Das Buch zum Sonntag (43)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Edgar Allan Poe: Erzählungen

Betrachtet man die Dominanz der US-amerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert, insbesondere in der zweiten Hälfte, so erstaunt es doch, wie jung sie genau genommen ist. Schaut man allerdings, welcher Geisteströmung die Gründer Neuenglands angehörten, verwundert es weder, daß es eine Weile dauerte, bis Literatur von Weltrang entstand, noch daß es Europa brauchte, um die Bedeutung Poes auch in seinem Heimatland bewußt zu machen.
Aber die geneigte Leserschaft soll Bücher ja nicht lesen, weil sie irgendwann mal von Bedeutung waren, sondern, weil es sich lohnt. Warum also lohnt es, E.A. Poe zu lesen?
Weil Poe ein Meister seines Faches ist.
Seine atmosphärischen Erzählungen schaffen eine Stimmung, die den Lesenden unmittelbar gefangen nehmen, erzählen von Tod, Verlust, Wiederkehr (und zwar keineswegs im optimistischen Sinne fernöstlicher Religionsgemeinschaften), Liebe und Schönheit. Es gelingt Poe dabei immer wieder, Bilder zu erzeugen, die schauern lassen. Es liegt über allem ein düsterer Schleier (ich assoziiere meist beim Lesen Nebel, völlig egal, wo und wann die Geschichte spielt, bei mir ists immer neblig), Vorahnungen und dunkles Schicksal raunen durch die Zeilen.
Wie selbstverständlich läßt Poe phantastische, unerklärliche Ereignisse geschehen, es erscheint dem Lesenden ganz und gar nicht unwahrscheinlich, daß das Herz eines Ermordeten den Mörder mit seinem Pulsieren verrückt macht (“Das verräterische Herz”, der Originaltitel ist allerdings sensationell: “The Tell-Tale Heart”), doch ebenso wie hier, so bleibt es auch in anderen Erzählungen offen, ob diese Erscheinungen der überreizten Vorstellungskraft der Protagonisten entspringen oder eben nicht.
Ich habe lange überlegt, aus welcher Erzählung und welche Stelle ich zitieren könnte. Es war dies keine einfache Suche, denn ich möchte ja nicht spoilern. Entschieden habe ich mich schließlich für diese Stelle aus der Erzählung “Ligeia”:

In einer Nacht, es war gegen Ende September, wies sie meine Aufmerksamkeit mit mehr als gewöhnlichem Nachdruck auf diese peinigenden Ängste hin. Sie war soeben aus unruhigem Schlummer erwacht, und ich hatte – halb in Besorgnis und halb in Entsetzen – das Arbeiten der Muskeln in ihrem abgemagerten Gesicht beobachtet. Ich saß seitwärts von ihrem Ebenholzbett auf einer der indischen Ottomanen. Sie richtete sich halb auf und sprach in eindringlichem leisen Flüstern von Lauten, die sie jetzt vernahm, die ich aber nicht hören konnte – von Bewegungen, die sie jetzt sah, die ich aber nicht wahrnehmen konnte. Der Wind wehte hinter der Wandverkleidung in hastigen Zügen, und ich hatte die Absicht, ihr zu zeigen (was ich allerdings, wie ich bekenne, selbst nicht ganz glauben konnte), daß dies kaum vernehmbare Atmen, daß diese ganz geringen Verschiebungen der Gestalten an den Wänden nur die natürliche Folge des Luftzuges seien. Doch ein tödliches Erbleichen ihrer Wangen ließen mich einsehen, daß meine Bemühungen, sie zu beruhigen, fruchtlos sein würden. Sie schien ohnmächtig zu werden, und keiner der Dienstleute war in Rufnähe. Doch da erinnerte ich mich einer Flasche leichten Weines, den die Ärzte verordnet hatten, und eilte quer durchs Zimmer, um sie zu holen. Doch als ich unter den Flammen des Weihrauchbeckens angekommen war, erregten zwei sonderbare Umstände meine Aufmerksamkeit.

(S. 70)*

Wer es sich zutraut, sollte E.A. Poe unbedingt im Original lesen. Es gibt Poe übersetzt in mannigfachen Ausgaben, die zu beurteilen mir leider gänzlich die Kompetenz fehlt. Daher hier der gewohnt neutrale Überblick über die

lieferbaren Ausgaben.

Ich habe diese Ausgabe verwendet, die aus technischen Gründen bei der obigen Suchanfrage nicht mit auftaucht.

*zitiert nach: E.A. Poe: Der Untergang des Hauses Usher und andere Geschichten von Schönheit, Liebe und Wiederkunft. Diogenes Zürich 1984