Das Buch zum Sonntag (75)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Haruki Murakami: Der Elefant verschwindet

Murakami Haruki (村上 春樹 ) gehört zu den Schriftstellern, mit denen die Nobelpreis-Buchmacher bisher ganz gut verdienen konnten. Immer wieder mit dabei, aber gute Chancen, den Preis wieder nicht zu bekommen. Bis zur Philipp-Roth-Ehrenmedaille fehlt allerdings noch ein Stück. Aber er ist ja noch jung. 😉
“Der Elefant verschwindet” ist eine Erzählungssammlung und wie das bei guten Anthologien so ist, sind die einzelnen Erzählungen durchaus nicht über einen Kamm zu scheren. Und auch wenn Murakami sehr viel “westlicher” schreibt als andere japanische Autoren, so steht er doch felsenfest in seiner heimatlichen Erzähltradition. Und so gibt es denn auch das eine oder andere Seltsame, Merkwürdige, vielleicht Irreale zu lesen, das aber mit großer Selbstverständlichkeit eingewoben ist. Und auch wenn es Werke von ihm gibt, bei denen das eine stärkere Rolle spielt, ohne Merkwürdigkeiten geht es auch hier nicht. Gerade das macht aber einen großen Teil der Faszination dieser Texte aus, die sehr erstaunliche Geschichten erzählen. Was diese zu bedeuten haben, was uns, um mal aus dem Schatzkästlein des anachronistischen Didaktikfreundes zu zitieren, der Dichter damit wohl sagen wolle, das bleibt erfreulich undeutlich und ist der eigenen Interpretation mitin völlig frei gestellt. Warum ein Elefant samt Pfleger einfach verschwinden können, was es mit Dienstagsfrauen auf sich habe und wieso ein Aufziehvogel dabei eine Rolle spielt und welche Gründe es geben mag, eine Bäckerei zu überfallen und dabei Wagner zu hören – nebst einigen neuen Erkenntnissen zum Untergang des Römischen Reiches läßt sich hier bei Murakami einiges in Erfahrung bringen. Seine große Popularität sollte denn auch die geneigte Leserschaft nicht davon abhalten, ihn zu lesen. Und gerade diese frühen Erzählungen, mit leichter Hand geschrieben (also, das weiß man ja nicht, aber sie wirken zumindest so), sind ein wunderbarer Einstieg in das Werk dieses Erzählers.

Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Meine Frau und ich hatten um sechs Uhr ein leichtes Abendessen eingenommen, waren um halb zehn ins Bett gegangen und hatten die Augen zugemacht, waren aber zu der genannten Zeit seltsamerweise gleichzeitig wieder aufgewacht. Mit der Macht des Wirbelwindes, der im “Zauberer von Oz” vorkommt, überfiel uns kurz darauf der Hunger. Ein gewaltiger, geradezu unfair zu nennender Hunger.
Unser Kühlschrank enthielt allerdings nichts, was den Namen “Lebensmittel” verdient hätte. Was wir fanden, waren French dressing, sechs Dosen Bier, zwei schrumplige Zwiebeln, Butter und einen Beutel Geruchsfrei. Wir waren erst zwei Wochen verheiratet und hatten noch keine gemeinschaftliche Vorstellung davon entwickelt, was Essen sei. Damals gab es noch einen Haufen anderer Dinge, die wir entwickeln mußten.

(S. 58)*

Was mir bei Murakami neben diesem höchst angenehmen Erzählstil immer wieder Freude macht, ist seine Art, sehr gerne Erzählstränge parallel laufen zu lassen. Freilich ist das in Romanen sehr viel ausgeprägter möglich, in seinen Erzählungen kommt es aber auch immer wieder vor, daß eine Handlung mal eben unterbrochen wird, um noch mal kurz etwas einzuschieben, daß selbstverständlich etwas mit der Erzählung und ihren Personen zu tun hat, aber gerne mal zu einer ganz anderen Zeit, an einem anderen ort und vielleicht auch mal mit anderen Personen spielt. Simple, linear erzählte “Und dann…”-Geschichten gibt es hier nicht.
Und das ist auch gut so.

Ich wünsche der geneigten Leserschaft ein großes Lesevergnügen mit einer der

lieferbaren Ausgaben.

Und weil es einfach zu schön ist, hier mal noch das Ereignis, nach der das deutsche Feuilleton-Publikum die Frage “Haruki wer?” nur noch um den Preis der Abendempfangseinsamkeit stellen konnte:


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*zitiert nach: Murakami, Haruki: Der Elefant verschwindet. Berliner Taschenbuch Verlag. Berlin. Sonderausgabe 2003