Misericordia et Caritas

Ich bin derzeit ganz ordentlich fassungslos.
In Japan starben wahrscheinlich mehr als zehntausend Menschen an den Folgen eines Erdbebens mit nachfolgendem Tsunami. Hunderttausende sind obdachlos, ohne ausreichende Versorgung, manches Mal in Eiseskälte ausharrend. Dort haben Menschen ihr Leben verloren – und zwar nicht nur konkret, sondern auch metaphorisch. Sie verloren ihre Stadt, ihre Wohnung, ihre Freunde, ihre Eltern, Geschwister, Kinder. Ein unsagbares Leid brach über die Menschen der Sendaiebene herein und sie leiden noch immer.
Und wir?
Wir diskutieren technische Details japanischer Kraftwerke, stellen Überlegungen an, welche Bauteile wohl welche Belastung noch aushalten werden und wie sinnvoll Meerwasser zur Kühlung ist. Wir wägen ab, ob Wasserwerfer nur eine Notlösung sind und inwieweit die Idee, Sand zur Versiegelung zu verwenden, sinnvoll ist. Es gibt jeden Morgen im Wetterbericht des Morgenmagazins eine Grafik, die anzeigt, wohin eine radioaktive Wolke getrieben werden würde. Ganz professionell werden dabei natürlich gleich drei unterschiedliche Höhen berückschtigt und farblich getrennt dargestellt. Wir disutieren außerdem, ob eigentlich unsere Atomkraftwerke sicher sind und was die Abschaltung einiger derselben eigentlich für unseren Strompreis bedeutet und ob wir das nun gut finden sollen.
Sagt mal, ihr lieben Mitmenschen, geht´s eigentlich noch? Ist das wirklich ein Abbild unserer Überlegungen und Gedanken, was da gerade medial passiert? Sind nur die Journalisten und Politiker jeglicher Couleur zynische Arschlöcher oder sind wir wirklich so abgestumpft? Diese unerträgliche Mischung aus Halbwissen, Gefühllosigket und Panikmache nennt sich dann “Qualitätsjournalismus”.
Ja, ich halte die Atomkraft für einen Irrweg. Ja, es ist richtig und wichtig, die Unkalkulierbarkeit dieser Technologie zu thematisieren. Und ja, dafür sollte man auf die Straße gehen. Und ja, diese Frage sollte in anstehende Wahlentscheidungen einbezogen werden. Doch wie unberührt vom geschehenen, realen, jetzt erlebten Leid muß man eigentlich sein, um sich jetzt über eine Woche lang darüber die Köpfe heiß zu reden? Wieviel Kaltheit gehört eigentlich dazu, stundenlange Sondersendungen zu bringen, aufwendige Grafiken zu erstellen, Experten zu interviewen zu Ereignissen, die passieren könnten – anstatt diese Zeit, diese Kraft, diese Expertise zu nutzen, um, verdammt noch mal, zu helfen, bei den Ereignissen, die tatsächlich passiert sind? Ich diskutiere gerne und intensiv über Sinn und Zweck von Atomenergie – aber nicht jetzt. Ich meine: Da sterben Menschen! Hallo?
Auch wenn es wahrlich einfachere Dinge gibt als als Gaijin Japanern zu helfen – man ist hierzulande sehr stolz auf sein christliches Erbe, auf die ach so großartige Leitkultur im Zeichen des Kreuzes. Barmherzigkeit und tätige Nächstenliebe sind Grundpfeiler christlicher Ethik. Hic Rhodos.
Ich kann und will einfach nicht glauben, daß wir im postmodernen Individualwahn wirklich schon so weit sind, daß wir nur noch zur Frage: “Was bedeutet das für mich?” fähig sind und die Frage “Was heißt das für Dich?” nicht stellen können. So schwer es mir fällt, Guido Westerwelle zuzustimmen und so sehr mir klar ist, daß er seine Gründe dafür haben wird, aber er hat Recht. Es ist nicht die Zeit, über unsere Stromversorgung zu reden. Im Angesicht des Leides gibt es nur eine Aufgabe: Helfen. Und um die zu trauern, denen nicht mehr zu helfen war.


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P.S. Es sind manchmal kleine Formulierungen. Die DJG Berlin schreibt in ihrer Erdbebenbotschaft: Wir wünschen allen Betroffenen von Herzen alles Gute und werden alles dafür tun, sie bei der Rückkehr in den hoffentlich bald wieder einkehrenden Alltag – sofern es das auf absehbare Zeit überhaupt noch gibt – zu unterstützen. Sofern es das überhaupt noch gibt. Mir kamen da die Tränen.
P.P.S. Bemerkenswerter Weise wundern wir uns ja darüber, daß man sich in Japan in Krisenzeiten gegenseitig hilft, anstatt in Panik und Aufruhr übereinander herzufallen. Das muß man sich auch mal ganz langsam durch den Kopf gehen lassen. Es gehört zu den wenigen Gründen, die ich herausfiltern konnte aus dem undurchschtigen Konglomerat, das meine Faszination für Japan darstellt: Die Menschen dort leben tatsächlich zusammen – und nicht nebeneinander. Zum Verständnis dazu: Frau Pia-Tomoko Meid.