Das Buch zum Sonntag (44)

Zunächst möchte ich mich bei der geneigten Leserschaft für die erhebliche Verspätung der Leseempfehlung entschuldigen. Aber ich war in den letzten Tagen sehr beschäftigt. Insbesondere damit, den Tagesrhythmus Schweizer Kühe zu analysieren und dem vielfältigen Treiben der dortigen Vogelwelt zu folgen.

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Lutz Seiler: Die Zeitwaage

Auf Lutz Seiler wurde ich aufmerksam, als ich ihn im Rahmen der 60-Jahre-Suhrkamp-Jubiläumsveranstaltung zur Leipziger Buchmesse lesen hörte. Der Ausschnitt, den er vortrug, basierte offenbar auf Kindheitserinnerungen und wurde vom Publikum als recht amüsant aufgenommen. Auch ich konnte mir das eine oder andere Lachen nicht verwehren, hatte aber das ungute Gefühl, damit der Geschichte nicht gerecht zu werden. Als ich derselben Erzählung dann in eigener Lektüre erneut begegnete, lachte ich nicht.
Seilers Erzählungen in der heute vorgestellten Sammlung sind literarische Schmuckstücke. Ruhig vorgetragene Erinnerungen an vergangene Zeiten, vergangene Lieben mit einem hohen Identifikationspotential. Vor allem aber geradezu seismographisch genau in ihrem Abbild der Gefühls- und Gedankenwelten ihrer Protagonisten. Ob das Kind, das sich aus Scham davor, als erster an der Schultür zu warten, versteckt, um das Eintreffen der anderen abzuwarten, der Mann, der in einem letzten gemeinsamen Urlaub das Auseinanderbrechen seiner Familie rekapituliert oder der junge Mann, der in Erinnerungen an eine Liebe aus der Studentenzeit schwärmend, anerkennen muß, daß es für manches zu spät ist, weil die Zeit sich nicht um Erinnerungen schert.

Die folgende Stelle stammt aus einer Erzählung, die sich um Erinnerungen an die Schulzeit des lyrischen Ichs dreht:

Meine Mutter umarmte mich. Obwohl ich wußte, was kam, hatte ich Mühe. Eine Weile stand ich fassungslos und lauschte (mit zurückgeschobener Mütze) dem Klopfgeräusch ihrer Absätze auf dem Pflaster, ein Geräusch, das ich auf meinen Narben spüren konnte, so klar und deutlich, als wäre mir dort infolge meines Unfalls ein zusätzliches Organ gewachsen … Unweigerlich wurde es leiser und leiser, plötzlich aber schien es nochmals näher zu kommen, was mich schon oft in falsche Hoffnungen gestürzt hatte. Am Ausgang der Straße änderten sich die Echoverhältnisse. Dort traf das Geräusch ihrer Schritte auf den ersten Wohnblock der Gebind, ein Neubaugebiet im Zentrum von L. mit sieben parallel angeordneten Blöcken, die sich im rechten Winkel zum Wald hinstuften, den Berg zur Charlottenburg hinauf, von der nicht mehr als ihr Name übriggeblieben war. So unklar sich der Schall bis dahin entwickelt haben konnte, abhängig von der Feuchte, der wechselnden Dichte der Luft, ihren kalten Strömungen, in denen sich auch die Reste des Nachtdunkels bewegten und mischten mit dem ersten Licht des Tages, so unerbittlich wurde jeder Laut an den hohen Mauern der Gebind aufgefanfen und zurückgeworfen in die umliegenden Ortsteile. Die Schulstraße, auf der ich stand und, auf Zehenspitzen lauschend, den Schritten meiner Mutter nachhing, bildete einen dieser gepflasterten Kanäle, über die der Ort mit der Gebind und ihren Echos verbunden war.

(S. 61f.)

Ist das nicht eine wunderbare Szene? Wie ein Junge, allein gelassen vor dem Schulgebäude, den vertrauten Schritten der Mutter nachhängend, versucht, die Traurigkeit, das Gefühl des Alleingelassenseins mit Überlegungen über die Schallverhältnisse im Ort zu kompensieren.
Gerade diese Erzählung (“Der Kapuzenkuß”) hat es mir sehr angetan, weil Seiler hier wirklich sehr in die Tiefe abtaucht, ganz weit in die Seelengründe hineinschaut. Seine ersten Veröffentlichungen waren Gedichtbände – vielleicht liegt hier eine Ursache für das große Einfühlungsvermögen seiner Prosa.
Im Gegensatz zu meiner sonstigen Angewohnheit verzichte ich auf weitere Zitate, habe ich doch bei jedem Versuch, ein Zitat auszuwählen, das Gefühl, ein Kunstwerk zu verstümmeln. Seilers Erzählungen, die auf mich den Eindruck machen als stammten sie von jemandem, der mit den weit geöffneten Augen und der Beobachtungsgabe, die Kindern zugeschrieben wird, auf die Welt schaut. Eben nicht staunend, sondern beobachtend, die Welt so betrachtend, als könne sie gar nicht anders sein als sie nun einmal ist. Nicht wertend, aber nachforschend.
Und: Seiler kann schreiben. Seine Sprachbeherrschung ist erstaunlich und macht Freude beim Lesen.

So soll denn auch heute nicht der Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben

fehlen.