Eine Woche in ungelesenen Büchern (1)

Wie der geneigten Leserschaft unschwer aufgefallen sein wird, ist das ursprüngliche Kernthema dieses Blogs, die wöchentliche Buchempfehlung, seit langer Zeit zur Ruhe gekommen. Real Life, was willste machen….

Also werde ich mal etwas anderes versuchen. Da die Hauptbeschäftigung von Buchhändlern darin besteht, ungelesene Bücher in den höchsten Tönen zu loben (Schnittmengen zum Feuilleton sind möglich, und ja, wir haben eine eigene Abteilung in der Hölle), werde ich das hier auch mal versuchen. Es soll um Bücher gehen, die mir im Laufe der Woche aus unterschiedlichsten Gründen in die Hände fielen (meist sicher, weil sie neu erschienen sind, es sind aber auch jede Menge andere Gründe denkbar) und deren Lektüre mir lohnenswert erscheint.

Sollte sich jemand in der geneigten Leserschaft animiert fühlen und das eine oder andere Buch tatsächlich lesen: Rückmeldungen sind gern gesehen – und der Vorteil am Virtual Life: Ihr könnt mir die Dinger nicht ohne weiteres an den Kopf werfen. Hehe.

Ist der Feminismus am Ziel?
Maskulisten, PI-Leser und Freunde der »Partei des gesunden Menschenverstands« würden diese Frage wohl nicht nur bejahen, sondern wohl sogar konstatieren, dass dieser über sein Ziel hinausgeschossen sei.
Emma Watson (an deren Rede es durchaus auch Grund zur Kritik gibt) verdeutlich aber zumindest eins: Es geht beim Feminismus gar nicht um Frauen. Verwirrt? Dann sei dringend zu

Cover Anne Wizorek

Anne Wizorek: Weil ein #Aufschrei nicht genügt geraten. Anne Wizorek (@marthadear) zeigt gerade jenen, die bei »Feminismus« bestenfalls Alice Schwarzer und brennende BHs assoziieren, dass Kernthema der aktuellen feministischen Bewegungen keineswegs die aanzustrebende Weltherrschaft der Frauen ist, sondern eher eine gerechte Welt für alle. Ich denke, wenn man schon überall über Feminismus diskutiert, sollten wir doch wenigstens in Grundzügen wissen, worüber wir da sprechen.

Apropos Alice Schwarzer. Deren merkwürdiges Gesellschaftsverständnis (siehe hierzu meine früheren Lektürehinweise) unterscheidet sich strukturell kaum von patriachalen Denkmustern. Besonders deutlich wird dies in ihrem Kreuzzug gegen Pornographie und Prostitution. Und gerade zu letzterem scheint mir Melissa Gira Grant einen wesentlichen Debattenbeitrag in ihrem Buch

Cover Melissa Gira Grant

„http://bit.ly/1sHPGYD“ target=“_blank“>Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit zu leisten. Ich habe jedenfalls schon einmal mit der Lektüre begonnen.

Dann fiel mir noch dieses Buch hier in die Hände:

Cover Niklas Maak

Niklas Maak: Wohnkomplex. Warum wir andere Häuser brauchen. Niklas Maak habe ich bisher nur aus der Ferne wahrgenommen, kann der Beschreibung seitens des Verlages, sein Werk sei witzig, streitbar und bestens recherchiert hier zunächst einmal nur wiedergeben. Das Thema mag nicht besonders massentauglich sein, ist aber nichtsdestotrotz wichtig. Die Frage, warum eigentlich unser Lebensglück an einem Einfamilienhaus hängen soll, ist nicht abwegig. Maaks Lebenslauf macht auf jeden Fall Hoffnung, dass es sich hier nicht um oberflächliches Getue handelt.
Und das Wortspiel des Titels verdient immerhin Vertrauen. 😉

Zu guter Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass Sibylle Bergs

Cover Sibylle Berg

Vielen Dank für das Leben nun als Taschenbuch vorliegt. Womit es keine Ausrede mehr gibt.

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Verleger sein

Wie ist das eigentlich, Verleger eines Kleinstverlages zu sein?

Zugegeben, das ist möglicherweise nicht gerade eine Frage, die Millionen hinter dem Ofen vorlocken werden, möglicherweise spielt die winzige Detailfrage einer kleinen Branche im großen Weltenplan gar keine Rolle.
Falls es aber doch jemanden interessiert:
Gesine von Prittwitz war so freundlich, mir einige Fragen zum Verlegersein und dem ganzen Drumherum zu stellen. Das Interview findet ihr in ihrem Blog auf SteglitzMind.

Und ein besonderer Dank geht an Barbara Miklaw vom Mirabilis Verlag, die mich für die Reihe vorschlug.

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Der Ehrgeiz eines Hirnforschers und die Verzweiflung eines Vaters

Die Äußerug, man habe ein autistisches Kind erzielt oft eine merkwürdige Reaktion. Irgendwas zwischen Mitleid und Abscheu.
Und natürlich, das unterscheidet dieses Thema nicht von allen andere Themen, über die man sich unterhalten kann, hat praktisch jeder schon einmal etwas davon gehört und eine festgefügte Meinung, die sich zwar bestenfalls auf ein paar Hollywood-Weisheiten und Wetten-dass?-Erfahrungen stützt, aber nichtsdestotrotz bereits die Summe aller menschlichen Weisheit repräsentiert. Man kennt das.
Weshalb hier dringend dazu geraten sei: Welches Thema auch immer der geneigten Leserschaft wichtig ist – sprecht es bloß nicht auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung irgendeiner Art an. Redet lieber übers Wetter (also natürlich nur, falls dies nciht zufällig eure Herzensangelegenheit ist…)

Auf Zeit-Online gibt es einen lesenswerten Artikel (ja, das kommt vor), der zwar leider im ganz typischen unverbindlichen Pseudoreportagenduktus dieser Publikation geschrieben ist, aber nichtsdestotrotz zum einen die Diagnosenirrfahrt als auch die Verzweiflung der Eltern einigermaßen gut einfängt (und das bemerkenswerte Können anderer Generationen, die einfach tun und dabei richtig liegen, das mit der Lebenserfahrung scheint ein Konzept zu sein…)

Vor allem demonstriert er sehr schön, wie wenig wir über Autisten, Gehirne, das Leben, das Universum und ganzen Rest wissen.

Einmal hier entlang bitte.

P.S. Zur Menschenkenntnis von Psychologen hat sich der Hausheilige dieses Blogs in einem hübschen Kabinettstückchen abschließend geäußert: In der Hotelhalle (1930).

Verletzte Gefühle, unbeabsichtigt

»Politiker_innen wollen gar nicht (mehr) gestalten, sie wollen nur wiedergewählt werden.«
Das ist ein Allgemeinplatz und wie jede Pauschalisierung mit äußerster Vorsicht zu genießen, auch wenn ich tatsächlich dazu neige, mich von einer empirischen Bestätigung dieser Aussage nicht überraschen zu lassen. Ein gewisser Grad an Diskursverweigerung freilich scheint durchaus zum Standardverhalten aktiver Politiker_innen zu gehören. Kann man nahezu täglich in einer beliebigen »politischen Talkshow« beobachten – oder beim öffentlichen Ritual »Entschuldigen«, das ähnlich ritualisiert ist wie »Trauern« und »Gedenken«.
Wobei fairerweise gesagt werden muss, dass diese Verhaltensweisen keineswegs auf Politiker_innen beschränkt sind, sondern selbstverständlich von allen Teilnehmer_innen des gesellschaftlichen Diskurses gepflegt werden.

Antje Schrupp schreibt dazu:

Immer wenn ich eine solche „Entschuldigung“ lese, werde ich fast noch ärgerlicher als über den ursprünglichen Sachverhalt. Denn der Verweis auf die angeblich verletzten Gefühle der Kritiker_innen ist keineswegs ein Entgegenkommen, wie es den Anschein erweckt, sondern ganz im Gegenteil die Verweigerung einer ernsthaften Auseinandersetzung. Es wird nämlich so getan, als sei der Grund für die Kritik die subjektive Befindlichkeit derjenigen, die die Kritik vorbringen. So als seien sie irgendwie besonders empfindlich. Großmütig ist man dann bereit, auf diese zart besaiteten Menschen Rücksicht zu nehmen – und konstruiert nebenbei eine Opfergruppe, der man dann gönnerhaft ein bisschen entgegen kommt.

Bei der Kritik an gesellschaftlichen Missständen wie Sexismus oder Rassismus geht es aber nicht um verletzte Gefühle oder „Betroffenheit“ – auch wenn Sexismus oder Rassismus zweifellos Gefühle von Menschen verletzen – sondern um eine Analyse von Strukturen. Wenn ich kritisiere, dass in Werbevideos Gewalt gegen Frauen verharmlosend dargestellt wird, oder wenn ich gegen die Darstellung von Frauen als sexualisierte willenlose Wesen protestiere, dann nicht weil „meine Gefühle als Frau“ dadurch verletzt würden. Sondern weil ich solche kulturellen Muster für schädlich halte – und zwar nicht nur für mich oder für die „Betroffenen“, sondern generell und für alle.

Alles, was dem noch hinzuzufügen wäre, findet sich im ganzen Beitrag, den ich an dieser Stelle zu lesen empfehle.

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Der neue Sarrazin

Thilo Sarrazin, Treuhandmanager, Bahnvorstand, Finanzsenator und zuletzt Vorstandsmitglied der Bundesbank, vor allem aber: professioneller Falsch- und Unverstandener, hat ein neues Buch vorgelegt.
Wahrscheinlich wird sich auch dieses wieder hervorragend verkaufen und wahrscheinlich wird er auch dieses Mal wieder auf unzähligen gut besuchten Pressekonferenzen erzählen, wie sehr er in seiner freien Meinungsäußerung unterdrückt wird.
Für all jene, die noch zögern, ob sich eine Beschäftigung mit seinem neuen Werk lohnt, sei auf diese ausführliche, erschöpfende und das Für und Wider angemessen würdigende Vorabrezension hingewiesen:

Graphitti-Blog

(via Graphitti-Blog)

Das Buch zum Sonntag (113)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Elisabeth Rank: Bist Du noch wach?

[…] alles andere nahm er immer hin, auch Zahnärzte und rohe Zwiebeln und wenn er mit dem Zehl gegen die Tür donnerte. Konrad beschwerte sich nicht, sondern sagte jedes Mal, man müsse bestimmte Dinge halt machen, also könne man sich beschweren oder es eben lassen und es einfach machen, und jedes Mal, wenn Konrad das sagt, wurde ich wütend, weil ich glaubte, dass jeder ein Recht habe auf einen schlechten Tag und vor allen Dingen auch auf eine ordentliche Beschwerde, ma könne doch nicht einfach klaglos den Mund öffnen und sich Geräte in den Mund schieben lassen, man dürfe wenigstens einmal sagen, dass das kein schönes Gefühl sei und man lieber auf einer Dachterrasse säße mit einem Eistee und in netter Begleitung anstatt auf einer Liege und mit Gummihandschuhen im Mund und Menschen, denen das Mitleid ausgegangen war, weil sie das jeden Tag machten, weil sie damit Geld verdienten, man konnte kein Mitleid haben mit Menschen, die einem die Miete bezahlten und das Cordon bleu.

(S. 164)**

Es ist mit dem Erwachsenwerden ganz offenbar so eine Sache. Die zeitgenössische Literatur beschäftigt sich auffallend intensiv mit damit. Daher soll es in dieser und den nächsten Folgen dieser zu einer äußerst losen Empfehlungsreihe mutierten Serie um Bücher gehen, die sich ganz unterschiedlichen Aspekten des Erwachsenwerdens widmen.
Elisabeth Ranks ProtagonistInnen sind dabei keine Teenager auf der Suche nach den Grenzen, die ihnen die Gesellschaft setzt, sondern es handelt sich um junge Menschen um die 30, bei denen Rebellion als Abgrenzung kein Thema mehr ist. Auf der Suche nach einem Lebensentwurf sind sie aber trotzdem – und das ist ein wichtiger Aspekt des Erwachsenseins, wie ich finde.
Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder frei wählen lassen möchte, welche Lebensziele sie zu verfolgen wünschen, erhebt damit allerdings auch gleichzeitig erhebliche Ansprüche – denn dann musse in jede/r auch selbst entscheiden. Wir haben derartig viele Lebensentwürfe im Angebot, dass es tatsächlich eine erhebliche Leistung ist, überhaupt erst einmal herauszufinden, welcher zu uns passt – von den Schwierigkeiten, ihn dann auch noch umzusetzen gar nicht zu reden. Mit dieser Anforderung gehen Menschen naturgemäß sehr unterschiedlich um*. Das reicht von schierer Resignation bis zur kurzentschlossenen, pragmatischen Entscheidung.
Bei Frau Rank begegnen wir also einer Protagonistin, die auf der Suche ist. Sie stellt sich permanent in Frage, lässt sich von ihrer Familie ebenso beeindrucken wie von ihren Mitbewohnern oder KollegInnen. Alle treffen sie einen Nerv ihrer Seele, eine Saite, die zu klingen beginnt und es fällt ihr schwer, eine Melodie zu finden, die sie spielen könnte. Stattdessen wird dort eher unkoordiniert herumgezupft. Mich hat Rea einige Male ganz erheblich geärgert, ich wollte ihr zurufen, »Mensch, Mädel, nun komm mal klar, entscheide Dich endlich einmal für irgendetwas.« Wäre das meine Tochter, sie hätte sich etwas anhören dürfen (à la »Verlaufen ist möglich, aber auch nur, wenn man auch ein Ziel hat. Wer hin und her läuft, verirrt sich nicht, kommt aber auch nicht vorwärts.«).
Was aber Elisbath Rank hervorragend gelingt, worin ihre ganz große Stärke besteht, das ist ihre sehr feinfühlige Figurengestaltung – ich kaufe ihr die Rea ab. Ich halte sie für eine sehr glaubwürdige Figur, ja sogar für eine höchst realistische. Was denn ja auch einiges über meine Wahrnehmung der Welt da draußen aussagen mag.
Diese Suche nach dem, was richtig ist, ihre leichte Verletzbarkeit, die schon durch Kleinigkeiten aus dem Gleichgewicht zu bringende innere Balance, eine permanente Angst vor Zurückweisung – das ist schon sehr überzeugend dargestellt. Und so sehr mich die eine oder andere Eigenschaft dieser doch eigentlich längst im Leben stehenden jungen Frau furchtbar gerärgert hat – sie ist mir nicht egal. Ich habe doch trotzdem mit Rea mitgefühlt und gelitten, denn ihre Fragen, ihr Suchen sind deswegen ja nicht weniger existentiell.
Und wenn es so ist, was ich tatsächlich glaube, dass ein großer Teil der Menschen dieses Alters sich solchen Fragen stellt – dann wird die Lektüre von Elisbath Rank geradezu zur Bürgerpflicht, denn dann müssen wir etwas tun. Egal, wie sehr wir unsere Lebensspanne verlängern: Dreißigjährige, die ziellos durchs Leben wanken – das ist nicht gut.
Wer ddieser Bürgerpflicht nachkommen möchte, sei auf die

lieferbaren Ausgaben

verwiesen.

Mir jedenfalls hat dieser Roman Einblick in eine Gefühls- und Lebenswelt geboten, die mir einigermaßen fremd war – und es ist allein Frau Ranks Talent zu verdanken, dass ich nicht nach 10 Seiten genervt das Buch zur Seit legte, um einen kräftigen Schluck Sartre als Gegengift zu mir nehmen. 😉

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* »So wie alle Lebewesen, jedes nach seinen Fähigkeiten.« Man kann bei Star Trek ja so viel lernen. 😉
** zitiert aus: Rank, Elisabeth: Bist Du noch wach? Berlin Verlag. München 2013.

Mit dem Holzhammer

Nach dem Angriffskrieg der USA gegen den Irak sah sich Neil Young gezwungen, mit Crosby, Stills und Nash die alten Lieder wieder auszupacken und erneut durchs Land zu touren, um den Menschen die Idee nahezubringen, dass Kriege beginnen nur so mittel ist. Die Dokumentation dazu heißt nicht zufällig »Déjà Vu«.

Ich habe Hannes Wader ungefähr zu der Zeit in einem Auftritt gesehn, bei dem er auf mich den Eindruck machte, als hätte er gedacht, nach fast dreißig Jahren »Es ist an der Zeit« nicht mehr singen zu müssen.

Die Ereignisse in Schneeberg (und nicht nur die, sie mögen hier exemplarisch stehen) lassen mich erkennen, dass wir offenbar auch in der Frage des Zusammenlebens in diesem Land wieder ganz von vorne anfangen müssen. Dass wir wieder an einem Punkt stehen, an dem wir ernsthaft erklären müssen, »dass ›fremd‹ kein Wort für ›feindlich‹ ist«.

Nun gut, wenn es denn sein muss, dann müssen wir das mit den feineren Argumentationen eben lassen und den Holzhammer wieder herausholen:

Ergänzend sei noch auf einem maßgeblichen und großartigen Text des Hausheiligen verwiesen, der fordert, den Begriff »Heimat« nicht preiszugeben, dort ist zum Beispiel zu lesen:

Und nun will ich euch mal etwas sagen:
Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.
Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.[…]

Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ›Deutschland‹ gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.
Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

*

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aus: Tucholsky, Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7197-7198. Digitale Bibliohtek Berlin, 1999 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 314)

Pan y circo

Wenn das Brot knapp wird, braucht es halt mehr Spiele.

Der nächste ist ein junger, aufgeregter Herr, der wie ein Bajazzo aus seinem Stall herausgepurzelt kommt. Er macht den Leuten viel zu schaffen, und das soll er ja wohl auch. Er zerstößt das Pferd, das ihm sein Vorgänger leichtverwundet zurückgelassen hat, zu einem bösen Klumpen, der Picador fällt herunter, es geschieht ihm aber nichts. Der Stier zerquält ein Pferd, so daß es sich schon nach dem ersten Stoß nicht mehr erheben kann – und da liegt es. Ich kann genau das Auge sehen, das große, sanfte Auge. Das Auge versteht nicht. Es sagt: »Warum? warum?«

*

In Spanien ist sowas jetzt national geschütztes Kulturgut. Und man möchte daraus ein UNESCO-geschütztes Kulturgut machen.

Die Beschreibung stammt aus: Kurt Tucholsky, Stierkampf in Bayonne. in: Werke und Briefe: 1927. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 4742. Digitale Bibliothek, Bd. 15, Berlin 1999. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 15)
Der ganze Text ist bei textlog.de nachzulesen.

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Alice? Wer ist eigentlich Alice?

Ich halte es für ein beredtes Zeichen für den Zustand unserer Gesellschaft, dass hierzulande Alice Schwarzer für eine wichtige Feministin gehalten wird (und indem man sie dafür hält sie natürlich dementsprechend auch eine ist). Betrachtet man die Fähigkeit, gesellschaftliche relevante Breitenwirkung zu erzielen, ist sie vielleicht sogar die einzige.
Das ist aber höchst gefährlich, denn Alice Schwarzer vertritt ein Denkmodell, das unbedingt Widerspruch bedarf, und zwar besonders von progressiver Seite (siehe hierzu z.B. Seeliger, 2010).

Zur von ihr aktuell (und ganz zufällig pünktlich zum Erscheinen ihres neuen Buches) initiierten Aktion zur Abschaffung der Prostitution kommt jetzt genau dieser Widerspruch, sachlich, klar, nüchtern und doch entschieden.

Sonja Dolinsek erläutert sehr präzise, warum und wieso der Appell von Schwarzer und ihren prominenten MitunterzeichnerInnen unsäglich, wenn nicht sogar unerträglich ist – auf jeden Fall aber kontraproduktiv. Und ganz nebenbei seziert sie Schwarzers Denken und offenbart die zugrundeliegenden Denkmuster, die mit Denkmodellen kompatibel sind, von denen wir uns eigentlich verabschiedet haben wollten.

Also los, Sonja Dolinsek lesen.

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Mimosen und Macht

Die SPD hat wieder mal einen Austritt zu verzeichnen. Soweit, so normal.
Yasmina Banaszczuk, 28 jahre alt, tritt nach drei Jahren aus der SPD aus, weil sie sich unverstanden und ausgebrannt fühlt. Weil ihr Vorsitzender nicht auf sie hört und weil ihre differenzierten und feinen Vorschläge keine Wirkung haben und nicht beachtet wurden. Zumindest habe ich das jetzt so verstanden, aber da kann sich die geneigte Leserschaft ja auch einen eigenen Eindruck verschaffen (bemerkenswerter Weise übrigens bekam die Sache erst dann richtig Fahrt, als stern.de darüber berichtete – Irrelevanz klassischer Medienhäuser sieht auch anders aus, aber das ist ein anderes Thema).
Dazu zwei Fragen: Sie gibt nach drei Jahren auf, weil sie als Hamburger JuSo vom Parteivorsitzenden nicht ernst genommen wird? Ernsthaft? Dann war die Idee, in eine Partei einzutreten möglicherweise nicht die richtige Idee. Oder zumindest ihre Vorstellungen äußerst naiv.
Diesen Aspekt behandelt allerdings Julia Seeliger in ihrer bekannt erfrischenden, direkten Art ganz ausgezeichnet. Eine Kostprobe:

Parteipolitisches Engagement ist strukturell krank! Kann man sagen. Der ganze Rest, Kapitalismus, Krieg und Patriarchat und Freie Kameradschaften und Missbrauch und Sportvereine und Familien und Ödipus und Goethe und Kleingärtenvereine und Nachbarn, die sich bei der Hausverwaltung beschweren, diese ganzen Übel – die sind aber auch nicht gesund.

Julia Seeliger (Wikipedia) spricht aus ihrer Perspektive, aus zehn Jahren Parteieerfahrung bei den Grünen und sie hat wenig freundliche Worte übrig:

Da hat der Siggi einfach mal den Finger in die Wunde gelegt und die SPD-Mädchen lassen sich davon wütend machen. Noch ein paar Begriffe: Selbstüberschätzung, Egozentrismus, mangelnde Kritikfähigkeit, Netzgemeinden-Gehype, Irrelevanz. Traurige Wahrheit: der Sommer der Netzsperren ist schon drei, vier Jahre vorbei und es ist nicht gelungen, die Energie ins Jetzt zu überführen, auch weil die Netzbewegung strukturell kaputt ist. Vielleicht wurden aber auch Fehler gemacht. Vielleicht wurden Fehler gemacht, die strukturell sind. Zum Beispiel, dass im Internet besonders viele Arschlöcher mitreden bzw. mit sich selbst reden. Könnte ja sein?

um anzuschließen mit:

Fragezeichenmödchen meldet sich zu Wort zu einem weiteren Bereich: dem parteipolitischen Angajemang. Internetmödchen, du willst, dass sich dir alle Türen öffnen? Nach nicht mal zwei Jahren?

KullerZeit! ROFL! ROFL! ROFL!

(großartig!)
Aber ehe ich weiter schreibe, sei der geneigten Leserschaft die Lektüre des ganzen Textes empfohlen.

[Raum für Lektüre]

Wieder da?
Gut, dann hier meine zweite Frage: Ich denke, dass Frau Seeliger vollkommen recht hat – und ist das nicht vielleicht doch ein Problem? Sollte Politik nicht vielleicht doch anders gehen? So, dass engagierte, eifrige und empfindliche Menschen dort etwas zu sagen haben und nicht einfach verschreckt werden? So, dass geistige Gesundheit kein Ausschlusskriterium ist? Und wenn ja, wie soll das gehen?

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