Paprika im März

Ich hatte soeben ein bemerkenswertes Erlebnis im Discounter meiner Wahl. Die junge Dame, die vor mir bezahlte, tat ihr Entsetzen darüber Kund, daß Gemüse derzeit ja unglaublich teuer sei, der Paprika zum Beispiel – und dann sehe der noch nicht einmal gut aus. Im Winter sei das ja verständlich, aber nun werde es doch Frühling.
Mein spontaner Impuls war, ihr zuzurufen: “Es ist Anfang März und Du kannst jegliche Obst- und Gemüsesorte kaufen. Geht´s noch?”, unterließ das dann aber, hatte ich doch das Haus überhaupt nur widerwillig verlassen und fehlte mir wahrlich der Antrieb zu einer vermutlich aussichtslosen Debatte.
Allerdings habe ich mich schon lange nicht mehr so alt gefühlt, ich hatte wirklich den Eindruck, irgendwie einer anderen Generation anzugehören, weil es mir nicht selbstverständlich erschien, am 2. März abends um halb acht Paprika kaufen zu können, geschweige denn zu erwarten, um diese Uhrzeit noch eine große Auswahl an frischen, makellosen Exemplaren zum Schnäppchenpreis vorzufinden.
Ich meine, ja, es ist selbstverständlich möglich, aber haben wir wirklich vergessen, welchen Aufwand wir betreiben, damit das überhaupt geht? Haben wir wirklich vergessen, daß das keine Selbstverständlichkeit ist?

Wir befinden uns in der Fastenzeit – und die liegt nicht zufällig in der Zeit des ausgehenden Winters. Es ist nämlich die Zeit, in der die Vorräte zur Neige gehen, mit denen der Winter bestritten werden muß, gleichzeitig aber noch keine Möglichkeit besteht, irgendwas zu ernten, pflücken oder zu sammeln. Weil nämlich noch nichts wächst.
Jedenfalls war das so vor der Erfindung des logistischen Mammutprojekts, das hinter der täglich frischen Belieferung unserer Kaufhallen steckt. Und die Frage darf erlaubt sein, ob das nicht überhaupt Wahnsinn ist.

Wir leben hier in einer Welt, die glaubt, sich von den natürlichen Umweltbedingungen unabhängig gemacht zu haben. Was noch nicht einmal völlig falsch ist, wir begehen nur scheinbar allmählich den Fehler, sie zu ignorieren. Diese Hybris war hier ja schon einmal Thema. Die Vielfalt im Lebensmittelregal scheint zu suggerieren, daß dies zwangsläufig und immer so sein müsse – ganz egal, welche Jahreszeit herrscht, ob es regnet oder schneit, die Erde bebt oder ein Orkan durchzieht. Nein, dem ist nicht so. Ganz im Gegenteil, es handelt sich hier um ein komplexes System, dessen Teile alle reibungslos funktionieren müssen, damit dem so ist. Auch wenn wir schon recht weit sind, was das Austricksen angeht.
Es ist gar nicht so lange her, daß das täglich Brot für jeden ein anzustrebendes Ziel unserer Gesellschaft war – heute schimpfen wir über die Paprikapreise im Winter!

Die Fastenzeit hat ihre ursprüngliche Funktion als religiöse Überhöhung eines natürlichen Mangelzustandes verloren – was auch ihre geringe Popularität erklären könnte, der Mensch verzichtet nicht gern, wenn er nicht muß. Aber es scheint mir doch angebracht, einmal inne zu halten und zu überlegen, was wirklich notwendig ist – und was wir wirklich brauchen. Werden wir verhungern, wenn wir eingelagerte Kartoffeln und Äpfel essen, statt sie aus Ägypten und Italien heranzuschaffen? Wird unsere Produktivität sinken, wenn die Erdbeeren nicht frisch eingeflogen werden, sondern für ein paar Wochen aus dem Einweckglas stammen? Was ist das überhaupt für eine Welt, in der es billiger ist, Kartoffeln um die halbe Welt zu schicken, als sie vom Erzeuger dreißig Kilometer entfernt zu holen? Ticken wir noch richtig?

Ja, ich finde es höchst angenehm, jederzeit nahezu jedes Nahrungsmittel meiner Wahl ohne größeren Aufwand kaufen zu können. Und ja, ich würde darauf höchst ungern verzichten wollen. Aber, verdammt nochmal, das ist Luxus. Und wenn dann die Paprika fünfzig Cent mehr kosten, obwohl doch in wenigen Wochen Frühling ist, dann sollte das eher ein Moment sein, sich in Erinnerung zu rufen, welch irrsinnigen Aufwand wir für diese fünfzig Cent betreiben.

Meine Großeltern sind noch im zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Ich weiß, daß sie froh sind, daß das täglich Brot heute eine Selbstverständlichkeit ist. Wir sollten endlich beginnen, von der Lebenserfahrung früherer Generationen zu lernen, um zu begreifen, welchen Luxus es bedeutet, sich am 2. März vor einer unterbezahlten Kassiererin aufbauen und über die Paprikapreise schimpfen zu können – aus den täglichen Nachrichten scheinen wir es ja nicht zu begreifen. Und so verständlich es ist, dem Fernsehen nicht zu glauben, wenigstens den eigenen Vorfahren sollten wir Glauben schenken. Oder ihnen wenigstens mal zuhören.

Oder dem Hausheiligen:

Der Mann für Ruhe und Ordnung fragt entrüstet, warum denn diese Leute so viele Kinder hätten. Diese Kinder des niedersten Proletariats verdanken ihre Existenz, so brutal das klingt, der Wohnungs- und der Bettennot, dem Mangel an Heizmaterial und der Unbeholfenheit der Frauen, sich gegen den Kindersegen zu wehren (was ein überholtes Strafgesetz heute noch verbietet). Diese Kinder leben, weil . . .
Es gibt ein bitteres Wort einer alten Zeitungsverkäuferin, die auf die Frage, warum sie denn in ihrer Armut noch zehn Kinder in die Welt gesetzt habe, geantwortet hat: »Die reichen Leute jehen abends ins Theater . . . «
Da leben Kinder. Wir haben Kinder gesehen, Mädchen von sechs und sieben Jahren, die waren 90 Zentimeter hoch, und andere, die den ganzen Tag nicht auf die Straße gehen konnten, weil sie mit Ausnahme eines kleinen Kittels ganz nackt waren. Der Ernährungszustand ist durchweg trostlos: die Kinder leben von Brot und Margarine und Kohl. Ein Mädchen schlief zwei Meter von einer Kellertür entfernt neben Lumpen auf dem Steinfußboden. Die Tür schloß nicht, sie ließ einen handbreiten Spalt frei. Daß ein Kind in dieser Proletarierwelt im Bett allein schläft, kommt kaum vor. »Die sittliche Verderbnis der unteren Stände« – man sollte jedem Pastor, der so etwas in den Mund nimmt, die Bibel um die Ohren hauen.
Mag er hingehen und sehen: die Wohnungen, in die kein kaiserliches Marstallpferd hereingegangen wäre, diese muffigen, schwarzdunklen Kellerlöcher mit ein paar alten Bettstellen darin, wo Kinder schlafen, sollte er sehen!
Und das Allerschlimmste an diesen Dingen ist: daß es sich hier nicht nur um Arbeitslose handelt, sondern um Familien, deren Erwerber eine kleine Stellung haben und verdienen. Und es nützt ihnen gar nichts.
Wer früher in die Fabrik ging, zählte kaum zum Lumpenproletariat.
Und heute?

*

Und heute?

*aus: Kinderhölle in Berlin. in: Werke und Briefe: 1920. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 9418f. (vgl. Tucholsky-DT, S. 244-245) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

P.S. Für den Gegenwert der Schuhe, die die junge Dame, deren Kaufentscheidung dann auf Partytomaten fiel, anhatte, hätte sie problemlos sämtliche Paprikavorräte des Ladens kaufen können.

In Memoriam Frank Böttcher

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen . . .
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8324-8325
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 162-163)

Ich verbinde diesen Text seit Jahren mit Frank Böttcher, der am 7. Februar 1997 in Magdeburg-Olvenstedt ermordet wurde.
Seinerzeit leitete ich das Büro der LandesSchülerVertretung in Halle und solange ich in dieser Position war, hing der Text des Hausheiligen samt Verweis auf das Geschehen auch dort. Andere brachten ihre Hilflosigkeit deutlicher zum Ausdruck.
Kästner meinte einmal über Tucholsky: “Ein kleiner dicker Berliner, der mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte.” Nicht jedem liegt der Pflasterstein als Ausdrucksmittel seiner politischen Überzeugung. Im Zweifel bin ich allerdings, ob ich ihn jederzeit für illegitim halten soll. Aber das führt hier und heute zu weit und weg vom Eigentlichen.

Denn wir sind immer noch keinen Schritt weiter. Weder seit 1997, noch seit 1931.
Denn welchen Weg auch immer wir gehen wollen, seien es Pflastersteine oder Schreibmaschinen, es bleibt dabei:

Deutschland! hast du eine Lammsgeduld!
Läßt dir heute nach diesem allen
Frechheit von Metzgergesellen gefallen?
Lern ihre eiserne Energie!
Die vergessen nie.
Die setzen ihren verdammten Willen
durch – im lauten und im stillen
Kampf, und sie denken nur an sich.
Deutschland! wach auf und besinne dich!

Nur einen Feind hast du deines Geschlechts!
Der Feind steht rechts!

aus: Preußische Presse. in: Werke und Briefe: 1919. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1341-1342 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 109)

Väterchen Frost strikes back

Die “Wahrheit”-Redaktion der taz erfand dereinst das Verb “bosbachen” zur Beschreibung des Sich-zu-allem-und-jedem-äußern. So verwundert es also nicht, daß Herr Bosbach natürlich auch was zum Wetter zu sagen hat:
Wir neigen zur Dramatisierung: Was heute Schnee-Chaos heißt, nannte man früher Winter.” (zum Beispiel hier nachzulesen.)
Das hat mich ins Grübeln gebracht, was für eine Aussage von Bosbach schon allerhand ist.

Was ist passiert?

Ist es wirklich die versammelte Ignoranz und Unfähigkeit zuständiger Stellen, wie Jörg Kachelmann anmahnt (hier allerdings unbedingt mal in die Kommentare reinschauen)? Ist das ein völlig normaler Winter – nur wir hyperdramatisieren?

Ich glaube, ganz so einfach ist es nicht. Denn es sind ja Dörfer vollkommen zugeschneit. Es blieben Züge liegen, es gab massive Einschränkungen im Öffentlichen Personennahverkehr (Berlin mal ausgenommen, da liegt es nicht am Wetter. Die haben ja dort den alten Bahnslogan umgemünzt in: “Alle reden vom Wetter – Wir nicht. Wir fahren so oder so nicht.”) und viele Straßen waren nicht befahrbar.
Kurz: Es gab und gibt ja Einschränkungen. Warum aber sind das Probleme? Als ich letzten Sonntag an der Bushaltestelle wartete, meinte eine ältere Dame, daß bei diesen Witterungsbedingungen man nicht so genau auf den Fahrplan schauen sollte. Und wartete geduldig weiter, während in der Menge ringsum ein Rhababer-Crescendo aufwallte, je länger der blau-gelbe Motorkasten auf sich warten ließ. Der Barrikadenbau wurde aber durch rechtzeitiges Eintreffen des Busses gerade noch abgewendet.
Aber nochmal: Warum ist das ein Problem? Wieso wallt Zorn auf, wenn aus offenkundigen Gründen der Zug mal später kommt, warum ist es tagelange Berichterstattung wert, daß es schneien wird? Im Winter.

Meine spontane Antwort: Hybris.
Und zwar in mehrerer Hinsicht. Zum einen ist es Hybris, zu glauben, ein System zu beherrschen, dessen Teil wir sind. Es ist Hybris anzunehmen, alles müsse immer funktionieren. Es ist Hybris, zu verlangen, morgens um sechs müssten aber mal alle Straßen geräumt und alle Schienen gefegt sein – das könne man ja wohl für sein Steuergeld verlangen.
Zum anderen ist es Hybris, zu glauben, Winter finde nicht mehr statt, weil wir das gerne so hätten. Es ist Hybris, Züge so zu bauen, daß sie bei ein paar Grad unter Null am Kondenswasser scheitern – und zwar auf der einzigen Strecke, für die sie gebaut wurden. Es ist Hybris, Jahr für Jahr Stellen und Fuhrpark beim Winterdienst abzubauen, nur weil es halt ein paar milde Jahre gab. Es ist schlußendlich Hybris, zu glauben, die Welt funktioniere auf einmal völlig anders. Diesem irrsinnig komplexen System “Erde”, dessen Grundkonstanten wir derzeit bestenfalls erahnen, von “Wissen” will ich gar nicht reden, sind unsere Hypes derart schnuppe, daß es für uns postmoderne Ich-Verliebten wohl viel zu schmerzhaft wäre, gestünden wir uns das ein.
Also machen wir den Bruce (ihr wißt schon) und sehen uns in unseren Grundfesten erschüttert, weil die Bahn nicht kommt, obwohl sie uns das doch so sehr versprochen hat?

Ich weiß nicht.

Selten ist eine Großstadt angenehmer als unter 20 cm Neuschnee. All der Lärm, all die Hektik, all das Achsowichtige, die ganze tägliche Betriebsamkeit – es ist nicht weg, aber ganz angenehm gedämpft. Auch auf die Gefahr hin, jetzt wie ein esoterisch verklärter Erweckungsprediger zu klingen: Aber es täte uns gut, das anzunehmen. Also anstatt über die verlorene Zeit an der Haltestelle zu schimpfen und das Blut in Wallung zu bringen, einfach ein Heißgetränk der Wahl mehr trinken, in Ruhe losgehen und hinnehmen, was nicht zu ändern ist. Der Bus kommt nicht früher und der Schnee fällt so oder so. Es gibt so viel in dieser Welt, wogegen anzukämpfen wäre oder worüber man sich echauffieren könnte – aber daß es im Winter schneit, ist nun wirklich das Letzte auf der Liste.

Gut, was bleibt noch zu sagen?
Zum einen: Allen Spöttern in Sachen Klimaerwärmung zum Trotz – regelmäßig kältere Winter hierzulande wären kein Gegenbeweis, sondern eine Ernst zu nehmende Bestätigung der Theorie. Mir fehlt das Know-how, um das zu überprüfen, aber die ersten sind der Meinung, unsere Heizung sei ausgefallen. Denn bedenkt: Wir leben auf dem Breitengrad Kanadas.

Sonst noch was?
Der Hausheilige hätte sicher einiges zur menschlichen Hybris zu sagen, ich möchte ihn aber doch lieber zum Winter kommentieren lassen, schon allein, weil es zeigt, daß sich viel weniger verändert, als wir glauben:

Und Winter? Es wird eine Art Schnee geliefert, der sich, wenn er die Erde nur von weitem sieht, sofort in Schmutz auflöst; wenn es kalt ist, ist es nicht richtig kalt sondern naßkalt, also naß . . .
Tritt man auf Eis, macht das Eis Knack und bekommt rissige Sprünge, so eine Qualität ist das! Manchmal ist Glatteis, dann sitzt der liebe Gott, der gute, alte Mann, in den Wattewolken und freut sich, daß die Leute der Länge lang hinschlagen . . . also, wenn sie denn werden kindisch . . .
kalt ist der Ostwind, kalt die Sonnenstrahlen, am kältesten die Zentralheizung – der Winter –?

aus: Die fünfte Jahreszeit. in: Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 6996-6997 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 224)

Laßt euch nicht abspeisen

Meine politische Desillusionierung fand bereits im Jahr 1997 statt.
Damals gab es in diesem wunderbaren Land den sogenannten Lucky Streik, bei dem gegen verschiedene Fehlentwicklungen in der Hochschulpolitik protestiert wurde (restriktive Maßnahmen gegen ausländische Studierende (Slogan damals: “Ausländer bleiben! Kanther vertreiben!”), massive Streichungen in den Budgets, Überfüllungen der Hörsäle, nicht besetzte Lehrstühle, Kahlschlag im akademischen Mittelbau, Verringerung des Studienangebotes etc.). Obwohl die Probleme vor Ort durchaus nicht vollkommen identisch waren, gab es doch eine bundesweite Vernetzung, die einen beeindruckenden Effekt erzielen konnte. In Halle wußte man sehr schnell Bescheid, was in Gießen los war und umgekehrt. Die Studierenden hatten starken Rückhalt durch die Lehrenden (zumindest für meine Uni kann ich das bestätigen), da die angesprochenen Probleme ja keine rein studentischen waren, sondern die Qualität der Hochschulen generell in Frage stellten. So gab es wunderbare Aktionen mit den Lehrenden zusammen, mein Liebling waren die offenen Vorlesungen, die an öffentlichen Plätzen stattanden und damit dem Konzept entsprachen, die Anliegen der Studierenden “nach draußen” zu tragen.

Nunja, was mich damals unglaublich deprimierte, war der Grund, warum die Proteste versiegten, obwohl nichts erreicht war. Zumindest für meine Universität kann ich sagen: Schuld waren im Wesentlichen die Semesterpause zum Jahresende und die Beruhigungspillen der Landespolitik. Nach der großen Veranstaltung auf dem Domplatz in Magdeburg, bei der versprochen wurde, die Wünsche der Studenten zu berücksichtigen (ja, konkreter war es nicht!), brach der Widerstand zusammen. Viele meiner KommilitonInnen glaubten tatsächlich, mit einer so unbestimmten, schwammig formulierten Zusage seien die Ziele erreicht und nun werde alles gut. Nach der Abstimmung in der Vollversammlung (in der selbst meine flammende Rede nicht wirkte 😉 ), habe ich den Glauben an meine Generation verloren. Wer so naiv ist, mit dem ist wohl keine Weltrevolution zu machen. Und da reden wir über die angebliche Elite, über die intellektuelle Speerspitze, über die Jugen, die uns dank ihrer progressiven Kraft gesellschaftlich weiterbringen soll. Und die ließ sich also einwickeln von durchschaubarem Politikergeschwafel. Weiter reichten die analytische Fähigkeiten wohl nicht…

Es lohnt wohl kaum zu erwähnen, daß von der Zusage nichts übrig blieb und die Pläne unverändert umgesetzt wurden, oder?
Ein Jahr später habe ich mich endgültig von jeglicher politischer Tätigkeit verabschiedet.
Aber, und da geht es mir wie Herrn Kaliban, gelegentlich wallen klassenkämpferische Nostalgiegefühle auf und so betrachte ich die derzeitigen Studierendenproteste, die sich interessanterweise um nahezu dieselben Themen drehen (wenn auch die Problematik inzwischen deutlich verschärft ist – wir hatten eben doch Recht 😉 ) mit deutlicher Sympathie.
Einen ausgezeichneten Kommentar zur diesjährigen Bewegung mit zahlreichen weiterführenden Links gibt es bei Julia Seeliger.
Ich möchte nur noch einen Wunsch äußern: Liebe Studierende, es ist zwar für viele Entwicklungen bereits zu spät, aber ihr habt völlig Recht, die Uni brennt und wenn noch irgendetwas gelöscht werden soll, dann haltet durch, laßt euch weder durch harmonische Feiertage samt Mamas Weihnachtsbraten (die euch Kraft geben mögen) noch durch Versprechungen wie das gestrige von Frau Schavan einlullen. Es müssen nicht alle Fehler der Vergangenheit wiederholt werden. Auch wenn ich mir bei den Ereignissen in Jena nicht sicher bin, ob das alle Beteiligten so sehen – ähnliches gab es bereits früher…

Anstelle eines Kommentars des Hausheiligen zum Thema gibt zum Abschluß einen wichtigen Hinweis, und zwar auf die DemoFibel, deren Beherzigung helfen kann, Eskalationen zu verhindern.
Denn schließlich, wie wir alten Revoluzzer ja wissen: “Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.” (Che Guevara)

Das letzte Recht

Seit meiner Jugend beschäftigt mich das Thema “Suizid” aus hier jetzt nicht näher zu benennenden Gründen.
Der Tod Robert Enkes, insbesondere jedoch die unglaubliche Berichterstattung in journalistischen (wenn man dieses Etikett noch zubilligen möchte) Beiträgen und in diversen sozialen Netzwerken hat mich daher nicht unberührt gelassen. Das für mich dabei erschreckende ist die Selbstreferentialität der Kommentatoren – es steht nicht der Mensch, der dort entschieden hat, aus dem Leben zu gehen, im Mittelpunkt, sondern nur die eigene Betroffenheit. Anstatt ihm die Würde und den Respekt zu lassen, der angeblich Hintergrund all der Äußerungen von “Boulevard” über “Seriös” und Fernsehen bis Twitter ist, wird er zur Projektionsfläche eitler Selbstbestätigungen oder debiler Jagd nach Klicks, Quoten und was sonst so Werbekunden beeindruckt. Näheres bei Niggemeier.

Seit Emil Durkheims inzwischen zum soziologischen Grundlagentext gewordener Untersuchung über den Selbstmord, scheint sich nicht viel getan zu haben. Im Gegenteil.

Meine Gedanken dazu mal wieder sehr viel besser formuliert, hat Frédéric Valin auf Spreeblick, dessen Beitrag ich hiermit dringend zur Lektüre empfehle.

Im Übrigen möchte ich noch Frau Bergs drastischen, aber gewohnt pointierten Beitrag auf Twitter dazu zitieren:

sich selber umbringen , ist das letzte verschissene recht, das wir sklaven haben! respektiert das

(nachzusehen hier)

Die Frage, wie vor diesem Hintergrund die Entscheidung zu bewerten ist, sich eher umbringen zu lassen und damit andere in psychisch schwer zu bewältigende Situationen zu bringen (und zumindest beim Lokführer geht es nicht um regelmäßige, zum Berufsbild gehörende Situationen), vermag ich nur prinzipiell und damit rein abstrakt zu beurteilen. Über Herrn Enke wage ich nicht, den Stab zu brechen.
Und dabei möchte ich es auch bewenden lassen. Für die Debatte verweise ich noch einmal auf den Originalbeitrag bei Spreeblick.

UPDATE (14.11.09): Berichterstattung geht auch anders. So zum Beispiel.

UPDATE 2 (18.11.09): Es überkam mich letzte Woche großes Grauen, betrachtete ich die weitere Berichterstattung des ach so qualitätsvollen Journalismus. Eine Zusammenfassung unter dem Aspekt des “Werther-Effekts” findet sich bei Stefan Niggemeier. Ebenfalls lesenswert sind dort die Beiträge der letzten Woche zu diversen medialen Fehlleistungen. Insbesondere sei hier auf diesen, diesen und jenen Beitrag verwiesen.

Gachmurets zweite Kulturwoche: Film

Film: Blutige Erdbeeren

Ilja Ehrenburg schreibt in seinen Memoiren, daß Menschen nicht aus der Geschichte lernen, weil sie nicht in der Lage seien, aus Erfahrungen anderer zu lernen, sondern nur aus den eigenen Erfahrungen lernten.
Ein Mensch, der wie Ehrenburg (1890-1967) das 20. Jahrhundert in all seinen Irrwegen erlebt hat, kann wohl auch kaum zu einem anderen Schluß kommen. Und wahrscheinlich hat er Recht. Die Anzeichen dafür, daß er falsch liegen könnte, sind jedenfalls rar.
Nichtsdestotrotz hoffe ich sehr, daß es sich nicht um eine anthropologische Grundkonstante handelt, denn es wäre sehr wichtig, endlich mal aus der Geschichte zu lernen. Um dies zu ermöglichen, bedarf es jedoch der Erinnerung.
Und so gilt es immer wieder, sich das ein oder andere in Erinnerung zu rufen, um aktuelle Entwicklungen einzuschätzen und einordnen zu können.
Hilfreich kann dabei die Kunst sein, weil sie eine Mittlerfunktion zu übernehmen vermag.
Ich möchte heute daran erinnern, daß viele unserer heute selbstverständlichen Ausdrucksformen des politischen Protestes gar nicht so selbstverständlich sind. Daß es keineswegs immer und überall nur böse Schurkenstaaten waren, die Studentenproteste niederknüppelten, die auf Unibesetzungen mit brutaler Gewalt reagierten, die Opposition nicht duldeten. Es waren durchaus Staaten dabei, die sich auf ihre demokratische Tradition und Grundverfassung eine Menge einbildeten (und es auch heute noch tun).
Der Film “Blutige Erdbeeren” beruht auf dem Buch “Das Erdbeer-Manifest” von James S. Kunen, das von den Ereignissen der Studentenrevolte an der Columbia-Univerität 1968 berichtet und erzählt die Geschichte des Studenten Simon James, seines Zeichens eher Sonderling aus Kansas als strahlender Mittelpunkt des Studentenlebens. Durch die Studentin Linda gerät er allerdings in die politischen Aktivitäten, wird selbst politisiert und aktiver Teilnehmer. Dies alles vor dem Hintergrund einer zunehmenden Eskalation der Gesamtsituation.
“Blutige Erdbeeren” ist sicher kein Meilenstein des modernen Kinos, aber er ist gut gemacht (den Preis der Jury in Cannes bekommt man ja nun auch nicht mal eben so) und er fängt eine Stimmung sehr gut ein, die in solchen Situationen immer wieder entsteht, zeigt, was geschieht, wenn Sturheit, Arroganz und Dogmatismus die Regie übernehmen. Die zeitliche Nähe zu den Ereignissen (der Film erschien 1970) kommt ihm dabei sicher zu Gute.
Der Film, und insbesondere seine Schlußszenen, gehört zu den prägendsten Erfahrungen meiner Jugend. Nur wenige Dinge haben mich stärker politisiert, haben meinem Mißtrauen gegen staatliche Obrigkeit und den Bestand und die Gültigkeit von Normen und Werten stärkere Bilder gegeben.
Doch unerheblich von meiner perösnlichen Betroffenheit bleibt der Film ein künstlerisches Dokument der seinerzeitigen Stimmung und ein Aufruf dazu, nicht zu vergessen und nichts als gegeben hinzunehmen.
Den Soundtrack steuerten übrigens zu erheblichen Teilen Crosby, Stills, Nash & Young bei, die sich ja auch nach einigen Jahrzehnten gezwungen sahen, daran zu erinnern, daß sich weniger ändert, als wünschenswert wäre.
Zu kaufen gibt es “Blutige Erdbeeren” auf DVD, zum Beispiel hier.

Eine der ungeklärten Fragen, die mich mit dem Film verbindet, ist übrigens die, was zum Henker den StuRa Halle beim Lucky Streik geritten hatte, “Blutige Erdbeeren” im Tscherny zu zeigen. Für Studenten im Protest ist der Film eher nicht zur Motivation geeignet. So ging der Streik ja auch zu Ende…

Gachmurets zweite Kulturwoche: Kabarett

So lassen wir die Spiele ein weiteres Mal beginnen.
Gachmurets zweite Kulturwoche beginne ich ebenso wie die erste mit einem Kabarettisten:

Kabarett: Georg Schramm

Ärger, Wut und Zorn. Nicht selten sind dies Antriebsfedern des Kaberettisten, die Ausgangspunkte, von denen aus er seine Programme gestaltet.
Üblicherweise mündet dies in satirische, überspitzte Beiträge, in hintergründige Ironie, in meisterhaft gesetzte Pointen.
So wie zum Beispiel beim gelegentlich empfohlenen Volker Pispers.
Bei Georg Schramm ist das etwas anders. Hier sind Ärger, Wut und Zorn nicht versteckt hinter diffizilen Pointen, hinter tiefsinnigen Sätzen, nein, sein Mittel ist eher die Tirade.
Er läßt sein Publikum ganz genau spüren, was ihn aufregt. Mißverständnisse, Unklarheiten oder Undeutlichkeiten ausgeschlossen.
Und genau das ist es, was ich an ihm schätze (ich schaue “Neues aus der Anstalt” auch eher Schramms wegen als wegen Priol). Seine Texte sind ja deswegen nicht weniger exakt gesetzt, nicht weniger durchdacht. Aber die Klarheit, das Unzweifelhafte seiner Programme, das hat einen großen Reiz.

Zur Demonstration mal ein

Beispiel.

Weiterführend:

Georg Schramms Homepage

Hans Wolfshaut auf der Jagd

In der mir eigenen Verspätung greife ich ein Thema auf, das Blogosphäre und angrenzende Universen in den letzten Tage stark bewegte.

Zu den Firmen, die ihre Anwälte Geld mit Abmahnungen verdienen lassen, gehört auch der Funktionskleidungshersteller Jack Wolfskin.

Die Anfänge der Firma liegen einige Jahre zurück, 1981 gestartet in einem sich gerade formierenden Outdoor-Markt, der zu dieser Zeit noch den Charme der Aussteiger und Alternativen atmete.
Dies dürfte auch einer der Gründe gewesen sein, warum die taz in ihren Gründungsjahren großzügig über die Verwendung eines ihrer tazze sehr ähnlich sehenden Logos hinweg sah.
Zudem dürfte zu vermuten sein, daß die damalige taz-Generation die Registrierung ihres Logos als Marke aus ideologischen Gründen abgelehnt hätte. Was sich Jahre später als Fehler herausstellte. Aus der kleinen Firma, die für eine Alternativszene funktionelle Jacken, Schuhe und Rucksäcke produzierte (und durchaus ähnliche Zielgruppen bediente, es gab Ende der achtziger Jahre sogar Kooperationen), war ein Schwergewicht in einem großen Markt für Funktionskleidung geworden. Es gehört ins Reich der Spekulation, ob sich Jack Wolfskin anders verhalten hätte, hätte der Firmengründer nicht verkauft, aber 1995, als man bereits der US-amerikanischen Firma Johnson Outdoors gehörte, strengte Jack Wolfskin eine Klage gegen die taz an, wegen widerrechtlicher Verwendung ihres seit 1982 geschützten Logos.

2002 verlor die taz den ersten Prozeß, verwendete daraufhin die tazze nur noch in Verbindung mit einem Schriftzug, was ihr nach einem Urteil im Jahre 2007 für alle Produkte, die Jack Wolfskins Kernsegment berühren könnten, ebenfalls untersagt wurde.
Da gehörte die Firma allerdings schon lange zum Operationsgebiet der Private-Equity-Gesellschaften. Moralische Skrupel dürfen wir dort also auch nicht mehr erwarten, wo es per definitionem ja ausschließlich um Gewinnmaximierung geht (wogegen ich nichts sagen will, es ist ein mögliches Geschäftsmodell, es kennt aber eben keine anderen Grenzen als juristische, Argumente, die auf Anstand oder moralische Integrität zielen, vollkommen wirkungslos macht).
Und so überrascht es nicht, daß seit einiger Zeit nun die Outdoor-Firma ihr Operationsgebiet in Sachen Durchsetzung ihres Markenanspruches erweitert hat. In endlosen Abmahnwellen wird inzwischen wohl alles abgemahnt, was Pfoten hat. Unabhängig davon, von welchen Tieren die stammen.
Wirklich Aufsehen erregte das alles aber erst, als tatsächlich Mitglieder einer Strick- und Häkelcommunity abgemahnt wurden. Die ganze Geschichte dazu hier.

Für mich persönlich ist Jack Wolfskin ja bereits seit der taz-Geschichte gestorben, weil ich eine Firma, die derart unkollegial, um es mal vorsichtig zu formulieren, vorgeht, nicht unterstützen möchte. Es bleibt abzuwarten, ob das Gebahren dieser Firma nun so viele vom weiteren Kauf abhält, daß man auf den sicher einträglichen Geschäftszweig der Abmahnungen verzichtet. Bisher deutet jedoch nichts darauf hin, wie Johnny Häusler auf Spreeblick noch einmal verdeutlicht.

Unabhängig von dieser ganzen Geschichte finde ich es aber höchst bedenklich, daß es möglich ist, eine nur minimal stilisierte Pfote derart als Marke zu schützen, daß jeder Abdruck jeder beliebigen Tierpfote illegal wird. Falls noch jemand praktische Beispiele zur Verdeutlichung der Problematik der DNA-Patentierung brauchte, hier hat er eins. Es bedarf nur wenig Phantasie, sich auszumalen, was passiert, wenn wir hier nicht nur über aufgenähte Katzenpfotenabdrücke reden.

Peinlich wird übrigens Verhalten wie das hier von Jack Wolfskin,die sich weigerten, Angaben über die Abreitsbedingungen in ihren Produktionsstätten zu machen (aber selbstverständlich nur hochwertig hergestellte Produkte verkaufen), geschilderte, wenn gleichzeitig so getan wird, als sei man geradezu eine moralische Anstalt, die nichts sehnlicher wünscht, als ihren Profit für den Fortschritt der Gesellschaft einzusetzen (dafür sind Private-Equity-Gesellschaften ja auch berühmt).

Und genau dazu kommentiert heute der Hausheilige:

Man verstehe nicht falsch. Die unbeabsichtigten kulturellen Wirkungen eines großen Handels wird niemand leugnen, aber es ist nicht wahr, daß der Kaufmann auch nur im Traum daran denkt, Kultur oder auch nur Zivilisation zu verbreiten. Verdienen will er – und widerlich ist nur, daß er’s nicht sagt.

aus: Kunst und Kaufmann. in: Werke und Briefe: 1913. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 9131 (vgl. Tucholsky-DT, S. 59) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Klett auf Abwegen?

Meine politische Sozialisierung habe ich im Milieu der LandesSchülervertretungen Mitte der neunziger Jahre erfahren. Bei Treffen auf Bundesebene habe ich dort für mich sehr bizarre Erfahrungen machen können. Um die Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen gab es da so putzige Ideen wie die quotierte Redeliste (die unabhängig von der tatsächlichen Zusammensetzung des Gremiums natürlich 1:1 quotiert war, was dazu führte, daß ich zwar erst zu Wort kam, wenn das Thema schon lange durch oder der Redebeitrag, auf den ich mich bezog, von allen vergessen war, die junge Dame aus NRW aber nahezu jeden zweiten Redebeitrag stellen durfte) oder, noch viel besser: Das Frauenplenum. In der Interpretation dort bedeutete dies, daß jederzeit die Frauen beschließen konnten, die Herren mögen doch bitte draußen warten, bis man sich geeinigt hat. Kurz: Allein aufgrund meines Geschlechtes war ich Diskussionspartner zweiter Klasse. Wie sexistisch hätten sie´s denn gern?
Auch sehr bizarr: Nach langer Reise im Westen ankommen und vom Oktoberklub begrüßt werden (lief da wirklich in der Stereoanlage).
Naja, lassen wir das.
Was ich sagen wollte: Ich bin seitdem äußerst skeptisch, was diverse praktische Ideen in Sachen Gendergerechtigkeit angeht. Gebranntes Kind…

Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung, daß das in meinen Augen unbedingt notwendige Aufbrechen klassischen Rollenverhaltens Unterstützung braucht. Sicher, die Gesellschaft ist dort schon ein deutliches Stück weiter gekommen, aber Traditionen sind hartnäckig. Wir werden aber in Zukunft mehr denn je jeden Kopf und jede Hand brauchen. Entscheidend müssen Talente und Fähigkeiten sein und nicht das Geschlecht. Wir können auf niemanden verzichten. Auf keinen Mann, der gut zeichnen kann und keine Frau, die Nägel grade in die Wand kloppt. Talente und Fähigkeiten sind bunt verteilt, es gilt sie zu fördern.
Dazu aber gehört, daß sich Jungen als Jungen fühlen dürfen, wenn sie lieber Malen als Bolzen und Mädchen dürfen Mädchen sein, auch wenn sie weißen Einhörnern und rosa Feen nichts abgewinnen können.
Hierfür jedoch brauchen sie Unterstützung. Denn die Auflösung der traditionellen Rollenbilder führt eben auch dazu, daß die Sicherheit, die sie bieten, verloren geht. Nicht zufällig gibt es seit Jahren eine Konjunktur für diverseste Psychotests, die es ermöglichen, sich einem “Typ” zuzuordnen, eine Definition für die eigene Rolle zu finden. Menschen sind immer auf der Suche nach Identifikationsmöglichkeiten, Kinder sind es erst Recht.
Neben verschiedensten Versuchen, neue Rollenbilder zu entwerfen, gibt es aber auch die gegenteilige Entwicklung. Nämlich eine Renaissance alter Rollenbilder, nicht selten gepaart mit dem Abkanzeln der bösen Achtundsechziger, die ja an allem Schuld sein (dieser Tenor beginnt ganz weit rechts außen und zieht sich weit bis tief in die Mitte – immer mit einem Jammern über ein behauptetes Meinungsdiktat der “Linken”, was man ja auch problemlos an den Auflagenzahlen so linksdogmatischer Blätter wie “Bild”, “Welt” oder “FAZ” ablesen kann ;)).
Und in diese Reihe stößt nun also auch der renommierte Klett-Verlag, der geneigten Leserschaft sicher spätestens durch seine Reihe “PONS” bekannt.
Dort erschienen jüngst zwei Textaufgabenhefte, getrennt für Mädchen und Jungen. Und mit allem, was das Klischee zu bieten hat. Rosarote Prinzessinen, fußballspielende Kerle und mal guten (bei den Mädels) oder aber bösen (bei den Jungs) Hexen. Zwei Debattenbeiträge, die diese Neuerscheinung ausgelöst hat, seien hier erwähnt: Einen furiosen Beitrag dazu hat @textzicke geschrieben, deutlich abwägender und auf den Inhalt eingehend findet sich ein Beitrag in der taz.

Nun liegt es mir fern, einem Privatunternehmen vorwerfen zu wollen, auf Trends zu reagieren und sich an die Kunden, wie sie nun mal sind, zu wenden und nicht so, wie wir sie manchmal gern hätten. Klett ist damit ja auch beileibe nicht der erste Verlag, solche Sachen gibt es, auch außerhalb des üblichen Filmlizenzengeschäfts, schon länger (zum Beispiel bei Fleurus, die eine Lernspielschultasche für Mädchen und für Jungen anbieten – allerdings, bei allem Respekt vor der verlegerischen Arbeit: Man sieht den Produkten an, daß sie für einen Massenmarkt produziert wurden.
Aber: Aus gesellschaftlicher Sicht halte ich es für bedenklich, wenn nun also selbst Verlage mit erklärtem pädagogischen Anspruch offenbar der Meinung sind, die kreative Leistung ihrer Autoren in Werke zu stecken, die eine solche Renaissance unterstützen.
Denn das bedeutet ganz klar: Wir kommen vom Wege ab.

Das Buch zum Sonntag (17)

Ich empfehle der geneigten Leserschaft für die morgen beginnenden Woche zur Lektüre:

Jana Hensel: Zonenkinder

“Zonenkinder” ist mein Paradebeispiel für Bedeutung durch Rezeption. Frau Hensel, geboren 1976 in Borna, hat sich mit diesem Buch einen festen Platz im Wendediskurs gesichert.
Es handelt sich bei “Zonenkinder” um kein besonders gutes Buch, es ist nicht diskursiv und es behandelt keine Konfliktlinien. Insgesamt literarisch vollkommen überschätzt.
Das Buch reiht sich ein in das fragwürdige Genre der Generationenbücher (ihr wißt schon: Golf, Umhängetasche, C64 usw.)

“Zonenkinder” sind hier all diejenigen, die in der DDR alt genug wurden, um zu bemerken, daß 1989/90 etwas geschieht, aber wiederum nicht nicht alt genug, um dies vollständig zu begreifen und mitzugestalten. Also in etwa die Jahrgänge 1973-1978.
Genau wie die Generationenbücher anderer Couleur, so arbeitet auch Frau Hensels Buch mit einem identitätsstiftenden “wir”. Dazu ein paar mehr oder weniger rührende Erinnerungen mit großem Wiedererkennungseffekt, unbedingt die passenden Stichworte erwähnen (Pittiplatsch, Pionierhalstuch, Plattenbauten…) et voilá.

Warum also empfehle ich dieses Buch trotzdem?

Es sind im Wesentlichen zwei Beweggründe.
Der erste ist bereits oben erwähnt: Bedeutung durch Rezeption. Seltsamerweise führte das Buch zu einem ausufernden Diskurs über die Eltern dieser zu früh erwachsen gewordenen Generation. In Leserbriefen und auf Veranstaltungen gab es immer wieder Angriffe auf die Autorin, weil sie angeblich die Elterngeneration als lebensfremde Idioten darstelle. Es gab umfangreiche Beiträge anderer in der DDR aufgewachsener Menschen, die sich gegen das “Wir” verwahrten, in dem sie andere Erinnerungen, andere Schlüsse entgegensetzten. Die ganze Debatte führte sogar zu einem Folgeband, indem einige Beiträge noch einmal publiziert wurden. Kurz: Das Buch steht stellvertretend für einen gesellschaftlichen Diskurs, der nicht zufällig 15 Jahre nach der Wende kulminierte (denn unabhängig davon, wie auch immer man diese Generation bezeichnet und charakterisiert – sie war da genau in dem Lebensabschnitt angekommen, in der eine Generation für gewöhnlich beginnt, sich konstruktiv in den Diskurs einzubringen). Wer sich also mit der letzten Jugendgeneration der DDR (die also immerhin heute Anfang/Mitte Dreißig sind, also zu den sogenannten “Leistungsträgern” gehören) beschäftigt, wer Denk- und Gefühlsstrukturen dieser Generation (und ihrer Eltern) kennenlernen möchte, wer wissen will, was der Zusammenbruch der DDR eigentlich im Alltag bedeutete, kommt an diesem Buch und der Debatte darum nicht vorbei.

Der zweite Beweggrund liegt im Buch selbst. Es ist nämlich keineswegs ein schlechtes Buch. Der Verzicht auf literarische Verarbeitung, die konsequente Beschreibung, die reine Beobachtung – da liegt die Stärke des Buches. Immer dann, wenn Jana Hensel auf Schlußfolgerungen verzichtet, auf Beweggründe nicht eingeht, immer dann, wenn sie beobachtet, dann ist sie stark.
Mal ein Beispiel:

Ich erinnere mich nicht, wann es plötzlich keine Samstage mehr gab, an denen wir in die Schule gehen mussten. […] …; sie verschwanden einfach, ohne ein Wort zu sagen. Die Dienstagnachmittage bald danach, denn ohne AG Popgymnastik, Junge Historiker, Schach oder Künstlerisches Gestalten waren sie sowieso ein bisschen funktionslos geworden. Mittwochs um 16 Uhr ging ich auch nicht mehr mit Halstuch und Käppi zum Pioniernachmittag, so wie die Großen nicht mehr zur FDJ-Versammlung gingen. Ich sah meine Patenbrigade nicht wieder, der Milchgeldkassierer war verschwunden, der Gruppenratsvorsitzende, sein Stellvertreter und die Pionierleiterin auch.
Über Nacht waren all unsere Termine verschwunden, obwohl doch unsere Kindheit fast nur aus Terminen bestanden hatte.

(S. 15f.)

Oder auch diese Stelle:

Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren. Vielleicht waren sie auch nicht mehr dieselben. Schalter hießen Terminals, Verpflegungsbeutel wurden zu Lunchpaketen, Zweigstellen zu Filialen, der Polylux zum Overheadprojektor und der Türöffner in der Straßenbahn zum Fahrgastwunsch.

(S. 22)

Da spricht die Verwirrung von jungen Menschen, die nicht jung genug sind, um begeistert alles Neue freudig entgegenzunehmen und das Alte zu vergessen, gleichzeitig aber nicht alt genug, um das Alte als bedrückend und das Neue als befreiend zu empfinden. Eine Generation, die zu jung ist, um sofort einen eigenen Weg gehen zu können und zu alt ist, um die dramatischen Auswirkungen, die die Wende für ihre Eltern hat, nicht zu bemerken.
Hier mal eine Stelle dazu:

Die Eltern-Kind-Beziehung hat sich für uns schon länger erledigt, und wir sehnen den tag herbei, an dem wir vollkommen unabhängig sein und Geld verdienen werden. Nicht nur, dass unsere Eltern daran den grad des Angekommenseins in der neuen Zeit, wie sie sagen, messen könnten, es schmerzt uns einfach auch, mit ansehen zu müssen, wie sie, die nur noch ein paar Jahre von der Pensionierung entfernt sind, wie Dreißigjährige gerade einmal so weit sind, das Geld für ihre monatlichen Ausgaben zu verdienen. Sie sind um mehr als zwanzig Jahre zurückgeworfen, und beobachten wir sie in ihrem Schlamassel, dann nervt uns das: Wie Hamster in Laufrädern, denen niemand sagt, dass man die Geschwindigkeit darin selbst bestimmen kann, und stattdessen voller Angst, das Rad könnte igrendwann zum Stehen kommen und es gäbe dann nichts mehr, was es wieder in Bewegung brächte, laufen sie immer weiter und weiter.”

(S. 79)

Wie gesagt: Das Allgemeingültigkeit heischende “wir” geht zu weit. Aber das Buch ist voller Beobachtungen und Erinnerungen, die durchaus einen Gutteil der angesprochenen Generation eint. Es eint sie zumindest die Erfahrung, quasi über Nacht erwachsen werden zu müssen (die Welt war wirklich aus den Fugen geraten oder wie erklärt ihr euch sonst die Anwesenheit eines zwölfjährigen Schülers im Personalrat?).
Übrigens: Die Melancholie, die einige LeserInnen des Buches entdeckt haben wollen, finde ich nicht. Dafür ist es viel zu wenig Literatur. Wenn es überhaupt einen Grundgefühlszustand gibt, denn der eines trotzigen Selbstbewußtseins. 😉

Zu guter Letzt noch der Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben