Das Buch zum Sonntag (64)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich dem geneigten Publikum zur Lektüre:

Heinrich Mann: Der Untertan

Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.

Ist das nicht ein großartiger erster Satz? Mit meinem Assoziationskopfkino bräuchte ich jetzt kein weiteres Wort verlieren. Da ich aber nicht davon ausgehen kann, daß die geneigte Leserschaft ebenso seltsame Synapsen hat wie ich (was auch nicht wünschenswert wäre, glaubt mir), schreibe ich doch noch etwas dazu.
“Der Untertan” gehört zu den wenigen Büchern meiner Lesebiographie, das ich erst nach dem Konsum der Verfilmung las (es gab in der DDR gewiß Dinge mit höheren Hindernissen, als diese mehr als gelungene Adaption zu sehen 😉 ). Das hat zwar den Nachteil, daß die im Kopf entstehenden Bilder überlagert werden (sich einen anderen Diederich Heßling vorzustellen, beispielsweise, ist dann äußerst schwierig), aber eben auch den durchaus zu bedenkenden Vorteil einer wesentlich intensiveren Erstlektüre, da der Plot ja bekannt ist, und sich so das Augenmerk sehr viel stärker auf die Facetten eines Romanes konzentrieren kann, die für Feuilleton und sonstige Bewerter schon immer den Unterschied zwischen Unterhaltungslektüre und Literatur von bleibendem Wert ausmachte.
Heinrich Manns große Stärke ist seine von einem klarsichtigen, geradezu sezierendem Scharfsinn geprägte Figurenzeichnung, die im “Untertan” zu kaum zu übertreffender Hochform aufläuft. Heßling, die Honoratioren der Kleinstadt, sein sozialdemokratischer Vorarbeiter – das sind nicht einfach nur Typen (die sie auch sind), das ist ein Einzelpersonen komprimiertes Gesellschaftsportrait.*
Heinrich Mann erzählt die Geschichte eines kleinstädtischen Fabrikantensohnes in der Zeit des letzten deutschen Kaiserreiches. Zur Illustration gleich mal noch eine Stelle vom Beginn des Romanes:

Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!
Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.
Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewußt: “Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.”

(S. 7)**

Diese Sehnsucht nach Aufmerksamkeit von höherer Stelle wird zu einem treibenden Motiv in Diederichs weiterem Leben. Autoritätsgläubigkeit, Katzbuckeln zu jedem über ihm stehenden und Gnadenlosigkeit allen unter ihm stehenden gegenüber, eiskalt jeden persönlichen Vorteil ausnutzend, Verantwortung für eigenes Handelns immer dann ablehnend, wenn es die eigene soziale Stellung bedrohen könnte. Das Gieren nach Anerkennung in jeglicher Form, das Protzen mit Ämtern und Orden, Ehre und Anstand lautstark einfordernd, sich selbst darum einen Kericht zu scheren – wer einen Spießer braucht, mir ist kein treffenderes Beispiel bekannt als Diederich Heßling. Eine literarische Figur, die geradezu körperliche Abwehrreaktionen hervorzurufen vermag. Gelänge es Heinrich Mann nicht gleichzeitig, anzudeuten, daß aus Diederich auch etwas anderes hätte werden können, der Lesende würde einfach abwinken und Roman samt Figur in eine Schublade stecken. So aber bleibt immer ein Rest, der zum Nachdenken anregt. Der vielleicht dazu führt, sich so manche Figur seines Umfeldes mal genauer anzuschauen. Und bei der nächsten Vereinssitzung (Förderverein, Sportverein, Kaninchenzüchter, Partei – was ihr wollt) aufhorchen läßt, wenn urplötzlich eine Schärfe in die Debatte kommt, sobald es gilt, sich abzugrenzen. Oder gar es Streit darüber gibt, wer zweiter Schriftführer werden darf. Die geneigte Leserschaft wird staunen, wie viele Diederichs da um ihr Fitzelchen Ruhm und Anerkennung betteln. Wie sich dem “Hurra”-rufend dem Kaiser hinterherhecheln und auf alles und jeden treten, der auch nur die geringste Abweichung vom Idealbild zeigt – und, vor allem, auf der sozialen Leiter tiefer steht.
Schaut euch an, wie die Diederichs von heute Wut schäumend die Kommentarspalten füllen mit ihrer Abscheu auf faule HartzIV-Empfänger und schmarotzende, “integrationsunwillige” Ausländer, im Vollbesitz ihrer moralischen Überlegenheit und stillschweigend über ihre eigenen Taten, die sie als läßliche Sünden betrachten, hinweg gehen.
Wer wirklich wissen will, was deutsche Leitkultur ist, für den gibt es keine Augen öffnendere Lektüre als dieses Buch. In schmerzlicher Konsequenz führt uns Heinrich Mann am Leben dieses bedauernswerten Kleingeistes vor, was es bedeutet, wenn Kleingeister bestimmen, was in einer Gesellschaft zählt. Und es ist in meinen Augen ein bemerkenswerter Umstand, daß Roman und Film in der DDR, dem Paradies der Diederichs, so lange so stark protegiert wurden.
Unsere heutige Zeit braucht diesen Roman dringender denn je. Es war Heinrich Manns klar sehender Blick, was passieren muß, wenn solche Denkungsart die Stütze einer Gesellschaft ist, der ihn dieses Werk schrieben ließ – und keine prophetische Gabe, wie in so mancher Kolportage zur Differenz zwischen Entstehungs- und Publikationsdatum anklingt.
Und in genau diesem Sinne ist Ulrike Meinhofs Diktum, das Private sei immer auch politisch, mehr als nur wahr. Sich selbst über andere zu erheben, egal aus welchen Gründen, ist nie einfach nur eine persönliche Charakterschwäche – es ist immer auch der Nährboden für gesellschaftliche Bewegungen, die genau darauf zielen. Daß ein Mensch besser sei als ein anderer und für ihn daher andere Regeln gelten.

Auch wenn ich dieses Mal sehr wenig über das Buch und viel mehr über dessen Auswirkungen auf mich geschrieben habe, hoffe ich doch, die geneigte Leserschaft von einer (Wieder-)Lektüre überzeugt zu haben. Vielleicht ja mit einer der

lieferbaren Ausgaben.

Heute einmal zum Abschluß noch der Hausheilige, dessen Begeisterung für diesen Roman die meinige vielleicht sogar noch übertrifft. In ganzer Länge kann die Rezension hier nachgelesen werden.

Dieses Buch Heinrich Manns, heute, gottseidank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Roheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolganbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit. Leider: es ist der deutsche Mann schlechthin gewesen; wer anders war, hatte nichts zu sagen, hieß Vaterlandsverräter und war kaiserlicherseits angewiesen, den Staub des Landes von den Pantoffeln zu schütteln.
Das erstaunlichste an dem Buch ist sicherlich die Vorbemerkung: »Der Roman wurde abgeschlossen Anfang Juli 1914.« Wenn ein Künstler dieses Ranges das schreibt, ist es wahr: bei jedem andern würde man an Mystifikation denken, so überraschend ist die Sehergabe, so haarscharf ist das Urteil, bestätigt von der Geschichte, bestätigt von dem, was die Untertanen als allein maßgebend betrachten: vom Erfolg. Und es muß immerhin bemerkt werden, daß die alten Machthaber – ach, wären sie alt! – dieses Buch von ihrem Standpunkt aus mit Recht verboten haben: denn es ist ein gefährliches Buch.

in: Werke und Briefe: 1919. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1239f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 63-64) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm


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* Etwas übrigens, das seinem sich stets nur in besten bürgerlichen Kreisen bewegenden Bruder nie gelungen ist. Wobei wohl außer Frage steht, daß dieser das auch nie gewollt hätte. Aber eben gerade diese patrizische Arroganz läßt mein Herz immer wieder den viel lebensnaheren, für seine Standesverhältnisse geradezu rebellischen Heinrich bevorzugen. Im Gegensatz zum Zauberer, dessen größeres Können anzuerkennen ich nicht vermeiden kann, habe ich bei Heinrich den Eindruck, daß dieser tatsächlich auch ein eigenes Leben hatte und nicht nur als Spinne im Netz die Leben seiner Umgebung aussaugte.
**zitiert nach: Mann, Heinrich: Der Untertan. in der Reihe Fischer Klassik erschienen bei Fischer Taschenbuch Frankfurt/Main. 2. Auflage 2009

Das Buch zum Sonntag (15)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Heinrich Mann: Professor Unrat

Auch hier erspare ich mir in meiner bildungsbürgerlichen Arroganz etwas über den Autor zu sagen und komme gleich zum Buch. 😉
Der Roman erschien 1905 und war ein großer Erfolg. Was die Publikumswirksamkeit angeht, wohl sein größter überhaupt und bescherte dem Feuilleton das ergiebige Thema zweier ungleicher Brüder (und ein Ende der Ergiebigkeit ist nicht abzusehen).

Betrachtet man ein wenig Zeit und Umstände, so ist der Erfolg nachvollziehbar. Es war stets Heinrich Manns großes Talent, die eigene Zeit treffend zu beschreiben.
Erzählt wird die Geschichte des tyrannischen Gymnasiallehrers Raat, der sich seinen Spitznamen “Unrat” redlich verdient hatte.
Doch wie jeden Tyrannen grämt es ihn, wenn man sich über ihn lustig macht und so tobt an jedem Schultag ein Kampf gegen sich widersetzende Untertanen, die “Nebendinge” treiben oder ihm “seinen Namen geben”. Das auslösende Moment des Romans ist jedoch ein Schüler, Lohmann, der sich schlicht weigert, die ganze Angelegenheit überhaupt Ernst zu nehmen, ja nicht einmal Raat, wie alle anderen “Unrat” nennt. Und das ist nun das allerschlimmste. Die herrschende Ordnung anzufeinden, sie zu bekämpfen – das ist freilich schon verwerflich.
Aber sich ironisch lächelnd über sie zu erheben und sie schlicht nicht anzuerkennen, das ist etwas, was ein Herrscher unmöglich hinnehmen kann.
Und so sinnt Raat auf Rache, auf Vernichtung. Diese scheint sich ihm zu bieten, als er in Lohmanns Aufsatzheft Verse auf eine gewisse Rosa Fröhlich findet, die ganz offenbar Künstlerin zu sein scheint. Dieser Verbindung will er auf den Grund gehen. Noch mehr zum Verlauf der Geschichte zu sagen, bedürfte einer Spoilerwarnung und ich möchte ja den wenigen, die das Buch oder seinen Inhalt noch nicht kennen, ja das Vergnügen nicht nehmen, den Handlungsstrang selbst zu entdecken.

Was diesen Roman auch heute noch lesenwert macht, ist Heinrich Manns hohe Kunst zum Psychogramm. Hier wie auch in vielen anderen Werken, zeichnet er Typen, zeichnet er Menschen mit einer derartigen Präzision, daß man sie unweigerlich vor sich stehen hat und nicht selten auch im Geiste sich Gesichter von Menschen aus dem eigenen Leben über die beschriebenen Personen legen.
Übrigens ist genau dies auch der Grund, weshalb es Heinrich Mann nicht leicht gemacht wird, gloria aeterna als eigener Künstler und eben nicht nur als der kurioserweise ebenfalls schriftstellernde ältere Bruder des Nobelpreisträgers zu erringen. Nicht selten sind seine Werke tatsächlich zeitgebunden und machen es späteren Generationen nicht leicht, sie zu verstehen.

Was aber für “Professor Unrat” nicht zutrifft. Die Grabenkämpfe im Schulzimmer werden vielen, leider, sofort vertraut vorkommen, auch die unterschiedlichen Typen der Schüler, die jeweils anders auf den Tyrannen reagieren, behalten ihre Gültigkeit weit über den engen Rahmen der Schulzeit hinaus. Und Raat schließlich, der von Mann hinreißend karikiert und vorgeführt führt, der über die implizierte Kritik an der Untertanenschule Preußens hinaus (unter der etliche Kreative seiner Generation litten, die entsprechenden Berichte füllen Bände), der all das personifiziert, was Heinrich Mann zeit seines Lebens am Bürgertum verachtete, all die Scheinheiligkeit, das Bigotte, die Untertanenmentalität, die Selbstverliebtheit – alles wird ans Licht gezogen, geprüft, für zu leicht befunden und verspottet.

Ich möchte heute nur eine Stelle zitieren, die zwar wenig mit der Handlung und ihren einzelnen Personen zu tun hat, die ich jedoch (leider) immer noch viel zu oft gültig finde:

Mit der “Jungfrau von Orleans” beschäftigte die Klasse sich seit Ostern, seit dreiviertel jahren. Den Sitzengebliebenen war sie sogar schon aus dem Vorjahr geläufig. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet. Man unterschied in der verstimmten Leier, die täglich wieder einsetzte, keine Melodie mehr. Niemand vernahm die eigen weiße Mädchenstimme, in der geisterhafte, strenge Schwerter sich erheben, der Panzer kein Herz mehr deckt und Engelflügel, weit ausgebreitet, licht und grausam dastehn. Wer von diesen jungen Leuten später einmal unter der fast schwülen Unschuld jener Hirtin gezittert hätte, wer den Triumph der Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit, die, vom Himmel verlassen, zu einem armen, hilflos verliebten kleinen Mädel wird, je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben. Zwanzig Jahre vielleicht wird er brauchen, bis Johanna ihm wieder etwas anderes sein kann als eine staubige Pedantin.

(S. 13*)

Gesegnet, wer sich nun nicht an den eigenen Deutschunterricht erinnert fühlt.

Zum Abschluß noch der Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben

P.S.: Der Film ist ohne Zweifel sehenswert, setzt jedoch ganz andere Schwerpunkte und darf bestenfalls als “am Roman orientiert” eingestuft werden, ersetzt also die Lektüre nicht. 😉

*zitiert nach: Mann, Heinrich: Professor Unrat (limitierte Sonderausgabe). Fischer Taschenbuch. Frankfurt 2007