Das Buch zum Sonntag (106)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jonathan Franzen: Freiheit

Die englischprachige Wikipedia führt diesen Roman als einen Anwärter auf den wohl ewig vakanten Titel der “Great American Novel”. Inwieweit dies berechtigt ist, mögen die zuständigen Amerikanisten und sonstige Berufene entscheiden. Unstrittig scheint mir aber zu sein, dass dem Lesenden hier ein Panaroma der USA nach dem Elftenseptember geboten wird. Oder sagen wir genauer: Franzens Panorama.
Ich habe dieses Roman von Sigrid Löffler empfohlen bekommen. Also, nicht persönlich, aber sie war seinerzeit bei uns in der Buchhandlung und stellte dort einige Bücher zum Thema Vater-Sohn-Konflikte vor. Bemerkenswerterweise halte ich genau diesen Konflikt nicht einmal für den stärksten Aspekt des Buches.
Aber fangen wir vorne an.
Franzen beschreibt die Familiengeschichte der Berglunds, genauer des Paares Patty und Walter Berglund nebst ihren beiden Kindern. Wohlsituiert und liberalen Geistes geraten sie durchaus in Konflikt mit ihrer zunehmend proletarischen und weit weniger liberalen Wohngegend. Gerade die Beschreibung dieses Prozesses der Veränderung in den Leitgedanken der US-amerikanischen Gesellschaft fand ich sehr faszinierend. Indem er einen Bogen von der Jugend Pattys und Walters bis zu den ersten Erwachsenenjahren ihrer Kinder schlägt, wird das sehr deutlich. Wo in ihrer Jugend noch Freiheitsgedanken, Nachhaltigkeitsideen und Liberalität – überhaupt Ideale, vorherrschten, wirkt in der Gegenwart des Romans alles in Vordergründigkeit, Hinterhältigkeit, Ehrlosigkeit erstarrt. Rockstars ohne Botschaft, Militäraustatter, die dem Militär schaden und Umwelschutzorganisationen, die Wälder roden und Berge sprengen. Irgendwie wirkt alles falsch und verlogen in der Bush.jr.-Ära.
Und doch ist das nicht so einfach. Denn die große Politik, die großen Namen, die großen Konflikte – sie tauchen gar nicht selbst auf. Sie sind das Hintergrundgeräusch einer Geschichte, die sich im kleinen Rahmen abspielt. Es sind nur ganz wenige Personen, die Franzen agieren lässt, ein enger Kreis mit durchaus wenigen Handlungsorten. So sind es dann auch die Details, die Kleinigkeiten, die scheinbaren Trivialitäten – die kleinen Nachbarschaftsstreits um zu laute Musik und zerstochene Reifen, über streunende Katzen den besten Kuchen der Straße, nicht zu vergessen: die Gespräche in der Küche oder auf der Terrasse, anhand derer er sein Gesellschaftsporträt zeichnet.
Dabei kommt dann wirklich die Frage auf, ob das nicht auch alles schon früher? so gewesen sei. Wie diese Frage zu beantworten ist, überlasse ich der geneigten Leserschaft und der eigenen Lektüre – allerdings halte ich Franzens Position für eindeutig bestimmbar. 😉
Es sind verschiedene Lebensentwürfe, die Franzen hier konkurrieren läßt, die er einander gegenüberstellt und ihre Wechselwirkungen untersucht. Und genau dort stößt eben auch der von Frau Löffler angesprochene Vater-Sohn-Konflikt hinein – aber genau das ist es: Wir haben es hier nicht mit einem Vater-Sohn-Buch zu tun, sondern eher mit dem literarischen Versuch, eine verunsicherte, sich verändernde Gesellschaft zu erfassen, die in scheinbarer RBesinnung auf ihre Grundsätze genau diese aufgibt, weil sie sie nicht mehr lebt.
Unabhängig davon ist es aber eine Freude, Franzen zu lesen, weil er pointiert zu schreiben versteht. Ich möchte einmal eine Stelle herausgreifen, noch weit am Anfang des Romans, die aber zeigt, wie er mit wenigen Sätzen Figuren entwerfen und erfassen kann:

Jeder wusste, dass Patty an der Ostküste, in einem Vorort von New York, aufgewachsen war und eines der ersten Vollstipendien für Frauen bekommen hatte, um an der University of Minnesota Basketball zu spielen, wo sie es, das ging aus einer Urkundentafel an der Wand von Walters Arbeitszimmer hervor, in ihrem zweiten Studienjahr in das virtuelle Team der zweitbesten Spielerinnen ganz Amerikas geschafft hatte.

(S. 8f.)*

Und es sind da ein paar wunderbare Spitzen zu finden, sei es, gegen Charaktere (btw: erinnert sich noch jemand an diese IKEA-Werbung?):

Merrie, zehn Jahre älter als Patty, und jedes einzelne davon sah man ihr an, hatte sich früher für die linke Studentenorganisation SDS in Madison engagiert und engagierte sich jetzt sehr in Sachen Beujolais nouveau.

(S. 11)

oder gegen Kollegen:

Er zog den Roman hervor, den seine Schwester ihm zu Weihnachten geschenkt hatt, Abbitte, und bemühte sich, an den Beschreibungen von Zimmern und Pflanzungen ein Interesse zu entwickeln

(S. 444)

NUTZE DEINE FREIHEIT WOHL lässt Franzen über dem College stehen, das Pattys Tochter besucht. Das könnte gut und gerne auch Motto des ganzen Buches sein. Letztlich nämlich geht es um genau diese Fragen: Was ist Freiheit für jeden einzelnen? Wie kann, wie soll er sie nutzen? Und was heißt das für alle anderen?

Glücklicherweise hat Franzen darüber keinen naseweisen Essay geschrieben, sondern einen im besten Wortsinne unterhaltenden Roman, der überdies in diesen

lieferbaren Ausgaben

leicht zu erhalten ist.


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*zitiert aus: Franzen, Jonathan: Freiheit. Rowohlt Digitalbuch. Reinbek 2010