“Das Kind erfasst und begreift nur, was es sieht.”

Mir fällt es sehr schwer, Kinderbücher einzuschätzen.
Die meisten überzeugen mich einfach nicht. Da aber gleichzeitig nicht davon auszugehen ist, daß gefühlte 99% aller Kinderbücher schlicht nicht zu gebrauchen sind, halte ich es für wahrscheinlicher, daß mir da einfach der Zugang fehlt. Daher verlasse ich mich stets auf das Urteil kompetenter KollegInnen und die Bibliothek der Kinder wird liebevoll von ihrer Mutter betreut.
Gleichzeitig versuche ich meinen Kindern zu vermitteln, daß Bücher keine sakralen Gegenstände sind, die nur sonntags mit weißen Handschuhen zu berühren sind, sondern durchaus benutzt werden dürfen (zu den Ausnahmen kommen wir dann später, bis dahin werde ich zum Beispiel diesen Messestand wohl weiterhin allein besuchen ;)).
Nun, beim Aufräumen heute fiel mir nun eine Diogenes-Ausgabe des Struwwelpeter in die Hand, in der auch ein Nachwort des Autors, das dieser im Jahr 1876 anläßlich der 100. Auflage verfaßte, abgedruckt wurde.
Gegen den Struwwelpeter ist sicherlich einiges vorzubringen und das ist ja bereits umfänglich geschehen. Den Anspruch aber, den Heinrich Hoffmann im Nachwort formuliert, halte ich für weiterhin gültig.
Schauen wir doch mal rein:

Trotzdem hat man den Struwwelpeter aber auch großer Sünden beschuldigt, denselben gar als zu märchenhaft, die Bilder als fratzenhaft oft herb genug getadelt. Da hieß es: “Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.” Nun gut, so erziehe man die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Kabinetten mit antiken Gipsabrücken! Aber man muss dann auch verhüten, dass das Kind sich selbst nicht kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichne und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon zeigt. – Das Buch soll ja märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen! Das Kind ist aber nur das Volk, und schwerlich werden diese Erzieher die Geschichte vom Rotkäppchen, das der Wolf verschluckte, vom Schneewittchen, das die böse Stiefmutter vergiftete, aus dem Volksbewusstsein und aus der Kinderstube vertilgen.
Mit der absoluten Wahrheit, mit algebraischen oder geometrischen Sätzen rührt man aber keine Kinderseele, sondern lässt sie elend verkümmern. – Und wie viele Wunder umgeben denn nicht auch den Erwachsenen, selbst den nüchternsten Naturforscher! Dem Kinde ist ja alles noch wunderbar, was es schaut und hört, und im Verhältnis zum immer noch Unerklärten ist überhaupt die Masse des Erkannten doch auch nicht so gewaltig. Der Verstand wird sich sein Recht schon verschaffen, und der Mensch ist glücklich, der sich einen Teil des Kindersinnes aus seinen ersten Dämmerungsjahren in das Leben hinüber zu retten verstand.

Dies sei auch all jenen ins Stammbuch geschrieben, die leichtfertig all die bunten, schrillen, grellen (fratzenhaften? ;)) Comics und Mangas verdammen.
Vielleicht ist es eben gerade die Übertreibung, die Überzeichnung, die besonders eindrücklich wirkt und eben gerade deshalb die größten Lerneffekte erzielt. Die Werbung hat das schon lange verstanden und gute Infographiken erfüllen Hoffmanns im Titel zitierte Forderung nach Anschaulichkeit par excellence.
Irgendwie bin ich gerade sehr gespannt, was meine Tochter aus ihren ersten Schulstunden zu berichten weiß.

Zu einem ganz ähnlichen Schluß kam übrigens der Hausheilige in seinen Betrachtungen zum Wesen der Satire, womit ich diesen Beitrag denn auch schließen möchte:

Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

aus: Was darf die Satire? in: Werke und Briefe: 1919, S. 84. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1194 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 43)

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