Klaus-Peter Wolf: Ostfriesisches Finale

Dauerbestsellerautor Klaus-Peter Wolf und sein Figurenensemble muss an dieser Stelle wohl niemandem mehr vorgestellt werden – und falls doch: Fangen Sie am besten vorne an, denn dieses hier ist Band 3 eines Spin-Offs, ist als Einstieg also naturgemäß ungeeignet. 😉

Ich muss gestehen, ich bin etwas ratlos angesichts des großen Erfolges Wolfs Krimiserien. Ich finde in diesem Roman nichts, was ihn an irgendeinem Punkt aus der Masse des Genres heraushebt. Die Figuren sind holzschnittartig bis plump gezeichnet, der Plot ist hanebüchen, fast bis zur Groteske überzogen. Gleichzeitig kann ich mir schwer vorstellen, dass es sich um Satire handeln könnte, dafür fehlt mir der Ansatzpunkt.

Es gibt immer wieder einige Szenen, denen ich eine gewisse Komik nicht absprechen möchte, aber dieses permanente Suhlen in der Durchschnittlichkeit, um nicht zu sagen: Dämlichkeit des Personals bei gleichzeitiger plumper Freude an der Brutalität verdirbt mir die Lesefreude gänzlich.

Alles in allem: Hier wird so ziemlich jedes böse Klischee über Regionalkrimis erfüllt.

Buchdetails:
Klaus-Peter Wolf: Ostfriesisches Finale (=Rupert Undercover 3). Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2022. 459 Seiten, kartoniert. 13 €, als ebook 9,99 €
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Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt

Umschlagabbildung zu Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl

Helene, Mutter dreier Kinder, steht eines Tages vom Abendbrottisch auf, geht zum Balkon und stürzt sich in die Tiefe. Ihre Freundin Sarah will den Hinterbliebenen helfen und findet sich unversehens in Helenes Rolle wieder – obwohl sie das nie wollte.

Sarah möchte in dieser Krisensituation helfen – aus der lebenslangen Freundschaft zu Helene heraus, aus Zuneigung zu diesen Kindern, deren ältestes, Lola, sogar einst Teil ihrer Wohngemeinschaft war. Und schließlich, weil man Menschen eben in einer solchen Situation nicht hängen lässt.

Dass damit eine Falle zuschnappt, dass sie ganz selbstverständlich in einer Rolle gelandet ist, die sie weder wollte noch ihr zusteht und die ihr nur aus einem einzigen Grund zugewiesen wird, weil sie eine Frau ist, wird ihr bald klar. Weniger klar allerdings ist ihr der Weg, dort wieder herauszukommen. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate und es droht die Jahresfrist. Begleitet wird in ihrem Geist von einer Manifestation Helenes, die sie spöttisch beobachtet, ihr Fragen stellt, die befreit wirkt.

Helenes hellsichtige Tochter Lola ist nicht bereit, sich den Erwartungen an ihre Rolle zu beugen. Sie liest feministische Literatur, weiß um die Wirkmechanismen des Patriarchats und mit der Intensität jugendlicher Überzeugungen konfrontiert sie Sarah und alle anderen Menschen in ihrer Umgebung mit ihrer Sicht auf die Welt. Klar, überzeugt und analytisch scharf. Doch erst eine Schlüsselsituation, in der sie sich hilflos männlicher Gewalt ausgesetzt sieht, bringt sie zur Tat. Sie ist nicht länger bereit, das Unrecht tatenlos hinzunehmen und die Gewalt männlichen Tätern zu überlassen, die mit ihren Taten unbehelligt ihre Leben weiterleben.

Ein Schlüsselement dafür wird das Teilen von Erfahrungen, von Erlebnissen wie sie nur Frauen (oder als Frauen gelesene Personen) haben – und die sie alle gemacht haben. Daraus speist sich Lolas Wut und es wird eine unglaubliche Energie frei dabei. Das Ende des Schweigens der Frauen wird auch Lola und Sarah helfen, einander zu verstehen und es ist der Motor ihrer Emanzipationsgeschichte. Je weiter diese voranschreitet, desto seltener tritt Helene in Erscheinung.

Mareike Fallwickls Roman hat bei mir massiven Eindruck hinterlassen. Was für eine Kraft, was für eine Wucht steckt in diesem Befreiungsschrei von einem Roman!

Es ist mit Sicherheit eine der aufwühlendsten, beeindruckendsten Lektüreerfahrungen mindestens der letzten Jahre, wenn nicht überhaupt meiner ganzen Lesebiographie. Da sind so viele Aspekte, die mir auch erst jetzt im Nachgang erst klar werden. Ich werde noch lange damit zu tun haben.

Buchdetails:
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt Hundert Augen Hamburg 2022, 377 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-498-00296-1, 22 €, als ebook 15,99 €
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Hillary Rodham Clinton/Louise Penny: State of Terror

Umschlagabbildung zu State of Terror von Hillary Rodham Clinton und Louise Penny

Die überraschend von ihrem ärgsten Rivalen, dem frisch vereidigten neuen Präsidenten, ins Amt berufene neue Außenministerin der USA scheitert auf ihrer ersten Auslandsmission grandios. Statt eines Abkommens bringt sie nur dreckige Schuhe mit nach Washington.

Doch statt einer medialen Hinrichtung wird ihr überraschend Sympathie entgegen gebracht, was im Präsidentenbüro zerknirscht zur Kenntnis genommen wird. Doch sehr schnell spielen derlei Ränke keine große Rolle mehr: Eine Serie von Anschlägen in Europa stürzt die westliche Welt in eine nie dagewesene Krise und plötzlich ist die USA als Führungsmacht gefragt – eine Rolle, aus der sie sich in der vorigen Amtsperiode verabschiedet hatte. Und mittendrin: Die neue Außenministerin.

Der Thriller beginnt mit einem hohen Erzähltempo, wir werden schnell mitten ins Zentrum der Macht geworfen, in dem schon mal wichtige Informationen verloren gehen, weil ein Abteilungsleiter die Bedeutung nicht erkennt und persönliche Befindlichkeiten wichtiger sind als die Lage der Nation (oder gar der Welt). Gerade dieser Blick ins Innere der Maschinerie, die eben nicht so reibungslos und sauber dirigiert funktioniert wie es von außen wirken soll, macht einen ganz besonderen Reiz dieses Buches aus.

Leider nutzt sich dieser Effekt aber im Laufe der Zeit ab und es bleibt am Ende doch ein eher konventioneller Thriller mit einer Superheldenaußenministerin, die die Welt rettet, während alle außerhalb ihres Stabes eher blass bleiben (wenn sie nicht sowieso die Bösen sind).

Es fällt schwer, in zahlreichen Figuren nicht reale Amtsträger aktueller oder vergangener Regierungen zu sehen – wahrscheinlich ist das mit einer Autorin Hillary Rodham Clinton auch gar nicht möglich. Aber ich rate trotzdem dazu, sich von der Versuchung zu befreien, diesen Verschwörungsthriller als Schlüsselroman zu lesen.

Denn was die beiden Autorinnen hier sehr eindrücklich zeigen, ist die Vulnerabilität unserer Weltordnung. Wie wenig es eigentlich braucht, damit alles zum Teufel geht. Wenn an ein paar Schaltstellen die falschen Leute sitzen, sind wir nicht zu retten…

Buchdetails:
Hillary Rodham Clinton und Louise Penny: State of Terror [OT State of Terror], übersetzt von Sybille Uplegger, HarperCollins Hamburg 2021, 560 Seiten, gebunden, 24 €, als ebook 16,99 €
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Richard Osman: Der Mann, der zweimal starb

Umschlagabbildung zu Richard Osman, Der Mann der zweimal starb

Mit dem Donnerstagsmordclub in der Edel-Seniorenresidenz Coopers Chase legt man sich lieber nicht an. Und wenn doch, dann sollte man zumindest einen Fehler nicht machen: Die Damen und Herren zu unterschätzen.

Im zweiten Fall von Richard Osmans rüstiger Rentner-Gang legen sich die tapferen Vier mit Drogenhändlern, dem Geheimdienst und der Mafia an. Angeführt von Mastermind Elizabeth, die dieses Mal ihr ganzes Können und so manche Beziehung ausspielen muss, legen sie aber auch dieses Mal die Bösen auf’s Kreuz und sie werden auch dieses Mal nicht immer im Rahmen des üblichen Verständnisses von Legalität arbeiten.

Wie schon im ersten Fall des Donnerstagsmordclubs so trägt auch diesen Krimi die herrliche Unverfrorenheit der Protagonistʔinnen, die ihre Mit- und Gegenspielerʔinnen regelmäßig verblüffen oder gleich zur Weißglut treiben. Es war klug von Osman, das Spielfeld zu erweitern und der Versuchung zu widerstehen, einfach die Geschichten und Orte des ersten Falles fortzuführen.

Ich weiß nicht, wie lange das Konzept noch tragen wird, aber bis hierhin trägt es ganz vorzüglich, es war wieder mal ein großer Spaß.

Buchdetails:
Richard Osman: Der Mann, der zweimal starb [OT The Man Who Died Twice], übersetzt von Sabine Roth, List Verlag München 2022, 446 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-471-36013-2, 16,99 €, als ebook 12,99 €
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Rebecca Russ: Die erste Frau

Umschlagabbildung zu Rebecca Russ, Die erste Frau

Hannah bricht alle ihre Zelte ab und zieht bei Thomas in seinem großen Haus am Bodensee ein. Sie freut sich auf eine strahlende Zukunft mit Kind und voller Liebe.

Doch schon bald trübt sich alles ein. Sie hat das Gefühl, nicht allein zu sein, sie erhält beunruhigende Nachrichten, Dinge verschwinden oder tauchen auf ohne ihr Zutun. Und die Geschichten über Thomas’ vorherige Frau sind widersprüchlich, er selbst bei diesem Thema zurückweisend.

Es dauert nicht lange und Thomas’ beginnt an ihr und ihrem Geisteszustand zu zweifeln – Hannah selbst ist sich auch nicht sicher, was sie glauben und wem sie trauen soll.

Rebecca Russ’ Psychothriller ist spannend geschrieben und handwerklich ordentlich gearbeitet. Mich überzeugt aber ihre Protagonistin nicht. Ihre Handlungen wirken auf mich eher dem Plot als der inneren Logik der Figur geschuldet und dieser folgt für meinen Geschmack den Genrekonventionen etwas zu sehr.

Als spannende Lektüre zwischendurch, etwa im Urlaub oder am Wochenende ist das freilich absolut passend und empfehlenswert.

Buchdetails:
Rebecca Russ: Die erste Frau. Aufbau Taschenbuch Berlin 2021, 319 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-7466-3781-5, 10 €, als ebook 7,99 €
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John Le Carré: Silverview

Umschlagabbildung zu John Le Carré Silverview

Julian möchte nicht mehr in der Londoner City das große Geld machen und steigt aus dem Businesstrubel aus. Was könnte dafür geeigneter sein als eine Buchhandlung in einer englischen Kleinstadt?

Dort begegnet er einem freundlichen älteren Herrn, der ihn um einen kleinen Gefallen bittet. Das ist der Auftakt zu einer Reihe regelmäßiger Besuche mit kleinen Geschichten, Wissenshäppchen über Julians Familie und immer mal wieder einer kleinen Gefälligkeit. Aber schließlich ist der Herr auch ungemein nett und von ausgezeichneter Höflichkeit und Zurückhaltung, Aber damit gerät Julian in eine Angelegenheit größeren Ausmaßes, gegen die der Stress der Londoner Businesswelt geradezu erholsam scheint.

Denn natürlich ist hier nichts wie es scheint, der ältere Herr alles andere als ein harmloser Sammler, sein Heim namens »Silverview« keineswegs einfach nur ein altes Anwesen und seine eingeforderten Gefallen nicht annähernd so klein wie Julian meint.

John Le Carré schreibt hier einen in jeder Hinsicht klassischen Agentenroman, mit der leichten Hand eines Könners seines Faches. Mit Agenten, die zwischen den Loyalitäten geliebten Menschen und auftraggebenden Diensten jonglieren und ihr Wissen über Funktions- und Denkweisen einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Und die müssen nicht immer völlig deckungsgleich mit denen ihrer Auftraggeber sein. Mir hat es eine große Freude gemacht, ihm beim Zelebrieren zuzuschauen, seine Figuren sind überzeugend und sehr sympathisch – ein gelungener Fall.

Buchdetails:
John Le Carré: Silverview [OT Silverview], übersetzt von Peter Torberg, Ullstein Verlag 2021, 251 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-550-20206-3, 24 €, als ebook 19,99 €
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Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben

Umschlagabbildung zu Carolin Kebekus, Es kann nur eine geben

Mit Carolin Kebekus bin ich sehr lange nicht so recht warm geworden. Wie bei vielen Comedians, die ihr Handwerk im Karneval-Kontext erlernt und erprobt haben, war mir das lange Zeit zu krawallig, zu platt, zu sehr schenkelklopfend (auch wenn ich hier mal selbstkritisch überprüfen muss, ob mich das bei ihr nicht besonders gestört hat, weil sie eine Frau ist – ich kann das nicht abschließend beurteilen, weil es extrem schwierig ist, sich in sein früheres Ich hineinzuversetzen, aber insbesondere nach der Lektüre dieses Buch muss ich das für wahrscheinlich halten).

Das hat sich in den letzten Jahren geändert, dennoch war ich skeptisch. Allerdings völlig zu Unrecht. Sie legt hier einen Grundkurs zu den drängendsten gesellschaftlichen Fragen aus feministischer Perspektive hin, der keine Themen scheut, Probleme klar benennt und dabei erstaunlich locker bleibt. Das ist eine große Kunst und Carolin Kebekus beherrscht sie meisterhaft. Immer wieder im Fokus steht dabei der Slogan »Die eine, die Schönste, die Beste, die Auserwählte.«

Es ist Augen öffnend, wie sie immer wieder zeigt, an wie vielen Stellen und mit wie vielen Mitteln und Methoden wir gesellschaftlich dafür sorgen, dass Frauen sich nicht nur permanent gegenseitig behindern, sondern das auch noch wollen. Wie sie dazu gebracht werden, es völlig normal und natürlich zu finden, dass es eben nur »die Eine« geben könne. Wie dazu schon unsere Urmythen, unsere Kindheitshelden, unsere Jugendidole, unsere Eltern beitragen.

Für mich ist das eine der großen Stärken dieses Buches, aufzuzeigen, wie viel möglich wäre, würden Frauen sich verbünden, Netzwerke schaffen, sich gegenseitig stärken und stützen – genau so wie Männer das ganz selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert auch tun.

Und: Carolin Kebekus zeichnet ihren eigenen Erkenntnisweg nach, beschreibt, wie sie selbst erst gelernt hat, bestimmte Dinge zu sehen, wie sie heute Dinge anders handhabt als sie das noch vor wenigen Jahren getan hat. Das führt zu einer Haltung, die die Hand reicht, die mitnimmt, die einlädt. Und damit vielleicht in der Lage ist, Menschen mitzunehmen, die sich von Appellen nicht angesprochen fühlen.

Mich hat sie auf jeden Fall erreicht und ich habe vieles zu sehen gelernt, das mir vorher nicht so klar war.

Buchdetails:
Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben. Mit einem Kapitel von Mariella Tripke. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021. 352 Seiten, Paperback. ISBN 978-3-462-00174-7, 18 €, als ebook 14,99 €
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Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht

Umschlagabbildung zu Alina Bronsky, Barbara stirbt nicht

Herr Schmidt kommt gut zurecht im Leben. Alles geht seinen ordentlichen Gang, seine Welt als Wille und Vorstellung ist in Ordnung. Bis eines Tages seine Frau Barbara nicht mehr aufsteht.

Plötzlich ist Herr Schmidt mit Fragen und Problemen konfrontiert, denen er sich zuvor nicht stellen musste. Essen kochen, Wohnung reinigen, Einkaufen, soziale Kontakte pflegen…

Nach anfänglichem Scheitern an diesen Hürden widmet er sich mit einem unerschütterlichen Glauben an seine Lernfähigkeit und einer beeindruckenden Fähigkeit, unbeirrbar alles zu ignorieren, was ihm unverständlich und unnötig vorkommt, den neuen Herausforderungen seines Alltags.

Alina Bronsky schafft hier einen Helden, dessen Verhalten auf andere brüsk, zurückweisend, unempathisch wirken muss. Er ist völlig unempfänglich für Zwischentöne einer Kommunikation – sei es mit seinen Kindern, Nachbar:innen oder Ärzt:innen, die sich um Barbara sorgen, nach ihr erkundigen, gemeinsame Aktivitäten oder Besuche vorschlagen. Er hat diese Art Gespräche zuvor nie geführt, kennt ihre Regeln nicht. Und genau so, wie er nicht versteht, wird er auch nicht verstanden. Denn Herr Schmidt ist weder lieblos noch unempathisch. Das wurde mir zumindest beispielsweise sehr deutlich, als er mit großer Akribie versucht, Barbaras Lieblingsgericht in Perfektion zuzubereiten. Da ist eine große Menge Liebe in diesem Menschen, er hat es nur nie gelernt, diese auch nur annähernd adäquat zu äußern. Oder sie bei anderen wahrzunehmen.

Es steckt sehr viel Tragik in dieser Figur, in seiner beharrlichen Weigerung, Barbaras Zustand zu akzeptieren, darin, wie er sich immer weiter in die Perfektionierung der Essensversorgung steigert, je schlechter es Barbara geht. Seinen Glaubenssatz, sie müsse nur wieder ordentlich essen, dann ginge es ihr wieder besser und sie stünde wieder auf, hält er immer verzweifelter aufrecht – ohne sich selbst freilich seine Verzweiflung einzugestehen.

Dadurch entstehen naturgemäß hochgradig absurde Szenen, die dadurch sehr komisch wirken können. Beispielsweise, wenn er Facebook-Kommentare nicht nur wortwörtlich nimmt, sondern sich auch noch die Mühe macht, auf jeden einzelnen zu antworten. Da entstehen großartige Gesprächsfäden, die durchaus ein Kapitel in Lehrbüchern über gescheiterte Kommunikation verdienen. Aber mir blieb trotz allem häufig das Lachen im Hals stecken, weil ich gleichzeitig Herrn Schmidts Leiden gesehen habe – und das Leid, das er ungewollt über andere bringt.

Buchdetails:
Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021, 256 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-462-00072-6, 20 €, als ebook 14,99 €
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Kira Jarmysch: DAFUQ

Umschlagabbildung zu Kira Jarmysch, Dafuq

Anja wird zu 10 Tagen Arrest verurteilt. Sie hatte einen Aufruf für eine Anti-Korruptionsdemo geteilt. Einen Großteil des Arrests verbringt sie mit fünf anderen Frauen in einer Zelle.

Dass Anja, ehemals Kandidatin für die Arbeit im Außenministerium, noch immer an ein funktionierendes Rechtssystem glaubt, zeigt sich bereits zeitig, als sie tatsächlich meint, mit einer Beschwerde gegen das Urteil etwas erreichen zu können. Stattdessen lernt sie in den zehn Tagen ihrer Arrestzeit, wie sehr sie der Willkür der Machthabenden ausgesetzt ist – und sei es nur die Macht über die Suppenkelle, mit der bestimmt wird, wessen Portion wie groß ist.

Kira Jarmysch zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, in der alle versuchen, sich irgendwie zu arrangieren. Nichts stößt auf so viel Unverständnis wie Anjas Engagement gegen Korruption, überhaupt ihr Eintreten für politische Veränderungen. In ihrer Schicksalsergebenheit, ihrem Glauben daran, sowieso nichts ändern zu können, erinnern ihre Protagonist:innen an zahlreiche Vorbilder in der russischen Literatur.

Es ist faszinierend, wie alle ihre eigenen Erfahrungen mit Ungerechtigkeiten, Ausnutzung, Gewalt, Übergriffen, Diskriminierung machen – und die Idee des Aufbegehrens aber nicht aufkommt. Stattdessen finden Anjas Zellengenossinen ihre eigenen Wege, mit der gegebenen Welt umzugehen und ihre Vorteile zu finden.

Die Gespräche der Frauen miteinander sind – bei aller Rauheit im Ton – geprägt von Verständnis und im engen Rahmen, den der Arrest bietet, unterstützen sie sich gegenseitig, decken sich, schlagen den Wächtern Schnippchen oder manipulieren sie oder Mithäftlinge zu ihren Gunsten.

Kira Jarmysch schafft es dabei, ihre Heldinnen mit all ihren Eigenheiten und Schwierigkeiten, manchmal auch Abgründen, sympathisch und lebendig zu zeichnen.

Mir wurde sehr deutlich, warum es keine wirksame, öffentlich sichtbare Widerstandsbewegung gibt: Viele Menschen sind schlicht damit beschäftigt, irgendwie durch ihr Leben durchzukommen – auffallen ist dann gefährlich.

Es dürfte schwer fallen, diesen Roman zu lesen ohne die Biographie der Autorin zur Kenntnis zu nehmen. Aber es lohnt sich.

Buchdetails:
Kira Jarmysch: DAFUQ [OT Невероятные происшествия в женской камере № 3], übersetzt von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin 2021, 412 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-7371-0140-0, 22 €, als ebook 14,99 €
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Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer

Umschlagabbildung zu Anne Bandel, Von oben fällt man tiefer

Theophil Kornmeier hat ein unverarbeitetes Trauma: Sein Bruder stürzte bei einer Alpenwanderung vor seinen Augen ab und starb. Irgendwo zwischen Überlebensschuld und der nagenden Frage, ob er nicht vielleicht doch selbst – bewusst, unbewusst? – Schuld daran war, irrlichtert sein Geist unruhig hin und her. Und so versucht er nun in einem letzten Therapie-Versuch, dadurch Ruhe zu finden, dass er den Wanderweg E5 durch die Alpen entlangwandert. Einige Stücke alleine, einen großen Teil des Weges aber in Begleitung einer Wandergruppe.

In grandioser Selbstüberschätzung macht er sich also – weitgehend untrainiert und nur unzureichend vorbereitet (was soll an Wandern schon schwierig sein?) auf den Weg zur Erlösung.

Um mit anderen Menschen viel Zeit zu verbringen und gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen, könnte es hilfreich sein, die Anwesenheit anderer Menschen nicht als Zumutung zu empfinden. Das wird auch Anne Bandels Protagonisten sehr schnell klar. Dass alle Mitglieder der Wandergruppe ihre ganz eigenen Probleme haben und diese mittels einer Alpenwanderung zu lösen gedenken, sorgt für eine turbulente Wanderung, bei der neben etlichen zwischenmenschlichen Missverständnissen und Irrungen Tag für Tag auch noch die Anzahl der Gruppenmitglieder dezimiert wird.

Anne Bandel nimmt in ihrem Wander-Krimi etliche menschliche Schwächen aufs Korn und ihre satirische Überzeichnung der Figuren hat einen erheblichen Reiz. Eine besonders hübsche Idee finde ich dabei, die Wandergruppe unverdrossen weiterwandern zu lassen, obwohl doch offenkundig ist, dass ein Mörder mitläuft. Der ganze Roman ist tatsächlich recht unterhaltsam, fordert nicht zu sehr heraus – und bei all den Sticheleien und Fiesheiten, die sich die Protagonist:innen gegenseitig antun, bleibt die Frage nach dem Mörder tatsächlich eher nebensächlich. Spannender ist da schon eher, wie sich die einzelnen Figuren von ihren inneren Fesseln und Illusionen befreien und so zumindest für die Überlebenden sich ganz neue Perspektiven eröffnen. Ein unterhaltsamer Roman im besten Sinne.

Buchdetails:
Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer. dtv München 2022, 272 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-423-21992-1, 10,95 € als ebook 4,99 €
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