Das Buch zum Sonntag (54)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Oscar Wilde: Ein idealer Gatte

Prinzipiell bin ich der Meinung, Theaterstücke gehören nicht gelesen, sondern gespielt. Schließlich wurden sie genau dafür geschrieben. Ich fine es sehr wichtig, daß den Figuren und ihren Handlungen durch Schauspieler Leben eingehaucht wird. Diese Vermittlung, diese Interpretation sind es erst, die aus einem guten Stück ein unvergessliches, einprägendes Erlebnis machen.
Unglücklicherweise werden aber nicht immer genau die Stücke gespielt, nach denen einem gerade verlangt. Bis also die Bühne on Demand erfunden wird, bedarf es Ersatzhandlungen. Neben dem Rückgriff auf Verfilmungen oder Filmaufnahmen kommt da eben auch Lesen in Frage.
Ergo: Was sind schon Prinzipien?
Nun, Prinzipien und die Treue zu diesen stehen ganz im Mittelpunkt des heute empfohlenen Buches. Sir Robert Chiltern ist der aufsteigende Stern des britischen Politestablishments und gerät innerhalb eines Tages im Jahre 1895 in heftigste Verwicklungen, bei denen die Beteiligten nicht sauber zwischen privater und beruflicher Sphäre trennen.
Genauer möchte ich mich zur Handlung nicht äußern, wobei mir zu Gute kommt, daß bei den Gesellschaftsstücken Oscar Wildes die Handlung eh nur Kulisse für seine geistreichen Karikaturen sind.
Mal ein Beispiel:

Lord Caversham: Guten Abend, Lady Chiltern! Ist mein junger Nichtsnutz von Sohn hier?
Lady Chiltern lächelnd: Ich glaube, Lord Goring ist noch nicht gekommen.
Mabel Chiltern tritt auf Lord Caversham zu: Warum schimpfen Sie Lord Goring einen Nichtsnutz?
Mabel Chiltern ist ein vollendetes Beispiel für den englischen Typus von Schönheit, den Apfelblütentypus. Sie besitzt die ganze Zartheit und Natürlichkeit einer Blume. Ein unaufhörliches Geriesel von Sonnenlicht ist in ihrem Haar, und der kleine Mund mit den halb geöffneten Lippen ist erwartungsvoll wie der Mund eines Kindes. Die entzückende Tyrannei der Jugend und die erstaunliche Beherztheit der Unschuld ist ihr eigen. Nüchterne Leute erinnert sie nicht an irgendein Kunstwerk. Doch in Wahrheit gleicht sie einem Tanagrafigürchen und wäre recht ungehalten, wenn man es ihr sagte.
Lord Caversham: Weil er ein so müßiges Leben führt.
Mabel Chiltern: Wie können Sie so etwas sagen? Er reitet um zehn Uhr vormittags durch die Rotten Row, geht dreimal wöchentlich in die Oper, wechselt seine Kleidung wenigstens fünfmal am Tag und speist in der Saison jeden Abend außer Haus. Das können Sie doch nicht ein müßiges Leben nennen?

(1. Akt / S. 156f.)*

Im Gegensatz zu anderen Werken, wie, sagen wir mal, Dorian Gray, wird hier also die Paradedisziplin Oscar Wildes, das geistreiche Wortgefecht, nicht unnötig durch schwerwiegende Fragen oder eine mehr oder minder komplexe Handlung gestört. Das ist höchst erfrischend und hat den unschätzbaren Vorteil, daß jederzeit ein Aufschlagen an beliebiger Stelle möglich ist und eine Bemerkung Lord Gorings, ein Seitenhieb Lady Chilterns oder eine Anspielung Mrs. Cheveley´s erheitern das Gemüt.
Trotzdem aber finden sich durchaus Stellen, die den geneigten Zuschauer (bzw. Leser) nachdenken lassen können. Ich verrate diesmal nicht, von wem und an wen diese Worte gerichtet sind, denn es wäre ja höchst unfair, die feingestrickte Handlung vorwegzunehmen. 😉

Denken Sie daran, wohin euer Puritanismus in England euch gebracht hat. Früher maßte sich niemand an, ein wenig besser zu sein als seine Nachbarn. Ein wenig besser zu sein als der Nachbar wurde sogar für überaus vulgär und spießbürgerlich gehalten. Heutzutage, bei der Moralsucht, die bei uns Mode ist, muß jeder als ein Musterbild der Reinheit, Unbestechlichkeit und aller anderen sieben Todtugenden dastehen – und was ist das Resultat? Ihr stürzt alle wie die Kegel – einer nach dem andern. Kein Jahr vergeht in England, ohne daß jemand in der Versenkung verschwindet. Ärgerliches Aufsehen pflegte einen Mannreizvoll oder zumindest interessant zu machen – jetzt vernichtet es ihn.

(1. Akt / S. 174)

Kurz: Für den Fall, daß die geneigte Leserschaft vor ihren unzähligen Bücherregalen steht, nicht weiß, was auf der Lektüreliste als nächstes abgearbeitet werden soll und gerade ein Milchschnittengefühl hat (“etwas leichtes, lockeres, das nicht belastet”), so sei herzlichst zu diesem kleinen Kunstwerk geraten.

Neben den

lieferbaren Ausgaben

sei dieses Mal auch die Verfilmung mit einem grandiosen Rupert Everett, einer bezaubernden Minnie Driver und einer perfekt besetzten Cate Blanchett, kurz: Mit einem Ensemble, deren Spaß an der Arbeit geradezu spürbar ist, empfohlen.

*zitiert nach: Wilde, Oscar: Theaterstücke I, aus dem Englischen von Christine Heppener. in: Sämtliche Werke in sieben Bänden, herausgegeben von Norbert Kohl, Band 3. Insel Frankfurt/Main und Leipzig, 2000.

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