Das Buch zum Sonntag (104)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Galsan Tschinag: »Die neun Träume des Dschingis Khan«

Galsan Tschinag ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Er entstammt einer ethnischen Minderheit in der Mongolei, den Tuwa, bei denen er Stammesoberhaupt ist und in deren Dienst er sein Schreiben, wie auch sein sonstiges Handeln, sieht.
So sind denn seine Werke, die er übrigens auf deutsch verfasst (Tschinag studierte seinerzeit Germanistik in Leipzig), geprägt von der nomadischen Kultur der Tuwa, von den Geschichten, die dort erzählt werden. Das ist an sich nicht überraschend, gilt dies doch für alle Schriftsteller, ist hier aber trotzdem der Erwähnung wert, weil es zumindest für mich einen erheblichen Teil der Faszination ausmacht. Das Fremde, das Andersartige, soweit wir in der Lage sind, es als etwas Neues, Bereicherndes aufzufassen, übt einen starken Reiz aus – denn schließlich, wofür lesen wir, wenn nicht, um eine neue Welt zu entdecken?*
Im heute empfohlenen Buch gibt eine Welt zu entdecken, die aus einer merkwürdigen Mischung aus weitläufiger, weltumspannender, den Einzelnen einhüllender Mystik und kühlet, rationaler und realitätssicherer Pragmatik besteht. Tschinag führt uns zurück in die Zeit Dschingis Khans, der nach einem Unfall schwer verletzt darniederliegt und noch neun Tage zu leben hat. Während dieser neuen Tage erlangt der Leser Einblick in dessen vergangenes Leben, in seine Gedanken- und Gefühlswelt, lernt Weggefährten, Konkurrenten und Feinde kennen.
Beeindruckend finde ich Tschinags Fähigkeit, einen Sog zu erzeugen, der mich nicht losgelassen hat – obwohl nicht viel passiert (was soll schon passieren, Dschingis Khan liegt verletzt in seinem Zelt), konnte ich doch zu keinem Zeitpunkt von dem Buch und seiner Welt lassen. Die Scharf- und Feinsinnigkeit, mit der Tschinag seinen Protagonisten all die kleinen Machtspiele, die natürlich beginnen oder sich verschärfen, während er dort liegt, erkennen lässt, ist beeindruckend und, vor allen Dingen, glaubhaft. Wie sonst sollte jemand wie Temudschin aus so schwierigen Verhältnissen es zu einem Großherrscher schaffen, wenn nicht durch die Fähigkeit, geradezu seismographisch zu spüren, was in seiner Umgebung geschieht?
Und doch steht auch Dschingis Khan in größeren Verhältnissen. So sehr er auch machtpolitisch klug handelt, so sehr er entschieden ist, wo es gilt, zu vernichten, so sehr er auch da taktiert und seine Untergebenen sich gegenseitig ergänzen lässt und so sehr er auch die Glaubenstraditionen zu seinen Zwecken einzusetzen weiß – am Ende seines Lebens muss er sich in neun Träumen doch dem Universum** stellen.
Faszinierend, wie er nach und nach sein ganzes Umfeld im stummen Dialog neu kennenlernt, wie er ihn erkennen lässt, was diese wohl wirklich über ihn dachten, warum sie sich ihm gegenüber so verhielten, wie sie es taten.

Diese neun Träume sind ein langer, weiter und tiefer Weg in das Innere eines Seelenlebens. Eine beeindruckende sprachliche Reise in eine fremde, faszinierende, unerbittliche Welt und einen Dschingis Khan beschreibend, der wohl weit von seinem Mythos entfernt ist, aber vielleicht gerade dadurch ihm näher kommt als es die Geschichtsschreibung je können wird.

Erhältlich ist das Werk in diesen

lieferbaren Ausgaben.


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*Womit ich nicht verhehlen möchte, dass wir als Buchhändler und Verleger nicht zuletzt vom Gegenteil leben. Gäbe es nur Leser, die ständig Neues, Überraschendes, Noch-nie-gelesenes haben wollten, wäre unser Job deutlich spannender (aka stressiger), aber kaufmännisch wohl deutlich schwieriger zu betreiben. So wenig ich es verstehe, wie viele Menschen tatsächlich unbedingt immer wieder dieselbe Geschichte lesen wollen (wenn es geht auch noch vom selben Autor, ansonsten doch bitte von jemandem, der wenigstens “so ähnlich” schreibt), so sehr schätze ich sie doch als Kunden. Sie machen mir meine Sortimentsexperimente überhaupt erst möglich. Gäbe es diese treue und zuverlässige Käuferschicht nicht, wir sähen doch ganz schön alt aus. Letztlich sind sie es, die treuen Donna-Leon-Leser, die zuverlässigen Zafon-Käufer, die Lucinda-Riley und die Cecilia-Ahern-Fans, die uns am Leben lassen und ohne die keine 1-A-Mieten bezahlbar wären.
**Das klingt seltsam, aber drunter machen es ganzheitliche Weltanschauungen nun mal nicht.