr von ihm gelesen – zwischenzeitlich hat Kling eine beachtliche Bestseller-Karierre hingelegt und das Genre der WG-Berichte aus dem Zusammenleben mit einem kommunistischen Känguru, das früher beim Vietkong war, weitgehend verlassen. Dies nur als Vorrede, um zu verdeutlichen, dass ich durchaus nicht unvoreingommen an Views herangegangen bin.

Das Buch wird als Thriller beworben, und das geht soweit auch in Ordnung. Im Mittelpunkt steht die BKA-Kommissarin Yasira Saad, die in einen Aufsehen erregenden Fall involviert wird. Die 16jährige Lena Palmer verschwindet – zunächst ein lokaler Fall, der außerhalb der Harzregion zunächst keine Bedeutung erlangt. Doch dann taucht ein verstörendes Vergewaltigungsvideo auf und die Welt gerät aus den Fugen. Schnell gibt es massive Demonstrationen, die Täter werden schnell als Geflüchtete bezeichnet und dass die leitende Ermittlerin beim BKA den Namen Yasira Saad trägt, befeuert die sich rasant militarisierende deutsche Gesellschaft zusätzlich. Dementsprechend geraten nicht nur alle, die den Tätern im Video ähnlich sehen, in akute und konkrete Gefahr, sondern auch Yasira persönlich und ihre Tochter. Außerdem erscheinen in kurzer Schlagzahl weitere Videos, etliche davon von einer Gruppierung, die sich „Aktiver Heimatschutz“ nennt und neben Hass auch konkrete Aufstandsforderungen verbreitet. Kurz: Die Gewaltspirale wird ihrem Namen mehr als nur gerecht.

Marc-Uwe Kling hat hier einen straighten Thriller geschrieben, der geübte Thriller-Leser:innen womöglich nicht vor übermäßige Herausforderungen stellt, aber er schont sein Publikum durchaus nicht. Sowohl die Handlung als auch die beschriebenen Videos sind durchaus gewaltvoll, wenn auch nicht überzogen explizit und die Gewalt selbst steht auch nicht im Vordergrund, das macht es erträglicher. Im Vordergrund steht die sich immer schneller drehende Eskalationsspirale, die es kaum noch möglich zu machen scheint, noch seriöse Ermittlungsarbeit zu leisten. Insgesamt habe ich das gerne gelesen, mich hat der Thriller in Bann gezogen und das ist ja letztlich Hauptaufgabe von Spannungsliteratur. Ein paar Anmerkungen habe ich noch, aber zunächst einmal die Detail-Angaben zum Buch:

Marc-Uwe Kling: Views : Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2024, 269 Seiten, ISBN 978-3-550-20299-5, 19,99 €. Auch erhältlich als ebook und Hörbuch.

Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

An dieser Stelle ein Break: Ich kann nicht weiter schreiben, ohne konkret auf Handlungsstränge einzugehen. Daher eine unbedingte SPOILER-WARNUNG.

Weiterlesen „Marc-Uwe Kling: Views“

Steffen Mau: Ungleich vereint

Über Ost und West, die Einheit und ihre (Nicht-)Vollendung ist bereits viel geschrieben worden. Vieles davon beruht aber eher auf gefühltem Wissen oder tradierten (Vor-)Urteilen.

 Steffen Mau nimmt in diesem Buch seine Profession als Soziologe aber Ernst und macht etwas, das überraschend selten getan wird: Er schaut ganz genau hin, nutzt das Instrumentarium der Sozialwissenschaften und kommt dabei zu präzisen Ergebnissen. Dieser nüchterne, genaue Blick darauf, was wirklich ist – also welche Einstellungen, welche Wertvorstellungen, welche Mentalitäten tatsächlich im Osten existieren und woher sie stammen, hebt sich wohltuend von gängigen Polemiken ab.

Dabei zeichnet er die verschiedenen Phasen des Umgangs mit „dem Osten“ nach und macht überzeugend deutlich, dass die Strategie der Anwandlung an „den Westen“ nicht nur nicht zielführend, sondern auch schlicht nicht funktioniert hat – und auch nicht funktionierend wird. Eine demokratische Zukunft ist überhaupt nur erreichbar, wenn wir in der Gesamtgesellschaft anerkennen, dass es erhebliche Unterschiede gibt, die unterschiedliche Herangehensweisen und Instrumente erfordern. Wir müssen endlich weg davon kommen, unsere Entscheidungen auf Voreingenommenheiten und Illusionen zu stützen. Dafür ist eine realistische, saubere Bestandsaufnahme eine unerlässliche Grundlage.

Die sorgfältige Beobachtung und Argumentation von Steffen Mau bietet eine exzellente Grundlage für künftiges politisches Handeln, weg von illusorischen Vorstellungen, hin zu einer die Realitäten anerkennenden, aktiven Gestaltung einer weiterhin möglichen demokratischen Zukunft – nicht nur des Ostens, sondern der ganzen Bundesrepublik. 

Besonders spannend fand ich Maus Gedanken, die nie wirklich gelungene Verwurzelung der bundesrepublikanischen Parteien im Osten als Herausforderung und Ideenfeld zu nutzen, wie Demokratie dennoch funktionieren könnte – denn es braucht keine prophetische Gabe, um abzusehen, dass die bereits stark bröckelnden Strukturen im Westen auch dort nicht mehr ewig halten werden. Der Trend ist seit Jahrzehnten ungebrochen und es ist nicht abzusehen, dass er endet. Also: Anstatt immer wieder herumzujammern, dass der Osten nicht wie der Westen ist, lasst uns diesen Fakt doch einfach mal anerkennen und schauen, was wir da tun können. Denn eines ist klar: Die Faschisten haben das längst erkannt und spielen ihr Playbook durch. Wird Zeit, mal ganz zügig eine 20 zu würfeln und loszulegen…

Auch wenn ich Mau’s Optimismus für seine vorgeschlagenen Lösungswege nicht ganz zu teilen vermag, sein Plädoyer dafür, dass es unabdingbar ist, jetzt etwas zu tun, ist absolut überzeugend.

Buchdetails:
Ungleich vereint : warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Suhrkamp Berlin 2024, 168 Seiten, ISBN 978-3-518-02989-3, auch als ebook erhältlich

Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Janina Ramirez: Femina

Oxford-Historikerin Dr. Janina Ramirez, die ich in einigen Geschichtsdokus gesehen habe und die mir dort sehr positiv aufgefallen ist, hat mit Femina: Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen ein spannendes Buch geschrieben.

Ihr Werk ist keine chronologische Darstellung der Epochenereignisse wie es zum Beispiel die politische Geschichte kennt. Vielmehr zeichnet sie ein Epochenportrait – ausgehend von den Lebenszeugnissen mehrerer Individuen wirft sie Schlaglichter auf die vielfältige und bunte Welt des Mittelalters.

Dabei wird immer wieder deutlich, dass die Antworten, die die Beschäftigung mit Geschichte uns bringt, stets von den Fragen abhängen, die wir stellen. Das führt sie auch deutlich aus: Schon in ihrer Vorrede macht Dr. Ramirez klar, dass ihr Blickwinkel selbstverständlich einen Fokus bewirkt, dass ihre Fragen an die Geschichte des Mittelalters verschiedene Aspekte nicht betrachtet. Dieser kurze historiographische Exkurs macht aber eben auch deutlich, dass jede Darstellung von Geschichte einen solchen Bias hat. Was eben bedeutet: Die Historiker:innen des 19. Jahrhunderts haben ganz andere Fragen interessiert als die Historiker:innen des 20. Jahrhunderts und als Historiker:innen heute – und es ist wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein. Janina Ramirez kommt darauf auch immer wieder zurück, insbesondere dann, wenn sie die Frage stellt, warum so viele Aspekte des durchaus bunten mittelalterlichen Lebens heute nicht präsent sind.

Janina Ramirez stellt Frauen in den Mittelpunkt und schafft damit erhellende Ergänzungen zu den bisherigen Bildern vom Mittelalter. Dabei verfolgt sie keinen bilderstürmenden Furor, sondern sie zeigt auf, wie das Leben im Mittelalter eben auch war, welche vielfältigen Rollen Frauen einnehmen konnten und dass starre Geschlechterrollen auch im Mittelalter durchaus aufgebrochen worden, dass es auch im Mittelalter Menschen gab, die wir heute wohl als queer bezeichnen würden. Dabei vermeidet sie ahistorische Zuschreibungen, sie arbeitet immer quellennah und macht Lücken deutlich, wo sie vorhanden sind. Das ist Geschichtsschreibung at its best.

Besonders reizvoll finde ich Ihre Verknüpfung der Lebensgeschichten dieser Frauen mit ihrer Rezeption und vor allem immer auch mit der Entdeckungsgeschichte – seien es archäologische Funde, zufällig entdeckte Schriften oder auf abenteuerlichen Wegen gerettete Handschriften.

Dabei hat sie eine Fähigkeit, die ich an Geschichtswerken besonders schätze: Sie kann erzählen. Gerade die deutsche Historiktradition stellt diese Fähigkeit nicht in den Vordergrund, es ist wohltuend, dass die angelsächsische Tradition hier anders vorgeht. Janina Ramirez hat ein großes Erzähltalent und setzt es gut ein, um ein wirklich und im wahrsten des Wortes lebendiges Bild des Mittelalters zu zeichnen.

Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen – und zwar sowohl jenen, die sich bisher nicht intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt haben, als auch jenen, die den Eindruck gewonnen haben, bereits alles zu wissen. 🙂

Zum Instagram-Account von Dr. Janina Ramirez

Buch-Details:
Femina : eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen [OT Femina: A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It] von Janina Ramirez ; aus dem Englischen von Karin Schuler. Aufbau-Verlag Berlin, 2023, 516 Seiten. ISBN 978-3-351-04181-6. auch als eBook erhältlich.

Bei yourbook.shop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Juneau Black: Mord in Shady Hollow

Cover des Buches

Juneau Black zeichnet eine kleine, recht abgeschlossene Gemeinschaft im Wald, die autark funktioniert und in der jedes Tier seine Aufgabe hat, die häufig mit den jeweiligen tierischen Eigenschaften assoziiert sind. Es gibt missmutige Kröten, neugierige Füchse und tapsige Bären.

 Alle leben mehr oder weniger harmonisch zusammen. In diese naive Gemeinschaft bricht nun die Nachricht eines Mordes ein und damit brechen so einige unter der Oberfläche gehaltene Konflikte aus. 

Menschliche Verhältnisse in Tiere zu projizieren ist eine sehr alte Erzähltechnik (die Fabel lässt grüßen). Dementsprechend hoch hängt die Latte, wenn hier neue Aspekte hinzugefügt werden sollen. Ich weiß nicht, ob Juneau Black diesen Anspruch erfüllen möchte – falls ja, wäre er aus meiner Sicht nicht gelungen. Denn es gibt hier keinen überzeugenden erzählerischen Grund, warum es sich bei den handelnden Personen um Tiere handelt – sie verhalten sich derart offensichtlich und vordergründig menschlich, der Ort ist so offenkundig und vordergründig menschlich (Sägewerk, Café, Zeitung…???), dass ich nur genervt war.

Hinzu kommt, dass es auch nicht gelingt, die Spezifika, die Tiere haben, in die Geschichte einzuweben – ganz im Gegenteil: Die Mühe, die entworfene Erzählidee in ein tierisches Setting zu platzieren, ist so sehr spürbar – bei mir schafft das ein ungutes Leseerlebnis.

Ursula Scheer verweist in ihrer Rezension in der FAZ auf Glennkill [btw: Unbedingt in der Lesung von Andrea Sawatzki anhören, ich kann das Wort Gerechtigkeit seither nicht mehr anders als geblökt hören] – allerdings nur mit dem Hinweis, dass es auch dort um Tiere ging. Dabei wäre gerade dieser Vergleich sehr ergiebig: Bei Leonie Swann sind die Schafe unzweifelhaft Schafe, sie leben in einem Schafsetting, reden über Schafthemen und haben Schafprobleme – der entscheidende Kniff bei Swann ist, dass sie unterstellt, sie wären zu ähnlichen Erkenntnisprozessen fähig wie Menschen. In Shadow Hollow hingegen ist der ungeschickte Dorfpolizist ein sehr typischer ungeschickter Dorfpolizist – und nur zufällig ein Bär. Der stinkreiche Fabrikbesitzer ist ein sehr typischer stinkreicher Fabrikbesitzer nebst sehr typischem Familienanhang – und nur zufällig handelt es sich um Biber – usw. Die Lebenswelt dieser Tierchen ist ja nicht einmal maskiert, es wirkt völlig überflüssig, diese Geschichte in einem solchen Setting zu erzählen. Außer halt, weil man nicht den drölfzigsten Das kleine Café in [beliebiger touristisch relevanter Ort] – Krimi schreiben möchte. Tatsächlich aber unterscheidet lediglich die Dichte der auf den Protagonist:innen aufzufindenden Haare diesen Krimi von allen anderen.

Mich hat das leider überhaupt nicht überzeugt.

Buchdetails:
Black, Juneau: Mord in Shadow Hollow : ein Waldtier-Krimi [OT: Shady hollow: a murder mystery]. aus dem Englischen von Barbara Ostrop. Deutsche Erstausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg 2024. 282 Seiten, ISBN 978-3-499-01356-0

Bei yourbook.shop als Printbuch oder eBook bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Monika Peetz: Sommerschwestern

Vier erwachsene Schwestern werden von ihrer Mutter in den idyllischen niederländischen Ort geladen, in dem die Familie einst ihre Sommerurlaube verbrachte. Nicht nur der Ort war idyllisch, auch die verbrachte Zeit schien eine reinste Idylle zu sein – die Abwesenheit des Allltags überdeckte die Schwierigkeiten des Zusammenlebens der Geschwister und so enstand dann das Wort von den Sommerschwestern. Die Idylle endete abrupt, als der Vater bei einem Unfall am Urlaubsort stirbt.

Seither ist viel Zeit vergangen, die Geschwister sind jede ihre eigenen Wege gegangen. Die Einladung der Mutter an den Kindheitsort, die einen Hinweis auf den Anlass vermissen ließ, irritiert die Schwestern naturgemäß und jede hat so ihre eigene Idee, was dahinter stecken könnte. Mehr sei nicht verraten, der Roman ist nicht wirklich plot-getrieben und es wäre unfair, hier weiter vorzugreifen.

Als ich diese Rezension vor vielen Monaten begann (sie blieb dann liegen – mir war irgendwie nicht nach Bloggen), war der Roman bereits ein veritabler Bestseller und inzwischen sind bereits mehrere weitere Titel mit den Protagonistinnen erschienen. Diese Tatsache ist für mich denn auch das wirklich spannende an dem Roman. Denn: Die Figuren entwickeln sich praktisch gar nicht, sie sind reißbrettartig typisiert – und das große Geheimnis ist weder überraschend noch treibt es die Geschichte entscheidend voran. Doch Bestseller entstehen nicht willkürlich – sie müssen irgendetwas treffen. Fast planbare Faktoren sind da beispielsweise die Prominenz der Autor:innen oder die Skandalträchtigkeit des Inhalts (letzteres ist freilich wenig nachhaltig – sowas nutzt sich extrem schnell ab und die geradezu notwendige Spirale ist kaum geeignet, eine lange Autor:innenkarriere zu begründen).

Bei Monika Preetz muss es aber etwas anderes, etwas werkimmanentes sein. Und es treibt mich aus beruflichem Ehrgeiz um, dass es mir schwer fällt, dieses „etwas“ zu erkennen. Der Roman ist gefällig geschrieben, ich habe ihn auch gerne bis zum Ende gelesen. Das liest sich gut weg, ich hatte nie das Gefühl, der Geschichte nicht folgen zu können oder wegen emotionaler Erschütterung inne halten zu müssen. Ein ganz klassischer Sommerroman, das ruft geradezu nach Strandkorb, Sonne und Seele baumeln lassen. Aber warum schlägt gerade dieser Roman so ein? Warum sind die Sommerschwestern so erfolgreich, dass daraus eine Bestseller-Reihe wurde?

Ich weiß es nicht. Und so bleibt mir nur zu konstatieren, dass es Monika Preetz offenkundig gelingt, an Lebenserfahrungen anzuschließen, mit denen sich viele Leser:innen identifizieren können und die mir verschlossen bleiben.

Buchdetails:
Monika Preetz: Sommerschwestern. Roman. Kiepenheuer & Witsch Köln 2022, 304 Seiten, ISBN 978-3-462-00212-6, 16 €, als ebook 9,99 €, als Audio-CD 10 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie

Elizabeth Zott scheint auf dem Weg nach oben: Die brillante junge Chemikerin hat eine Promotionsstelle und widmet sich zukunftsträchtiger Forschung.
Als sie sich gegen die Vergewaltigung durch ihren Vorgesetzten wehrt (sie bekommt einen Bleistift zu fassen und rammt ihn in dessen Körper), wird letztlich sie beschuldigt und muss unter erniedrigenden und entwürdigenden Bedingungen die Universität verlassen. Einen Bleistift wird sie aber von nun an immer bei sich tragen.
In dem Forschungsinstitut, in dem sie anschließend unterkommt, wird ihre wegweisende Arbeit gering geschätzt, nichtsdestotrotz aber ausgenutzt – ihre Ergebnisse werden sogar ohne ihr Wissen und ohne sie auch nur zu erwähnen unter dem Namen des Leiters veröffentlicht. Dass sie eine Beziehung mit dem Star des Instituts, dem Nobelpreiskandidaten Calvin Evans beginnt, fügt der Missachtung nun auch noch Missgunst hinzu.

Wenden wird sich das Blatt erst, als sie landesweit bekannt wird als Star einer Kochsendung, die so gar nicht in die vorgesehenen Schubladen passen will.

Bonnie Garmus schreibt ein modernes Märchen. Ein Märchen um eine Frau, die zunächst an der Misogynie ihres Zeitalters zu scheitern scheint, sich aber mit unbeirrbarem Vertrauen in die Macht des wissenschaftlichen Arguments aus diesen Zwängen befreit – und damit nicht allein ihre unfassbar kluge Tochter, sondern Frauen im ganzen Land inspiriert. Es ist eine großartige Idee, sie ausgerechnet eine Kochsendung kapern zu lassen. Denn sie zeigt einerseits den Wert der Care-Arbeit von Hausfrauen auf, bleibt damit vordergründig im vorherrschenden Rollen- und Weltbild, unterläuft dieses aber gleichzeitig, indem sie die Anerkennung für die komplexe und wertvolle Arbeit aufzeigt und dabei Frauen wissenschaftliches Wissen und Verständnis vermittelt – sie also intellektuell ernst nimmt. Eine neue und befreiende Erfahrung für ihr Publikum. Sie verändert dabei nicht nur ein Leben.

Es hat Elisabeth Zott nicht gegeben. Und mir scheinen im Roman auch etliche Anachronismen verbaut zu sein. Das ist aber nicht schlimm und verringert die Lesefreude überhaupt nicht, denn letztlich ist es eben ein Märchen. Mit all der Kraft, die Märchen haben können: Inspirierend, aufrüttelnd, stärkend.

Buchdetails:
Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie (OT: Lessons in Chemistry). aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Piper München 2022. ISBN 978-3-492-07109-3, gebunden, 461 Seiten, 22 €, als ebook 19,99 €

Lucy Fricke: Die Diplomatin

»Im Erfahrungsbericht meines Vorgängers hatte gestanden: Genießen Sie es! Dies ist das wunderbarste Land der Welt. Ich lasse Ihnen ein paar Restaurantempfehlungen da.
Ich hatte das Papier umgedreht, die Schubladen des leeren Schreibtisches geöffnet, die Sekretärin gefragt, doch es blieb das Einzige, was er mir dagelassen hatte. Ein paar Hinweise, wo sich gut essen ließ. Vielleicht gab es mehr nicht zu sagen. Nicht ohne Grund gab es bei uns den alten Spruch: Der Vorgänger ist der größte Idiot und der Nachfolger der größte Verbrecher.«
Friederike Andermann, kurz: Fred, hat eine erstaunliche Karriere im Diplomatischen Dienst hingelegt. Kinder alleinerziehender Mütter in prekären Verhältnissen sind dort jedenfalls Mangelware. Und nun ist sie die frisch berufene Botschafterin in Montevideo.
Sie ist eine erfahrene Diplomatin, sie hat im Irak traumatisierende Dinge gesehen und erlebt, ein Botschaftsposten, dessen Hauptaufgabe darin besteht, herumzustehen und Deutschland zu sein (eine herrliche Formulierung), verspricht die dringend benötigte Ruhe. Aber es kommt anders.
Einige Jahre später ist sie Konsulin in Istanbul und dieses Mal wird sie nicht versuchen, nach den Regeln zu spielen, sondern etwas bewirken wollen.

Etwas verwundert habe ich die Verlagsbeschreibung zur Kenntnis genommen, denn ich sehe hier keine Frau, die den Glauben an die Diplomatie verliert. Vielmehr habe ich Fred als eine Frau wahrgenommen, die nach dem Möglichen sucht. Dass Fricke ihr einen persönlichen Ratgeber beiseite stellt, der seine eigene Karriere exzellent vorantreibt, indem er strikt nach den Regeln des Betriebs spielt, ist doch kein Zufall. Vielmehr verhandelt dieser Roman die Frage, wieviel persönlicher Einsatz eigentlich erforderlich ist, um das Richtige zu tun, um sich nicht selbst zu verraten. So erlebe ich Fred eher als Diplomatin, die nicht hilflos sein will, die die Chancen und Möglichkeiten ihres Berufes nutzen will.

Damit ist sie natürlich nicht das, wofür Beamtendiplomatie sonst steht, das zeichnet Lucy Fricke auch deutlich auf. »Das Amt« belohnt solches Verhalten nicht, sondern ein Verhalten, das stets dafür sorgt, für nichts verantwortlich zu sein, sich aalglatt und stromlinienförmig überall durchzuschlängeln und rückzuversichern. Nur: Solches Verhalten bewirkt halt auch nichts. Zumindest nichts gutes. Aber damit glaubt die Protagonistin doch immer noch an Diplomatie – sie glaubt nur möglicherweise nicht mehr an den Betrieb und seine kalten Regeln.

Besonders eingenommen haben mich Lucy Frickes feiner Humor, ihre nonchalant eingespielten Punchlines (»Wir haben keine Panik, wir sind Beamte.«) und ihre mit wenigen Strichen klar gezeichneten Charaktere.

Buchdetails:
Lucy Fricke: Die Diplomatin. Claassen Verlag Berlin 2022. ISBN 978-3-546-10005-2, gebunden, 253 Seiten, 22 €, als ebook 17,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

David de Jong: Braunes Erbe

Weder Aufstieg noch Herrschaft der Nationalsozialisten wäre ohne helfende oder willfährige Unterstützer in der deutschen Wirtschaft möglich gewesen. Flick, Finck, Porsche-Piëch, Oetker, Reimann, Quandt – noch heute extrem reiche Familien haben einen Großteil ihres Aufstieges, ihres Reichtums und Einflusses dem nationalsozialistischen Regime und seinen verbrecherischen Regeln zu verdanken. Und die meisten von ihnen schweigen still darüber, huldigen noch heute ihren Vorfahren, in dem sie Gebäude, Stiftungen und Preise nach ihnen benennen.

David de Jong gelingt eine packende, plastische Schilderung des Aufstiegs und der dabei verwendeten Methoden. Dramaturgisch geschickt angeordnet, zeichnet er nach, wie aus Überzeugung oder schlichtem Opportunismus die Nähe zum Regime gesucht wurde. Skrupellos wurden jüdische Angestellte oder Geschäftspartner fallengelassen, Konkurrenten erpresst, hemmungslos wurden die Chancen ergriffen, die sich mit dem staatlich forcierten Herausdrängen jüdischer und »nichtarischer« Akteure aus der Wirtschaft ergaben. Und natürlich setzten alle Zwangsarbeiter ein.

Mindestens ebenso bedrückend ist allerdings die Nachkriegsgeschichte. Durch Lügen, Täuschen und Vertuschen gelang es, zügig das eigene Vermögen zu retten und sich nahtlos in die bundesrepublikanische Wirtschaft zu integrieren, deren Wachstum die Möglichkeit zu globalem Agieren gab. Es ist erschütternd, wie leicht die eigenen Lebenslügen vermittelbar wurden und wie tief verwurzelt sie noch heute in den Familiendynastien sind, die sich häufig bestenfalls halbherzig ihrer Vergangenheit stellen. Von ernsthaften Entschädigungen gar nicht erst zu reden (einzige Ausnahme: Die Familie Reimann).

Die noch heute wirksamen Verknüpfungen und Verbindungen, zum Teil noch heute ins rechtsextreme Milieu, zeigt de Jong unnachgiebig auf. Und auch wenn ich einiges schon gewusst habe: So richtig präsent war es mir nicht und ich bin de Jong sehr dankbar für seine klare, sachliche Darstellung. Es ist ein Dokument der Schande und es sollte uns alle hellhörig werden lassen, wenn mal wieder »Ideologiefreiheit« in der Wirtschaftspolitik gefordert wird – denn genau das ist und war die Standardbegründung: Mit Politik habe man gar nichts am Hut gehabt, man war ja nur Wirtschaftler. Profit um jeden Preis, das ist keine »Ideologiefreiheit«, das ist selbst eine Ideologie, und zwar eine, die Menschenleben kostet, die keine Gnade und keinen Anstand kennt, die über Leichen geht, die Gewalt akzeptiert, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Es ist genau diese »Ideologiefreiheit«, die VW-Manager ungerührt behaupten lässt, ein Werk in Xinjang führe zu einer Verbesserung der Situation der unterdrückten, geknechteten Uiguren. Ein Werk, dass in Zusammenarbeit mit einem Staatskonzern betrieben wird – eben jenes Staates wohlgemerkt, der die Menschen dort unterdrückt. Mit demselben Zynismus behaupteten seine Vorgänger, den Zwangsarbeitern im KdW-Werk sei es sehr gut ergangen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen zu diesem Thema, ist diese hier nicht nur fachlich fundiert und mit umfassenden Quellennachweisen belegt, sondern auch literarisch exzellent geschrieben. So muss Geschichtsvermittlung sein!

Buchdetails:
David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. aus dem Englischen von Jörn Pinnow und Michael Schickenberg. Kiepenheuer & Witsch Köln 2022, ISBN 978-3-462-05228-2, gebunden, 496 Seiten, 28 €, als ebook 24,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Gesuino Némus: Süße Versuchung

Telévras ist ein Bergdorf auf Sardinien und weit weg vom Rest der Welt. Durch die knapp bemessene Infrastruktur sogar überraschend weit weg vom Meer – selbst die letzte Buslinie steht auf der Kippe, damit wäre man dort endgültig unter sich. Die Ankunft des suspendierten Inspektors Marzio Boccinu, dem mit einer Mischung aus Neugier, Skepsis und Gastfreundschaft begegnet wird, bringt eine Kette von Ereignissen in Gang, die das scheinbar so wohlgeordnete Dorfleben gehörig durcheinanderwirbeln.

Gesuino Némus schildert die eigenwilligen und stolzen Dorfbewohner als Menschen, die in einer abgehängten Gegend der Welt nach Wegen suchen, mit den auch auf sie wirkenden Änderungen der Lebensumstände umzugehen. Dabei werden die Hoffnungen je nach Charakter und Eigeninteressen auf Dorffeste, neue und alte Mythen, Fernsehshows, Tourismusvereine oder Gefängnisneubauten gesetzt. Und wie so oft, so verbergen sich auch hier unter der scheinbar harmlosen Oberfläche von Mord bis Korruption allerlei Abgründe.

Mitgerissen hat mich in diesem Roman aber weniger die Krimihandlung als vielmehr Némus‘ beeindruckende literarische Erzählkraft – er zeichnet vielschichtige Figuren und stellt sie und ihren Ort so plastisch dar, ich meinte regelrecht in diesem Dorf zu wohnen. Was mich im Verlagstext eher abgestoßen hat, nämlich die Beschreibung »die Bewohner des Dorfes, mit ihren schrulligen Gewohnheiten und verqueren Ansichten«, zeigt sich tatsächlich vielmehr als empathische und lebensnahe Charakterzeichnung und hat mich sehr für dieses Buch eingenommen.

Buchdetails:
Gesuino Némus: Süße Versuchung (=Ein-Sardinien-Krimi 2). Aus dem Italienischen von Juliane Nachtigal. Original-Titel: Ora Pro Loco. Eisele Verlag München 2022. ISBN 978-3-96161-132-4, Paperback, 16,99 € als ebook 13,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Oliver Pötzsch: Das Mädchen und der Totengräber

Im ausgehenden 19. Jahrhundert schwappte gerade mal wieder eine Ägyptomanie-Welle über Europa. Dieses Mal standen Mumien besonders hoch im Kurs. Gerade gut betuchte Damen und Herren trafen sich zum gemeinsamen Mumienauswickeln – was ein Spaß. Allerdings sollte dabei die Mumie auch wirklich alt sein, sonst wird aus dem Spektakel schnell ein Fall der Leichenschändung.

Und das war auch in Wien, trotz des sehr eigenen Verhältnisses der dortigen Stadtbevölkerung zum Tod, strafbar. Leopold von Hertzfeld, nicht gerade heißgeliebter Kollege der Wiener Ermittlungsbehörden (redet Hochdeutsch, hat neumodische Ansichten und Methoden, stammt aus einer jüdischen Bankiersfamilie und ist obendrein noch Liebling des Chefs), interessiert bei der im Kunsthistorischen Museum gefundenen Mumie allerdings nicht das Auswickeln, sondern das Einpacken – denn der aufgefundene Körper gehört zu einem vermissten Professor und seine Todesumstände sind keineswegs eindeutig.

»Das Mädchen und der Totengräber« ist der zweite Fall für Leopold von Hertzfeld, Julia Wolf und Augustin Rothmayer – aber problemlos ohne Kenntnis des ersten zu lesen. Neben reichlich Lokal- und Zeitkolorit bietet Pötzsch einen verwickelten Kriminalfall, der nicht ganz so einfach zu durchschauen ist. Seine Protagonist:innen sind klar, aber nicht plump, gezeichnet und bieten Identifikationspotential. Gerade Julia Wolf, deren prekäre Lage bei ihr zu Prioritäten, Wünschen und Bedürfnissen führt, die nahezu inkompatibel mit ihrern gesellschaftlichen Möglichkeiten sind, wird in diesem Band zu einer zentralen Figur und Handlungstreiberin. Dass Pötzsch diese Gelegenheit ergreift und uns hier nicht das drölfigste Paar präsentiert, das durch unerschütterliche Liebesbande vereint den Unbillen ihrer Zeit mutig entgegensteht, ist eine echte Wohltat.

Wie überhaupt die Entwicklung der Figuren spannend und spannungsreich ist und so eine gute Ergänzung zum dramatischen Geschehen der Kriminalhandlung darstellt. Mich hat dieser historische Krimi sehr gut unterhalten, mir scheint der Zeitgeist überzeugend eingefangen, er liest sich gut weg und ich freue mich auf Band 3.

Buchdetails:
Oliver Pötzsch: Das Mädchen und der Totengräber (=Ein Fall für Leopold von Hertzfeld 2). Ullstein Berlin 2022. ISBN 978-3-86493-166-6, Paperback, 16,99 €, als ebook 10,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Michael Peinkofer: Die Welt der Orks

Die Orks Balbok und Rammar sind Könige auf einer Insel, auf der ihre Herrschaft von niemandem in Frage gestellt wird. Und so könnten sie ein bequemes Leben führen – also zumindest ein solches, das den Ork-Definitionen von »bequem« entspricht. Aber wie das so ist: Das Universum hat andere Pläne. Sturm, Donner und ein mächtiges Beben erschüttern die Insel. Während Rammar das Ganze auf sich beruhen lassen will, treiben Neugier und Sorge Balbok dazu, unbedingt nachzuschauen, ob da nicht Kuruls Keule vom Himmel gefallen ist. Und damit fängt der ganze Schlamassel an.

Michael Peinkofer schreibt hier mit geübter Hand ein klassisches Fantasy-Abenteuer mit allem, was dazu gehört: Ein Jüngling auf Aventüre, bärbeißig-liebevolle Mentoren, dunkle Zauberer, bösartige Unterdrücker, hinterhältige Antagonist:innen, Drachen und unscheinbare Bewohner:innen, die ungeahnte Fähigkeiten in sich entdecken.

Doch auch wenn hier die Konventionen des Genres an keiner Stelle verlassen werden: Peinkofer versteht sein Handwerk und so ist es ein echtes Vergnügen, den Helden auf ihrer unfreiwilligen Reise zu folgen. Seine Charakterzeichnungen sind mitreißend, seine Helden sympathisch und das Setting der geradlinigen Orks, die sich um die komplexen Strukturen der Gesellschaft, in die sie unversehens geraten, keinen Deut scheren, sorgt immer wieder für äußerst komische Situationen.

Dieses Buch war ein großes Vergnügen, ich wurde wunderbar unterhalten.

Buchdetails:
Michael Peinkofer: Die Welt der Orks. Knaur München 2022. ISBN 978-3-426-22775-6. 431 Seiten, Paperback, 16,99 €, als ebook 14,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Alex Reeve: Der Mord in der Rose Street

London im ausgehenden 19. Jahrhundert: Das ist ein literarisch reizvoller Ort und dementsprechend reich bevölkert mit Literatur aller Genre ist er denn auch. Alex Reeve siedelt dort seine historische Kriminalreihe um Leo Stanhope an. »Der Mord in der Rose Street« ist Teil 2, allerdings der erste, der mir in die Hände fiel. Es gibt zwar verschiedene Verweise auf den ersten Fall, aber die Unkenntnis desselben hindert Verständnis und Lesefluss überhaupt nicht.

Leo Stanhope hat es nicht leicht: Da seine Familie – für das viktorianische England nun keineswegs untypisch – Schwierigkeiten damit hat, dass die geliebte Tochter sich als Mann identifiziert, muss er weit unter den materiellen Verhältnissen seines Standes leben und verdient sich seinen Lebensunterhalt sehr mühsam. Dass er unversehens ins Visier einer Mordermittlung gerät, ist dabei nicht hilfreich.

In seinem wendungsreichen Krimi, der unter Mittellosen und Revolutionären ebenso wie unter Reichen und Mächtigen spielt, gelingen Reeve ein paar interessante Charakterstudien – ohne das hier jetzt zu hoch hängen zu wollen. Aber seine Figuren sind plastisch und bei aller notwendiger Typisierung keineswegs eindimensional. Gerade das besondere Beziehungsgeflecht, in dem Stanhope sich bewegt, einem Netzwerk, das er zum Überleben braucht, bei dem zu große Nähe aber sofort auch Gefahr bedeutet, das ist gut herausgearbeitet. Überhaupt: Wie die besondere Gefahr, in der sich Stanhope (hier ganz klassisch Detektiv wider Willen) permanent befindet, immer spürbar bleibt, ohne vordergründig zu werden, das ist geschickt gemacht. Mir brachte es die kontraintuitive Erkenntnis, dass gerade die prüden Beschränkungen der viktorianischen Sexualmoral, die zu einer gezwungenen Zurückhaltung in der Öffentlichkeit führten, Freiheiten ermöglicht haben könnten.

Alles in allem eine angenehme Krimilektüre, kurzweilig und gerne gelesen.

Buchdetails:
Alex Reeve: Der Mord in der Rose Street (=Ein Fall für Leo Stanhope 2). Knaur München 2022. ISBN 978-3-426-52825-9, 416 Seiten, Paperback, 12,99 €, als ebook 9,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Chevy Stevens: Tief in den Wäldern

Cover-Abbildung zu Chevy Stevens, Tief in den Wäldern

Teenager Hailey hat schwere Schicksalsschläge hinter sich. Nach dem Unfalltod ihres Vaters ist sie Vollwaise und zieht bei ihrem Onkel ein. Dessen Familie scheint die wahr gewordene Vorstadtidylle zu sein: Häuschen, Hausfrau, Kind, Garten und der Vater ist Polizist – in welchem Umfeld sollte sie wohl besser aufgehoben sein und zur Ruhe kommen können als dort?

Doch schnell tun sich Abgründe auf, der scheinbar so makellose, umgängliche Polizist entpuppt sich als kontrollsüchtiger Manipulator, der offenbar die ganze Kleinstadt im Griff hat. Dass in der Umgebung regelmäßig junge Frauen spurlos verschwinden, macht es für die nach Selbstbestimmung und Freiheit suchende Hailey nicht einfacher, ihrem Vormund etwas entgegenzusetzen. Wohin sie auch geht – er scheint immer da zu sein. Nur mühsam gelingt es ihr, Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen oder zu halten – und als sie schließlich selbst verschwindet, eskalieren die Ereignisse.

Idyllische Kleinstädte als Orte des Grauens – das ist ein gängiger Topos in der Spannungsliteratur. Dementsprechend schwierig ist es, da eigene Akzente zu setzen, wenn nicht wiederholt werden soll, was schon tausendmal geschrieben und gesagt wurde.

[Wobei dagegen nichts zu sagen wäre, seit Jahrtausenden lieben es die Menschen, dieselben Geschichten immer wieder erzählt zu bekommen, es ist überhaupt nicht verwerflich, diesem Konzept treu zu bleiben. Und unter uns: Wer behauptet, als einziges Leseinteresse »das völlige Neuartige« zu haben, dem begegne ich mit großer Skepsis. Als ob niemand einfach mal eine Geschichte hören oder lesen möchte, ohne dabei der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, auch nur ein Iota näher zu kommen. Irgendwann muss das Gehirn ja auch mal ausruhen und entspannen – und wobei ginge das besser als bei einer Geschichte, bei der wir sofort wissen, wer Gut und Böse sind und wie es ausgehen wird…]

Chevy Stevens erzählt aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Erzählfäden sich immer wieder abwechseln, was eine reizvolle Spannung erzeugt, das hat mir sehr gefallen. Geradezu körperlich spürbar wird bei ihr die Athmosphäre von Cold Creek, dieser kleine Ort im Nordwesten Kanadas, in dem die einzigen Fremden die rastenden Trucker sind, wo jede:r jede:n kennt und jede:r von jede:m abhängig ist – mit dem geradezu allmächtigen örtlichen Polizeichef, der immer freundlich, immer jovial, immer verbindlich auftritt und doch jederzeit die Szenerie beherrscht. Diese gedrückte Stimmung, in der niemand frei zu atmen scheint, alle permanent auf der Hut sind, aber schicksalsergeben meint, dass dies so sein müsse und nichts gefährlicher wäre, als daran zu rühren: Das fängt Chevy Stevens hervorragend ein.

Es ist logisch, dass es dann die junge Hailey ist, die aufbegehrt, die ausbricht – sie, die keine Bindung mehr hat, die alles verloren hat und die ihre Ohnmacht erlebt, aber nicht bereit ist, sie hinzunehmen. Es hat mir sehr gefallen, dass hier einem scheinbar übermächtigen Schurken keine übermächtige Heldin gegenüber gestellt wurde. Sondern eine Jugendliche, die verzweifelt ist, aus ihrer Verzweiflung Mut schöpft, die aber auch nicht loslassen kann und die trotz allem Grenzen hat, die sie nicht überschreiten kann.

Es braucht eine Figur von außen, um diese geradezu gordisch verknotete Gemeinschaft auseinanderzutreiben und zu erlösen. Geübte Leser:innen werden von der Auflösung nicht überrascht sein, aber der Krimiplot steht – zumindest in meiner Lesart – hier auch nicht im Mittelpunkt. Sondern die vielfältig verwobenen Machtstrukturen, die Gewalt gegen Frauen ermöglichen und die Täter schützen.

Buchdetails:
Chevy Stevens: Tief in den Wäldern. Aus dem Englischen übersetzt von Maria Poets. Fischer Scherz Frankfurt am Main 2022. 461 Seiten, Paperback, 16 €, als ebook 4,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Anthony Horowitz: Der Tote aus Zimmer 12

Susan Ryeland ist eine ehemalige Lektorin. In ihrem Berufsleben betreute sie einen eigenwilligen, aber erfolgreichen Krimiautor. Dieser ist aber inzwischen tot und ihr Lebensmittelpunkt hat sich nach Kreta verlagert, wo sie mit ihrem Lebensgefährten ein mehr oder weniger gut gehendes kleines Hotel betreibt.

So weit, so Klischee. Auffällige Parallelen zwischen einem Roman ihres einstigen Star-Autors und dem tatsächlichen Verschwinden einer jungen Frau in England führen sie dorthin zurück und nun soll sie den Fall aufklären – denn immerhin entstand der Roman kurz nach dem Aufenthalt des Krimi-Autors am Ort des Geschehens und die handelnden Figuren sind nur mühsam kaschierte Abbilder des Personalensembles vor Ort.

Horowitz ist ein geübter Kriminalautor, er weiß, wie man Fälle konstruiert und er steht unstrittig in der Tradition des klassischen englischen Kriminalromans. Das wird auch in diesem Roman offenkundig, er legt falsche und echte Fährten aus, reichert das Geschehen häppchenweise mit Details an und hält auf diese Weise alles in der Schwebe. Und natürlich wird Susan Ryeland die großzügige Unterstützung zunehmend versagt, je mehr unangenehme Fragen sie stellt und lieber unter dem Teppich gehaltene Geheimnisse ans Tageslicht holt. Dass der von der Familie favorisierte Täter dabei immer weiter entlastet wird, stützt ihre Position auch nicht gerade…

Horowitz baut noch eine Ebene ein, indem er den Roman »Atticus unterwegs« selbst, den seine Protagonistin damals lektorierte, in Gänze präsentiert. Das gibt den zusätzlichen Reiz, dass nun die Anspielungen, deren Kenntnis ja das Spezialwissen von Susan Ryeland sind, auch von den Horowitz-Leser:innen nachvollzogen werden können.

Mich allerdings hat das nicht überzeugt, ich empfand das eher als ermüdend. In Krimis, die nicht auf einen rasanten Plot ausgelegt sind, kann der besondere Reiz natürlich im Miträtseln liegen. Hier aber flutet Horowitz das Geschehen geradezu mit möglichen Anhaltspunkten, so dass ich nach einer Weile aufgegeben habe, hier noch etwas zusammenpuzzeln zu wollen. Das war auch nicht unbedingt nötig, denn tatsächlich ist die Auflösung keine echte Überraschung und nach der Lektüre von knapp 600 Seiten eher enttäuschend. So sehr ich den Reiz der Idee des Krimis im Krimi nachvollziehen kann – gelungen ist es hier nicht.

Buchdetails:
Anthony Horowitz: Der Tote aus Zimmer 12 (OT: Moonflower Murders). Aus dem Englischen von Lutz-Werner Wolff. Insel Verlag Berlin 2022. 596 Seiten, ISBN 978-3-458-64287-9, 24 €, als ebook 20,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Charlotte McConaghy: Wo die Wölfe sind

Inti Flynns Biographie ist stark geprägt durch Verlust- und Gewalterfahrungen. Wirkliche Sicherheit und Geborgenheit fand sie nur in der Natur – und bei ihrer Schwester. Es ist so gesehen auch kein Wunder, dass sie Wildbiologin wird.

Nach Schottland kommen Inti und ihre Schwester schwer versehrt – weniger körperlich, als vielmehr seelisch. Ihre Schwester spricht nicht mehr und verlässt auch das Haus nicht. Es lässt sich schnell erahnen, dass ein schwer traumatisierendes Erlebnis dahinter stecken muss. Eines, das Inti den letzten Rest Glauben an die Menschheit gekostet hat – keine gute Voraussetzung, um schottische Schäfer von den Vorteilen einer Wolfsansiedlung zu überzeugen. Dementsprechend schlecht kommt das Projekt denn auch an. Und erwartungsgemäß dauert es nicht lange, bis Angriffe auf Schafe und Menschen dem Konto der Wölfe zugeschlagen werden.

Charlotte McConaghy hat ein ausgesprochenes Talent dafür, Natur so zu beschreiben, dass es fesselt. Die Szenen, in denen Inti Tiere beobachtet oder mit ihnen interagiert gehören zu den stärksten Passagen des Romans. Nicht weniger beeindruckend sind ihre Schilderungen der vielfältigen Auseinandersetzungen, sie kann Szenen so schildern, dass ich geradezu körperlich gespürt habe, wie Macht und Gewalt einen Schauplatz eingenommen haben. Wenn sie beschreibt, wie Männer sich vor Inti aufbauen oder wie die Kneipenstimmung kippt – das ist sehr eindrücklich. Und das ist dementsprechend stellenweise auch nur schwer auszuhalten und könnte zum Beispiel Opfer häuslicher Gewalt gerade wegen der literarischen Stärke dieser Schilderungen stark triggern.

Allerdings fällt sie immer dann ab, wenn sie innere Monologe schreibt, ihre Protagonistin Geschehenes oder gesellschaftliche Realitäten analysieren lässt. Ich finde sie da nicht sehr überzeugend, das ist überraschend schlicht und eindimensional und will mir nicht so recht zu dieser empathischen, intelligenten und klarsichtigen Protagonistin passen. Es ist sicher dem stark fokussierten Ansatz dieses Romans geschuldet – aber ich hätte mir auch die anderen Figuren etwas weniger holzschnittartig gewünscht.

Aber das soll niemandem vom Lesen dieses sehr einfühlsamen Werkes abhalten.

Buchdetails:
Charlotte McConaghy: Wo die Wölfe sind (OT: Once There Were Wolves). Aus dem Englischen von Tanja Handels. S. Fischer Frankfurt am Main 2022. 429 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-10-397100-2, 22 €, als ebook 18,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Klaus-Peter Wolf: Ostfriesisches Finale

Dauerbestsellerautor Klaus-Peter Wolf und sein Figurenensemble muss an dieser Stelle wohl niemandem mehr vorgestellt werden – und falls doch: Fangen Sie am besten vorne an, denn dieses hier ist Band 3 eines Spin-Offs, ist als Einstieg also naturgemäß ungeeignet. 😉

Ich muss gestehen, ich bin etwas ratlos angesichts des großen Erfolges Wolfs Krimiserien. Ich finde in diesem Roman nichts, was ihn an irgendeinem Punkt aus der Masse des Genres heraushebt. Die Figuren sind holzschnittartig bis plump gezeichnet, der Plot ist hanebüchen, fast bis zur Groteske überzogen. Gleichzeitig kann ich mir schwer vorstellen, dass es sich um Satire handeln könnte, dafür fehlt mir der Ansatzpunkt.

Es gibt immer wieder einige Szenen, denen ich eine gewisse Komik nicht absprechen möchte, aber dieses permanente Suhlen in der Durchschnittlichkeit, um nicht zu sagen: Dämlichkeit des Personals bei gleichzeitiger plumper Freude an der Brutalität verdirbt mir die Lesefreude gänzlich.

Alles in allem: Hier wird so ziemlich jedes böse Klischee über Regionalkrimis erfüllt.

Buchdetails:
Klaus-Peter Wolf: Ostfriesisches Finale (=Rupert Undercover 3). Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2022. 459 Seiten, kartoniert. 13 €, als ebook 9,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt

Umschlagabbildung zu Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl

Helene, Mutter dreier Kinder, steht eines Tages vom Abendbrottisch auf, geht zum Balkon und stürzt sich in die Tiefe. Ihre Freundin Sarah will den Hinterbliebenen helfen und findet sich unversehens in Helenes Rolle wieder – obwohl sie das nie wollte.

Sarah möchte in dieser Krisensituation helfen – aus der lebenslangen Freundschaft zu Helene heraus, aus Zuneigung zu diesen Kindern, deren ältestes, Lola, sogar einst Teil ihrer Wohngemeinschaft war. Und schließlich, weil man Menschen eben in einer solchen Situation nicht hängen lässt.

Dass damit eine Falle zuschnappt, dass sie ganz selbstverständlich in einer Rolle gelandet ist, die sie weder wollte noch ihr zusteht und die ihr nur aus einem einzigen Grund zugewiesen wird, weil sie eine Frau ist, wird ihr bald klar. Weniger klar allerdings ist ihr der Weg, dort wieder herauszukommen. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate und es droht die Jahresfrist. Begleitet wird in ihrem Geist von einer Manifestation Helenes, die sie spöttisch beobachtet, ihr Fragen stellt, die befreit wirkt.

Helenes hellsichtige Tochter Lola ist nicht bereit, sich den Erwartungen an ihre Rolle zu beugen. Sie liest feministische Literatur, weiß um die Wirkmechanismen des Patriarchats und mit der Intensität jugendlicher Überzeugungen konfrontiert sie Sarah und alle anderen Menschen in ihrer Umgebung mit ihrer Sicht auf die Welt. Klar, überzeugt und analytisch scharf. Doch erst eine Schlüsselsituation, in der sie sich hilflos männlicher Gewalt ausgesetzt sieht, bringt sie zur Tat. Sie ist nicht länger bereit, das Unrecht tatenlos hinzunehmen und die Gewalt männlichen Tätern zu überlassen, die mit ihren Taten unbehelligt ihre Leben weiterleben.

Ein Schlüsselement dafür wird das Teilen von Erfahrungen, von Erlebnissen wie sie nur Frauen (oder als Frauen gelesene Personen) haben – und die sie alle gemacht haben. Daraus speist sich Lolas Wut und es wird eine unglaubliche Energie frei dabei. Das Ende des Schweigens der Frauen wird auch Lola und Sarah helfen, einander zu verstehen und es ist der Motor ihrer Emanzipationsgeschichte. Je weiter diese voranschreitet, desto seltener tritt Helene in Erscheinung.

Mareike Fallwickls Roman hat bei mir massiven Eindruck hinterlassen. Was für eine Kraft, was für eine Wucht steckt in diesem Befreiungsschrei von einem Roman!

Es ist mit Sicherheit eine der aufwühlendsten, beeindruckendsten Lektüreerfahrungen mindestens der letzten Jahre, wenn nicht überhaupt meiner ganzen Lesebiographie. Da sind so viele Aspekte, die mir auch erst jetzt im Nachgang erst klar werden. Ich werde noch lange damit zu tun haben.

Buchdetails:
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt Hundert Augen Hamburg 2022, 377 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-498-00296-1, 22 €, als ebook 15,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Hillary Rodham Clinton/Louise Penny: State of Terror

Umschlagabbildung zu State of Terror von Hillary Rodham Clinton und Louise Penny

Die überraschend von ihrem ärgsten Rivalen, dem frisch vereidigten neuen Präsidenten, ins Amt berufene neue Außenministerin der USA scheitert auf ihrer ersten Auslandsmission grandios. Statt eines Abkommens bringt sie nur dreckige Schuhe mit nach Washington.

Doch statt einer medialen Hinrichtung wird ihr überraschend Sympathie entgegen gebracht, was im Präsidentenbüro zerknirscht zur Kenntnis genommen wird. Doch sehr schnell spielen derlei Ränke keine große Rolle mehr: Eine Serie von Anschlägen in Europa stürzt die westliche Welt in eine nie dagewesene Krise und plötzlich ist die USA als Führungsmacht gefragt – eine Rolle, aus der sie sich in der vorigen Amtsperiode verabschiedet hatte. Und mittendrin: Die neue Außenministerin.

Der Thriller beginnt mit einem hohen Erzähltempo, wir werden schnell mitten ins Zentrum der Macht geworfen, in dem schon mal wichtige Informationen verloren gehen, weil ein Abteilungsleiter die Bedeutung nicht erkennt und persönliche Befindlichkeiten wichtiger sind als die Lage der Nation (oder gar der Welt). Gerade dieser Blick ins Innere der Maschinerie, die eben nicht so reibungslos und sauber dirigiert funktioniert wie es von außen wirken soll, macht einen ganz besonderen Reiz dieses Buches aus.

Leider nutzt sich dieser Effekt aber im Laufe der Zeit ab und es bleibt am Ende doch ein eher konventioneller Thriller mit einer Superheldenaußenministerin, die die Welt rettet, während alle außerhalb ihres Stabes eher blass bleiben (wenn sie nicht sowieso die Bösen sind).

Es fällt schwer, in zahlreichen Figuren nicht reale Amtsträger aktueller oder vergangener Regierungen zu sehen – wahrscheinlich ist das mit einer Autorin Hillary Rodham Clinton auch gar nicht möglich. Aber ich rate trotzdem dazu, sich von der Versuchung zu befreien, diesen Verschwörungsthriller als Schlüsselroman zu lesen.

Denn was die beiden Autorinnen hier sehr eindrücklich zeigen, ist die Vulnerabilität unserer Weltordnung. Wie wenig es eigentlich braucht, damit alles zum Teufel geht. Wenn an ein paar Schaltstellen die falschen Leute sitzen, sind wir nicht zu retten…

Buchdetails:
Hillary Rodham Clinton und Louise Penny: State of Terror [OT State of Terror], übersetzt von Sybille Uplegger, HarperCollins Hamburg 2021, 560 Seiten, gebunden, 24 €, als ebook 16,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Richard Osman: Der Mann, der zweimal starb

Umschlagabbildung zu Richard Osman, Der Mann der zweimal starb

Mit dem Donnerstagsmordclub in der Edel-Seniorenresidenz Coopers Chase legt man sich lieber nicht an. Und wenn doch, dann sollte man zumindest einen Fehler nicht machen: Die Damen und Herren zu unterschätzen.

Im zweiten Fall von Richard Osmans rüstiger Rentner-Gang legen sich die tapferen Vier mit Drogenhändlern, dem Geheimdienst und der Mafia an. Angeführt von Mastermind Elizabeth, die dieses Mal ihr ganzes Können und so manche Beziehung ausspielen muss, legen sie aber auch dieses Mal die Bösen auf’s Kreuz und sie werden auch dieses Mal nicht immer im Rahmen des üblichen Verständnisses von Legalität arbeiten.

Wie schon im ersten Fall des Donnerstagsmordclubs so trägt auch diesen Krimi die herrliche Unverfrorenheit der Protagonistʔinnen, die ihre Mit- und Gegenspielerʔinnen regelmäßig verblüffen oder gleich zur Weißglut treiben. Es war klug von Osman, das Spielfeld zu erweitern und der Versuchung zu widerstehen, einfach die Geschichten und Orte des ersten Falles fortzuführen.

Ich weiß nicht, wie lange das Konzept noch tragen wird, aber bis hierhin trägt es ganz vorzüglich, es war wieder mal ein großer Spaß.

Buchdetails:
Richard Osman: Der Mann, der zweimal starb [OT The Man Who Died Twice], übersetzt von Sabine Roth, List Verlag München 2022, 446 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-471-36013-2, 16,99 €, als ebook 12,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Rebecca Russ: Die erste Frau

Umschlagabbildung zu Rebecca Russ, Die erste Frau

Hannah bricht alle ihre Zelte ab und zieht bei Thomas in seinem großen Haus am Bodensee ein. Sie freut sich auf eine strahlende Zukunft mit Kind und voller Liebe.

Doch schon bald trübt sich alles ein. Sie hat das Gefühl, nicht allein zu sein, sie erhält beunruhigende Nachrichten, Dinge verschwinden oder tauchen auf ohne ihr Zutun. Und die Geschichten über Thomas‘ vorherige Frau sind widersprüchlich, er selbst bei diesem Thema zurückweisend.

Es dauert nicht lange und Thomas‘ beginnt an ihr und ihrem Geisteszustand zu zweifeln – Hannah selbst ist sich auch nicht sicher, was sie glauben und wem sie trauen soll.

Rebecca Russ‘ Psychothriller ist spannend geschrieben und handwerklich ordentlich gearbeitet. Mich überzeugt aber ihre Protagonistin nicht. Ihre Handlungen wirken auf mich eher dem Plot als der inneren Logik der Figur geschuldet und dieser folgt für meinen Geschmack den Genrekonventionen etwas zu sehr.

Als spannende Lektüre zwischendurch, etwa im Urlaub oder am Wochenende ist das freilich absolut passend und empfehlenswert.

Buchdetails:
Rebecca Russ: Die erste Frau. Aufbau Taschenbuch Berlin 2021, 319 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-7466-3781-5, 10 €, als ebook 7,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

John Le Carré: Silverview

Umschlagabbildung zu John Le Carré Silverview

Julian möchte nicht mehr in der Londoner City das große Geld machen und steigt aus dem Businesstrubel aus. Was könnte dafür geeigneter sein als eine Buchhandlung in einer englischen Kleinstadt?

Dort begegnet er einem freundlichen älteren Herrn, der ihn um einen kleinen Gefallen bittet. Das ist der Auftakt zu einer Reihe regelmäßiger Besuche mit kleinen Geschichten, Wissenshäppchen über Julians Familie und immer mal wieder einer kleinen Gefälligkeit. Aber schließlich ist der Herr auch ungemein nett und von ausgezeichneter Höflichkeit und Zurückhaltung, Aber damit gerät Julian in eine Angelegenheit größeren Ausmaßes, gegen die der Stress der Londoner Businesswelt geradezu erholsam scheint.

Denn natürlich ist hier nichts wie es scheint, der ältere Herr alles andere als ein harmloser Sammler, sein Heim namens »Silverview« keineswegs einfach nur ein altes Anwesen und seine eingeforderten Gefallen nicht annähernd so klein wie Julian meint.

John Le Carré schreibt hier einen in jeder Hinsicht klassischen Agentenroman, mit der leichten Hand eines Könners seines Faches. Mit Agenten, die zwischen den Loyalitäten geliebten Menschen und auftraggebenden Diensten jonglieren und ihr Wissen über Funktions- und Denkweisen einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Und die müssen nicht immer völlig deckungsgleich mit denen ihrer Auftraggeber sein. Mir hat es eine große Freude gemacht, ihm beim Zelebrieren zuzuschauen, seine Figuren sind überzeugend und sehr sympathisch – ein gelungener Fall.

Buchdetails:
John Le Carré: Silverview [OT Silverview], übersetzt von Peter Torberg, Ullstein Verlag 2021, 251 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-550-20206-3, 24 €, als ebook 19,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben

Umschlagabbildung zu Carolin Kebekus, Es kann nur eine geben

Mit Carolin Kebekus bin ich sehr lange nicht so recht warm geworden. Wie bei vielen Comedians, die ihr Handwerk im Karneval-Kontext erlernt und erprobt haben, war mir das lange Zeit zu krawallig, zu platt, zu sehr schenkelklopfend (auch wenn ich hier mal selbstkritisch überprüfen muss, ob mich das bei ihr nicht besonders gestört hat, weil sie eine Frau ist – ich kann das nicht abschließend beurteilen, weil es extrem schwierig ist, sich in sein früheres Ich hineinzuversetzen, aber insbesondere nach der Lektüre dieses Buch muss ich das für wahrscheinlich halten).

Das hat sich in den letzten Jahren geändert, dennoch war ich skeptisch. Allerdings völlig zu Unrecht. Sie legt hier einen Grundkurs zu den drängendsten gesellschaftlichen Fragen aus feministischer Perspektive hin, der keine Themen scheut, Probleme klar benennt und dabei erstaunlich locker bleibt. Das ist eine große Kunst und Carolin Kebekus beherrscht sie meisterhaft. Immer wieder im Fokus steht dabei der Slogan »Die eine, die Schönste, die Beste, die Auserwählte.«

Es ist Augen öffnend, wie sie immer wieder zeigt, an wie vielen Stellen und mit wie vielen Mitteln und Methoden wir gesellschaftlich dafür sorgen, dass Frauen sich nicht nur permanent gegenseitig behindern, sondern das auch noch wollen. Wie sie dazu gebracht werden, es völlig normal und natürlich zu finden, dass es eben nur »die Eine« geben könne. Wie dazu schon unsere Urmythen, unsere Kindheitshelden, unsere Jugendidole, unsere Eltern beitragen.

Für mich ist das eine der großen Stärken dieses Buches, aufzuzeigen, wie viel möglich wäre, würden Frauen sich verbünden, Netzwerke schaffen, sich gegenseitig stärken und stützen – genau so wie Männer das ganz selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert auch tun.

Und: Carolin Kebekus zeichnet ihren eigenen Erkenntnisweg nach, beschreibt, wie sie selbst erst gelernt hat, bestimmte Dinge zu sehen, wie sie heute Dinge anders handhabt als sie das noch vor wenigen Jahren getan hat. Das führt zu einer Haltung, die die Hand reicht, die mitnimmt, die einlädt. Und damit vielleicht in der Lage ist, Menschen mitzunehmen, die sich von Appellen nicht angesprochen fühlen.

Mich hat sie auf jeden Fall erreicht und ich habe vieles zu sehen gelernt, das mir vorher nicht so klar war.

Buchdetails:
Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben. Mit einem Kapitel von Mariella Tripke. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021. 352 Seiten, Paperback. ISBN 978-3-462-00174-7, 18 €, als ebook 14,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht

Umschlagabbildung zu Alina Bronsky, Barbara stirbt nicht

Herr Schmidt kommt gut zurecht im Leben. Alles geht seinen ordentlichen Gang, seine Welt als Wille und Vorstellung ist in Ordnung. Bis eines Tages seine Frau Barbara nicht mehr aufsteht.

Plötzlich ist Herr Schmidt mit Fragen und Problemen konfrontiert, denen er sich zuvor nicht stellen musste. Essen kochen, Wohnung reinigen, Einkaufen, soziale Kontakte pflegen…

Nach anfänglichem Scheitern an diesen Hürden widmet er sich mit einem unerschütterlichen Glauben an seine Lernfähigkeit und einer beeindruckenden Fähigkeit, unbeirrbar alles zu ignorieren, was ihm unverständlich und unnötig vorkommt, den neuen Herausforderungen seines Alltags.

Alina Bronsky schafft hier einen Helden, dessen Verhalten auf andere brüsk, zurückweisend, unempathisch wirken muss. Er ist völlig unempfänglich für Zwischentöne einer Kommunikation – sei es mit seinen Kindern, Nachbar:innen oder Ärzt:innen, die sich um Barbara sorgen, nach ihr erkundigen, gemeinsame Aktivitäten oder Besuche vorschlagen. Er hat diese Art Gespräche zuvor nie geführt, kennt ihre Regeln nicht. Und genau so, wie er nicht versteht, wird er auch nicht verstanden. Denn Herr Schmidt ist weder lieblos noch unempathisch. Das wurde mir zumindest beispielsweise sehr deutlich, als er mit großer Akribie versucht, Barbaras Lieblingsgericht in Perfektion zuzubereiten. Da ist eine große Menge Liebe in diesem Menschen, er hat es nur nie gelernt, diese auch nur annähernd adäquat zu äußern. Oder sie bei anderen wahrzunehmen.

Es steckt sehr viel Tragik in dieser Figur, in seiner beharrlichen Weigerung, Barbaras Zustand zu akzeptieren, darin, wie er sich immer weiter in die Perfektionierung der Essensversorgung steigert, je schlechter es Barbara geht. Seinen Glaubenssatz, sie müsse nur wieder ordentlich essen, dann ginge es ihr wieder besser und sie stünde wieder auf, hält er immer verzweifelter aufrecht – ohne sich selbst freilich seine Verzweiflung einzugestehen.

Dadurch entstehen naturgemäß hochgradig absurde Szenen, die dadurch sehr komisch wirken können. Beispielsweise, wenn er Facebook-Kommentare nicht nur wortwörtlich nimmt, sondern sich auch noch die Mühe macht, auf jeden einzelnen zu antworten. Da entstehen großartige Gesprächsfäden, die durchaus ein Kapitel in Lehrbüchern über gescheiterte Kommunikation verdienen. Aber mir blieb trotz allem häufig das Lachen im Hals stecken, weil ich gleichzeitig Herrn Schmidts Leiden gesehen habe – und das Leid, das er ungewollt über andere bringt.

Buchdetails:
Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021, 256 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-462-00072-6, 20 €, als ebook 14,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Kira Jarmysch: DAFUQ

Umschlagabbildung zu Kira Jarmysch, Dafuq

Anja wird zu 10 Tagen Arrest verurteilt. Sie hatte einen Aufruf für eine Anti-Korruptionsdemo geteilt. Einen Großteil des Arrests verbringt sie mit fünf anderen Frauen in einer Zelle.

Dass Anja, ehemals Kandidatin für die Arbeit im Außenministerium, noch immer an ein funktionierendes Rechtssystem glaubt, zeigt sich bereits zeitig, als sie tatsächlich meint, mit einer Beschwerde gegen das Urteil etwas erreichen zu können. Stattdessen lernt sie in den zehn Tagen ihrer Arrestzeit, wie sehr sie der Willkür der Machthabenden ausgesetzt ist – und sei es nur die Macht über die Suppenkelle, mit der bestimmt wird, wessen Portion wie groß ist.

Kira Jarmysch zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, in der alle versuchen, sich irgendwie zu arrangieren. Nichts stößt auf so viel Unverständnis wie Anjas Engagement gegen Korruption, überhaupt ihr Eintreten für politische Veränderungen. In ihrer Schicksalsergebenheit, ihrem Glauben daran, sowieso nichts ändern zu können, erinnern ihre Protagonist:innen an zahlreiche Vorbilder in der russischen Literatur.

Es ist faszinierend, wie alle ihre eigenen Erfahrungen mit Ungerechtigkeiten, Ausnutzung, Gewalt, Übergriffen, Diskriminierung machen – und die Idee des Aufbegehrens aber nicht aufkommt. Stattdessen finden Anjas Zellengenossinen ihre eigenen Wege, mit der gegebenen Welt umzugehen und ihre Vorteile zu finden.

Die Gespräche der Frauen miteinander sind – bei aller Rauheit im Ton – geprägt von Verständnis und im engen Rahmen, den der Arrest bietet, unterstützen sie sich gegenseitig, decken sich, schlagen den Wächtern Schnippchen oder manipulieren sie oder Mithäftlinge zu ihren Gunsten.

Kira Jarmysch schafft es dabei, ihre Heldinnen mit all ihren Eigenheiten und Schwierigkeiten, manchmal auch Abgründen, sympathisch und lebendig zu zeichnen.

Mir wurde sehr deutlich, warum es keine wirksame, öffentlich sichtbare Widerstandsbewegung gibt: Viele Menschen sind schlicht damit beschäftigt, irgendwie durch ihr Leben durchzukommen – auffallen ist dann gefährlich.

Es dürfte schwer fallen, diesen Roman zu lesen ohne die Biographie der Autorin zur Kenntnis zu nehmen. Aber es lohnt sich.

Buchdetails:
Kira Jarmysch: DAFUQ [OT Невероятные происшествия в женской камере № 3], übersetzt von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin 2021, 412 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-7371-0140-0, 22 €, als ebook 14,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer

Umschlagabbildung zu Anne Bandel, Von oben fällt man tiefer

Theophil Kornmeier hat ein unverarbeitetes Trauma: Sein Bruder stürzte bei einer Alpenwanderung vor seinen Augen ab und starb. Irgendwo zwischen Überlebensschuld und der nagenden Frage, ob er nicht vielleicht doch selbst – bewusst, unbewusst? – Schuld daran war, irrlichtert sein Geist unruhig hin und her. Und so versucht er nun in einem letzten Therapie-Versuch, dadurch Ruhe zu finden, dass er den Wanderweg E5 durch die Alpen entlangwandert. Einige Stücke alleine, einen großen Teil des Weges aber in Begleitung einer Wandergruppe.

In grandioser Selbstüberschätzung macht er sich also – weitgehend untrainiert und nur unzureichend vorbereitet (was soll an Wandern schon schwierig sein?) auf den Weg zur Erlösung.

Um mit anderen Menschen viel Zeit zu verbringen und gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen, könnte es hilfreich sein, die Anwesenheit anderer Menschen nicht als Zumutung zu empfinden. Das wird auch Anne Bandels Protagonisten sehr schnell klar. Dass alle Mitglieder der Wandergruppe ihre ganz eigenen Probleme haben und diese mittels einer Alpenwanderung zu lösen gedenken, sorgt für eine turbulente Wanderung, bei der neben etlichen zwischenmenschlichen Missverständnissen und Irrungen Tag für Tag auch noch die Anzahl der Gruppenmitglieder dezimiert wird.

Anne Bandel nimmt in ihrem Wander-Krimi etliche menschliche Schwächen aufs Korn und ihre satirische Überzeichnung der Figuren hat einen erheblichen Reiz. Eine besonders hübsche Idee finde ich dabei, die Wandergruppe unverdrossen weiterwandern zu lassen, obwohl doch offenkundig ist, dass ein Mörder mitläuft. Der ganze Roman ist tatsächlich recht unterhaltsam, fordert nicht zu sehr heraus – und bei all den Sticheleien und Fiesheiten, die sich die Protagonist:innen gegenseitig antun, bleibt die Frage nach dem Mörder tatsächlich eher nebensächlich. Spannender ist da schon eher, wie sich die einzelnen Figuren von ihren inneren Fesseln und Illusionen befreien und so zumindest für die Überlebenden sich ganz neue Perspektiven eröffnen. Ein unterhaltsamer Roman im besten Sinne.

Buchdetails:
Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer. dtv München 2022, 272 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-423-21992-1, 10,95 € als ebook 4,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Franziska Schreiber: Inside AfD

Umschlagabbildung zu Inside AfD von Franziska Schreiber

Franziska Schreiber will aufklären. Über die AfD, ihre Gefährlichkeit und ihre »wahren« Ziele. Leitlinie ist dabei ihr eigener Weg, den sie nachzeichnet.

Im Laufe der Jahre haben viele Menschen der AfD den Rücken gekehrt, darunter zahlreiche Amtsträger – tatsächlich nahezu alle ehemaligen Vorsitzenden. Zu ihnen gehört auch Franzsika Schreiber.

Wie viele andere vor und nach ihr, macht sie eine »zunehmende Radikalisierung« der Partei für ihren Schritt verantwortlich. Nun mag es von außen schwer vorstellbar sein, wie es möglich sein soll, in diese Partei einzutreten und in ihr Karriere zu machen und das Offensichtliche nicht zu sehen – aber es wäre andererseits fatal, Menschen dafür zu verdammen, dass sie mit Idealen in die Politik gehen und sich in einer Partei engagieren wollen. Dabei kann man sich irren und dabei kann man auch Illusionen unterliegen. Umso ehrenwerter, wenn sich jemand zu seinen Fehlern bekennt und die eigenen Erfahrungen öffentlich macht, um anderen vergleichbare Irrtümer zu ersparen.

Nur: Das macht Franziska Schreiber in ihrem Buch nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Apologetik in eigener und Frauke Petrys Sache. Statt einer Analyse der eigenen Fehleinschätzung erzählt Schreiber das Märchen einer Radikalisierung weiter, bei der böse Kräfte das eigentlich gute Projekt verderben würden. Dass die AfD im Kern und von Anfang an ein nationalistisches, rassistisches Projekt war, dass auch und gerade Frauke Petry alles andere als eine verkannte Liberale ist, die zum Opfer radikaler Kräfte wurde – dazu kommt sehr wenig. Ihre Berichte aus den internen Zirkeln mögen Boulevard-Wert haben, der politische Erkenntniswert ist freilich gering.

Buchdetails:
Franziska Schreiber: Inside AfD. Europa Verlag München 2018. 224 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-95890-203-9, 18 € als ebook 12,99
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Umschlagabbildung von Zukunftsmusik von Katarina Poladjan

Chopins Trauermarsch tönt aus den Radios an diesem Tag im März 1985. Die Symbolik ist den Protagonist:innen dieses Romans vertraut – in Moskau ist wohl mal wieder jemand gestorben. Wahrscheinlich ein Generalsekretär, aber so ganz sicher ist man sich da nicht. Über allen und allem schwebt denn auch die mehrfach ausgesprochene Frage, was denn nun wohl werden werde.

Die Kommunalka im fernen Sibirien (Moskau ist weit…) und hier insbesondere die Vier-Generationen-WG aus Janka, ihrer Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter dienen Katerina Poladjan als Brennglas für ein Gesellschaftsportrait. Für das Portrait einer Gesellschaft, deren Regeln schon lange hohl geworden sind, die zwar scheinbar noch wirken und gelten, deren Sinnhaftigkeit aber selbst von ihren Verfechtern nicht mehr verteidigt wird. Es ist nur ein Tag im Leben dieser Menschen, den wir begleiten, der aber umso dichter wird, je mehr Katerina Poladjan den Blick nach innen öffnet, in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Protagonist:innen, in ihre Vergangenheit und ihre Sehnsüchte.

Mich hat besonders ihre Sprache eingenommen, die Präzision, mit der sie Erlebnisse und Eindrücke beschreibt, die sie auch in diffusen, scheinbar magischen Momenten nicht verlässt. Es ist ihre Genauigkeit, die nachfühlen lässt, wie sich eine Zeitenwende anfühlt, von der keine:r weiß, dass sie eine Zeitenwende ist. Mich hat es sehr begeistert, wie sie sie für jede Figur eine eigene Sprache findet und sie so lebendig werden lässt. Großartig.

Buchdetails:
Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. S. Fischer Frankfurt am Main 2022, 185 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-10-397102-6, 22 €, als ebook 18,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold

Umschlagabbildung von Wie viel von diesen Hügeln ist Gold von C Pham Zhang

Lucy und Sam sind unterwegs durch die Prärie gen Westen. Mit dabei haben sie eine alte Kiste mit dem Leichnam ihres Vaters, den sie begraben wollen – doch dafür fehlen ihnen zwei Silberdollars.

C Pam Zhang erzählt die Geschichte des Geschwisterpaars als Reise durch ein Land, in dem Vertrauen gefährlich ist und die Liebe sich versteckt. Das wäre noch nicht sehr bemerkenswert, solche Erzählungen aus dem »Wilden Westen« sind Legion.

Doch diese vordergründige Erzählung ist nur die Folie, vor der sie ein ganzes Panorama an Geschichten öffnet, Geschichten um skrupellose Geschäftsleute, die die Träume und Sehnsüchte von Einwanderern ausnutzen. Geschichten von degradierten Menschen, die bestenfalls als Material betrachtet werden und im Zweifelsfall als Sündenböcke für gescheiterte Lebensentwürfe herhalten müssen. Geschichten von zerbrochenen Identitäten, von familiärer Gewalt, von Verzweiflung, Depression und der unstillbaren Sehnsucht danach, einen Platz in dieser Welt zu finden und sei es unter Verleugnung der eigenen Herkunft und Biographie.

Sie erzählt in einer mitreißenden, sprachmächtigen Intensität, die einen Sog erzeugt, dem ich mich gerne hingegeben habe. C Pam Zhang Protagonist:innen bleiben alle nicht frei von Schuld, manche begehen schreckliche Taten und doch gelingt es ihr, sie in ihrer Komplexität und ihrer Geworfenheit in eine Welt, die ihnen überall mit Ablehnung und Hinterlist begegnet, so zu zeichnen, dass es mir unmöglich war, nicht mit ihnen zu fühlen, nicht zu verstehen, was sie antreibt.

Buchdetails:
C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold [OT: How Much of These Hills is Gold], übersetzt von Eva Regul. S. Fischer Frankfurt am Main 2021, 347 Seiten, gebunden. 22 €, als ebook 14,99 €
Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

bell hooks: Alles über Liebe

Umschlagabbildung von über liebe von bell hooks

»Today we lost a titan.« schrieb Amanda Gorman, als die Nachricht vom Tode bell hooks bekannt wurde. Und sie hat damit nicht übertrieben.

Den letzten Anstoß zur Lektüre hatte mir Şeyda Kurt gegeben, die sich in »Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist« unter anderem auch ausgiebig auf bell hooks bezieht. Das hatte mich neugierig gemacht und so kam mir diese neue Übersetzung von Heike Schlatterer gerade recht.

bell hooks gelingt hier eine beeindruckend scharfsinnige Analyse des Zusammenwirkens gesellschaftlicher Vorstellungen, Strukturen und Interessen auf und mit persönlichen Entscheidungen, Ideen und Beziehungen. Sie zeigt, wie patriarchale, kolonialistische und rassistische Strukturen unser aller Leben durchziehen und prägen. Dies gelingt ihr ganz besodners eindrücklich durch ihre besondere Art, ihr eigenes Leben, ihre eigenen biographischen Prägungen mit gesellschaftlicher Analyse so zu verweben, dass ich das Gefühl hatte, plötzlich ganz klar und leuchtend Erkenntnisse vor mir zu sehen, die ich vorher gar nicht oder zumindest nicht in dieser Klarheit zu haben. Ihr sprachliches, schriftstellerisches Talent ist beeindruckend, umso beeindruckender, da es kein Jota an ihrer analytischen Brillanz verringert.

Am stärksten beeindruckt hat mich in diesem Werk ihre Wärme, ihre Zugewandtheit zur Welt, eine tiefe Liebe zur Menschheit und ihren Möglichkeiten, die ihr ganzes Denken zu durchziehen scheint. Ihr Plädoyer für den Kampf gegen Diskriminierung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit ist entschieden und deutlich. Und genauso entschieden und deutlich ist es ein Plädoyer für Warmherzigkeit, dafür, dass nur die Liebe, nur das Bestreben dafür, nicht allein selbst zu wachsen, sondern dafür zu sorgen, dass andere wachsen können, diese Welt verbessern kann. Ich habe noch kein Buch erlebt, dass so stark für Spiritualität eintritt und dennoch völlig frei von jeglicher Esoterik ist. Ich bin nachhaltig beeindruckt und werde mit Sicherheit noch viele Jahre von diesem Erlebnis zehren und neue Aspekte entdecken, die ich jetzt noch nicht sehe.

Wie konnte ich bisher nur durchs Leben gehen ohne bell hooks zu lesen? I know, I’m late to the party, aber wenn es da draußen noch Menschen geben sollte, die noch ohne diese Lektüreerfahrung leben: Ändern Sie das, lesen Sie bell hooks!

Buchdaten:
bell hooks: Alles über Liebe – Neue Sichtweisen [OT: All About Love: New Visions], übersetzt von Heike Schlatterer. HarperCollins Hamburg 2021, 304 Seiten, gebunden. 20 €, als ebook 16,99 €
Bestellen bei yourbookshop und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.

Dave Eggers: Every

Delaney Wells beendet ihre Arbeit im Nationalpark, als dort die Registrierung per Smartphone zur Bedingung für das Betreten gemacht wird. Verantwortlich macht sie dafür den Konzern »Every«, der aus dem »Circle« hervorgegangen ist und sukzessive alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unter seine Kontrolle bringt.


Voller Zorn beschließt sie daraufhin, sich ins Zentrum des Konzerns zu begeben, um dort nach einer Chance zu suchen, ihn von innen heraus zu zerstören.


Leider wird der Roman nicht eleganter als diese simple Ausgangsidee. Dave Eggers Protagonistin ist von ihm unfassbar schlicht gestaltet, obwohl sie gleichzeitig sehr intelligent und analytisch hochbegabt sein soll. Dass aber ihre erste (und einzige) Idee, den Konzern zu zerstören, nicht so recht funktionieren will, lässt sie überhaupt nicht umdenken. Überhaupt wirkt sie – ihrer doch so starken intrinsischen Motivation zum Trotz – die ganze Zeit trudelnd, treibend – von tatsächlichem Agieren ist sie weit entfernt. Noch blasser sind die übrigen Figuren gezeichnet, eher Abziehbilder als Menschen. Von einem schlüssigen Plot gar nicht erst zu reden.
Es ist sehr deutlich, dass Dave Eggers eine Botschaft hat. Er sieht Huxleys Brave New World unmittelbar vor ihrer Materialisierung und uns blind vor dieser Gefahr, weil sie so schön vernünftig und gut daherkommt. Alle zusätzlichen Schritte zur Überwachung und Kontrolle werden mit »Sicherheit«, »Nachhaltigkeit«, »Gesundheit« und ähnlichen wohlmeinenden Zielen begründet, so dass sie statt auf Widerstand auf freudige Zustimmung stoßen.


Ich finde es sehr schade, dass er beim Ausmalen dieser Zukunft jegliche literarische Finesse vergisst, ach was, literarische Grundtugenden. Er kommt in Figur und Handlung nicht über »Körperfresser«-Niveau heraus. Und das ist sehr schade, denn die Gefahr, vor der er warnen will, ist ja real. Es kann uns durchaus passieren, dass wir im Bestreben um mehr Sicherheit und Berechenbarkeit des Alltags Freiheiten aufgeben, die doch essentiell sind. Dieses schleichende Aufgeben der Selbstbestimmtheit ist eine echte Bedrohung und wir tappen da möglicherweise tatsächlich in eine evolutionär unterstützte anthopologische Falle (platt gesagt: Wir mögen keine Unsicherheiten und handeln gerne so, dass wir soziale Anerkennung erfahren.)

Aber mit solch schlecht gemachter Literatur leistet Eggers eher einen Bärendienst als dass er ernsthaft zum Nachdenken anregen kann.

Buchdetails:
Dave Eggers: Every oder Endlich ein Gefühl von Ordnung oder Die letzten Tage des freien Willens oder Grenzenlose Auswahl zerstört die Welt : Roman ; aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021, 577 Seiten, 25 €. auch als ebook und Hörbuch erhältlich.

Bei yourbookshop bestellen und Lieblingsbuchhandlung unterstützen.