Das Buch zum Sonntag (41)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus

Auf Jakob Hein stieß ich durch sein Debut “Mein erstes T-Shirt”, eine Sammlung köstlicher Erzählungen, gespeist aus Kinheits- und Jugenderlebnissen eines Heranwachsenden in der DDR.
In “Herr Jensen” steckt allerdings sehr viel mehr. Diese Erzählung (auf dem Buchdeckel steht “Roman”, aber ich weigere mich, die inflationäre Verwendung dieses Genrebegriffes noch länger mitzumachen, da es sich hier lediglich um die sich selbst erfüllende Prophezeiung der Behauptung handelt, Erzählungen würden sich in Deutschland nunmal nicht verkaufen) habe ich unter anderem als entlarvendes Kabinettstück auf unser persönliches wie gesellschaftliches Selbstverständnis gelesen. Dieses nämlich wird beispielsweise massiv davon geprägt, welcher beruflichen Tätigkeit wir nachgehen.

Herrn Jensen war es schon früher nie gelungen, auf Feiern Gespräche anzufangen, und die wenigen Versuche anderer Gäste, mit ihm Kontakt aufzunehmen, endeten jedesmal binnen kurzem in einer Sackgasse. Denn nie dauerte es lange, bis die Frage gestellt wurde, was er denn tun würde, und Herr Jensen wahrheitsgemäß mit “nicht” antwortete. Danach war jedes Gespräch im Keim erstickt, und über nichts konnte man sich schlecht unterhalten. Jeder trank verlegen ein paar Schlucke, als ob das ein Ersatz für ein weiteres Gespräch wäre, um dann möglichst beiläufig auseinanderzugehen.
[…]Warum fragte niemand, was man gern aß oder welche Musik man hörte? Warum fragte ihn niemand nach seiner Art zu duschen? Herr Jensen hatte nämlich in jahrelangen Versuchsreihen die perfekte Duschtemperatur herausgefunden und die exakte Menge Haarwaschmittel, die er benötigte. Warum wollte keiner wissen, ob man besser auf der Seite, auf dem Rücken oder gar auf dem Bauch einschlief? Warum waren alle so einfallslos zu fragen, was man machte?

(S. 38f.)

Herr Jensen hat, zunächst als Job neben dem Studium, nach dessen abruptem Ende ohne selbiges Briefe ausgetragen. Diesen Job verliert er und in der Folge gerät sein bis dahin klar geordnetes, alles in allem unspektakuläres Leben aus den Fugen. In kleinen Schritten, jeder für sich durchaus logisch und konsequent, verschwindet Herr Jensen aus dem gesellschaftlichen Leben. Herr Jensen ist kein kreativer Denker, der sich bei Frage, was die Welt im Innersten zusammmenhält, in neue Sphären aufschwingt, aber er verfolgt seine Pläne mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit und einer stringenten Konsequenz, die ihn in den Augen seiner Umwelt schnell zumindest absonderlich, wenn nicht sogar verrückt erscheinen läßt.
Dem Lesenden allerdings erscheint niemand normaler als Herr Jensen, es scheint eher die Welt da draußen verrückt und daher nur sinnvoll, sich aus eben dieser zurückzuziehen.
Ich möchte das mal an zwei Beispielen illustrieren, die, wie ich finde, diese Absurdität dessen, was wir “normal” finden, recht gut aufzeigen:

Irgendeinen Grund für seine Kündigung mußte es geben.
“Nicht doch, Jensen. Es hat keine Beschwerde gegeben, und es hat auch keinen Anlaß zur Beschwerde gegeben. Sie besitzen alles, was wir in einem Mitarbeiter such, Sie sind qualifiziert, routiniert und nicht überambitioniert. Es tut mir – und ich glaube, ich kann da für die ganze Abteilung sprechen – es tut uns allen leid, daß Sie gehen müssen.” – “Aber wenn es sich so verhält, warum muß ich dann gehen?” – “Ich habe es Ihnen doch schon erklärt”, seufzte Herr Boehm. “Wir müssen Ihnen leider im Rahmen unseres neuen Programms zur Verhinderung betriebsbedingter Kündigungen kündigen.” – “Ich arbeite hier seit fünfzehn Jahren, seit fast zehn Jahren in Vollzeit. Ich bin länger hier als Sie, Herr Boehm”, sagte Herr Jensen entrüstet. – “Ja, das ist ja richtig.” Herr Boehm rutschte auf seinem Stuhl herum und fuhr mit dem rechten Zeigefinger hinter den Kragen seines taubenblauen Hemdes. “Aber Sie waren nie ein richtiger Mitarbeiter. Sie haben als Student angefangen und wurden dann von uns auf eine freie Stelle gesetzt. Sie wurden aber nie von uns ausgebildet, deswegen zählen sie nicht als regulärer Mitarbeiter, und darum trifft der Sozialplan nicht auf Sie zu.” – “Und wer soll dann meine Arbeit machen?” fragte Herr Jensen. – “Ein anderer Student. […]”

(S. 24)*

Die Szenen im Arbeitsamt sind wunderbare Miniaturen, die ich hier auseinander reißen müßte, um sie zitieren zu können, was sie wiederum zerstören würde, weshalb ich auf das zweite Beispiel verzichte und lieber einen anderen Aspekt anbringe. Eines Tages entdeckt Herr Jensen nämlich im Rahmen eines großangelegten Projektes, welche moralischen Normen heute gelten.

Das Ganze war keine zufällige Laune. Alles gehörte zusammen. Die dicken Frauen in Unterwäsche und die unbeholfenen Tanzversuche nuschelnder Jugendlicher. Es ging um moralische Normen. Doch während man diese früher in Kursen erlernen und in Benimmbüchern nachschlagen konnte, wurden sie nun auf diese vollkommen andere Art vermittelt. Früher war einem gesagt worden, wie man zu leben hatte. In den Sendungen, die Herr Jensen in den letzten Monaten studiert und analysiert hatte, konnte man statt dessen sehen, wie man nicht mehr leben durfte. Darum war es auch möglich, daß dieselben Menschen immer andere extreme Standpunkte vertraten. Sie dienten nur als Mensch gewordene schlechte Beispiele. Und dabei war es gleichgültig, ob sie bezahlte Schauspieler, spielende Laien oder einfach nur gestörte Menschen waren. Die scheinbar abwegigsten Diskussionen mit Sodomisten und Päderasten zeigten, wo die Grenze verlief, markierten, bis wohin man gehen durfte. Jeder, der diese Grenzen nicht überschritt, konnte davon ausgehen, sich der Norm entsprechend zu verhalten.
Das hatte herr Jensen herausgefunden. Und er schrieb auf einen Zettel, was demzufolge normal sein sollte:
Man sollte arbeiten gehen.
Man sollte eine Frau oder zumindest häufig Sex haben.
Man sollte viele Freunde haben.
Man sollte die aktuelle Mode kennen.
Man sollte Ahnung von Musik haben.
man sollte fröhlich sein.
Man sollte Geld haben.
Man sollte schön sein.
Man sollte etwas mit sich anfangen.
Man sollte Träume haben.
Herr Jensen mußte feststellen, daß er nicht normal war.

(S. 77f.)

Und geneigter Leser, geneigte Leserin, sind Sie normal?
Nicht selten überhöht man als Lesender ja eine Lektüre, nur weil man dort bestimmten Gedanken zum ersten Mal begegnet oder eigene Ideen ausformuliert findet. Es mag also sein, daß die geneigte Leserschaft weniger aus diesem Buch herauszuziehen vermag als ich. Auf jeden Fall aber sind es 125 Seiten Lesegenuß, denn Jakob Hein kann einfach schreiben – und Herr Jensen ist eine wunderbare Figur, weil nie ganz klar ist, ob eigentlich er absurd handelt oder einfach nur die Welt absurd ist.

Zum Abschluß noch der gewohnte Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben.

Ich habe zitiert nach: Hein, Jakob: Herr Jensen steigt aus. Sonderausgabe. Piper Verlag, München 2009.
*Ich lasse die geneigte Leserschaft mit dieser offenen Frage mal allein. Denn dieses Buch ist ein zu Lesendes. 😉