Humilitas

Als nichtreligiöser Mensch lese ich religiöse Schriften etwas anders als dies religiöse Menschen vielleicht tun. Sie sind aber durchaus lesenswert, denn man bedenke: Da haben sich Menschen die Mühe gemacht, ein Bücher zusammenzustellen, die auf alle nur erdenklichen Fragen des Lebens eine Antwort bereitzuhalten versprechen. Und das mit durchaus bemerkenswerten Ergebnissen:

5 Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!
8 So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen

*

Die Geschichte vom Turmbau zu Babel gehört zu den bekannteren Topoi der abendländischen Geistesgeschichte. Sie ist auch ihres religiösen Gewandes entkleidet höchst lehrreich. Die Lehre, die ich daraus ziehe, ist die der Demut menschlichen Strebens im Angesicht unserer bescheidenen Fähigkeiten, dieses in Einklang mit den Erfordernissen der Vernunft zu bringen. Viel zu sehr streben wir nach mehr, noch mehr und noch viel mehr, aus purem Eigennutz.** Oder anders ausgedrückt: Es scheint uns schwer zu fallen, auf etwas zu verzichten, einen Schritt nicht zu gehen, der uns scheinbar weiter bringt. Denn entscheidend ist nicht das Vorankommen, sondern die Richtung, in die man geht.
In seinem etwas anstrengenden Beitrag zu den physikalischen Grundlagen der Atomkraft weist Harald Lesch auf einen entscheidenden Punkt hin: Wir hantieren mit der vielleicht stärksten Kraft des Universums, wenn wir mit Kernspaltung herumexperimentieren. Und geben uns der Illusion hin, diese kontrollieren zu können. Hybris galore.
Aufmerksame Geschichtsstudenten erfahren in ihren Seminaren zum Umgang mit normativen Schriftquellen, daß bei einer hohen Anzahl von Vorschriften zu einem bestimmten Sachverhalt ein permanentes Fehlverhalten in diesem Bereich anzunehmen ist. Eltern kennen ähnliches in Erziehungsfragen: Die Regeln, auf denen man am häufigsten insistiert, sind genau jene, welche ständig gebrochen gebrochen werden. Die Bibel ist voller Geschichten, die sich um die Anmaßung der Menschen drehen, sich selbst Gott gleich zu stellen, insbesondere, indem sie seine Anweisungen ignorieren. Ihre Uneinsichtigkeit ist wiederkehrendes Motiv. Immer wieder wird gewarnt und immer wieder wird gestraft. Bis zur Vernichtung, die aber auch nichts zu helfen scheint.*** Wenn wir also schon “christlich-jüdisches Erbe” spielen wollen, dann wäre es vielleicht ganz sinnvoll, dessen Grundlage noch einmal zur Hand zu nehmen. Die Überlegung, daß es Dinge gibt, an denen man nicht rühren sollte, weil sie sich aufgrund ihrer Komplexität, ihrer nicht absehbaren Auswirkungen, ihrer Langfristigkeit einfach nicht dazu eignen, wird mir viel zu wenig angestellt. Nur, weil etwas möglich ist und weil es uns vielleicht einen momentanen Vorteil bringt, muß es nicht gut sein. Das kann natürlich bedeuten, daß wir auf einiges verzichten müssten. Das kann bedeuten, daß wir uns vom ewigen Fortschritt verabschieden müssen, daß wir nicht noch die 162. Weiterentwicklung der Telekommunikation erleben, daß wir nicht 24h-Klimaanlagen betreiben können, dementsprechend in bestimmten Gegenden nicht siedeln können, daß es Mißernten durch Schädlinge und Wetterveränderungen geben wird, daß wir vielleicht auch nicht den Krebs besiegen werden, daß behinderte Kinder zur Welt kommen, obwohl wir dies ausschließen könnten. Doch es könnte sein, daß dies trotzdem der klügere, der weisere Weg ist.
Das, was diese Spezies in der Atomdebatte abliefert, macht auf mich den Eindruck, als diskutierten wir darüber, ob beim Turmbau zu Babel vielleicht einfach nur ein paar Gerüste zu wenig standen. Der Wahnsinn ist aber der Turmbau selbst. Und ebensowenig wie dieser vor der unbeherrschbaren Macht Gottes zu beschützen war, werden wir scheitern, wo wir uns mit Kräften anlegen, die über uns hinaus genauen. Ganz egal, ob es sich da um Genmutationen oder Bindungsenergie handelt. Mag sein, daß es nicht vorteilhaft wäre, auf manchen scheinbaren Fortschritt zu verzichten. Klüger könnte es aber trotzdem sein.


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*Gen. 11, 5-8 zitiert nach: Die Bibel (Luther 1984)
**Kant schreibt hierzu: Das Bewußtsein und Gefühl der Geringfähigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz ist die Demut (humilitas moralis). in: Kant: Die Metaphysik der Sitten. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 27286 (vgl. Kant-W Bd. 8, S. 569-570)
***Und jede Warnung, jede Drohung, die vom Himmel kam/wurde überhört, von den Schafen des Herrn/Und jeden Tag versagen wir ein weiteres Mal. singen die Toten Hosen in “Die zehn Gebote“.

Hybris.

Ursprünglich wollte ich an dieser Stelle über die im Netz wabernde Hybris, die Blogosphäre sei sowohl am Rücktritt Köhlers als auch an der Nichtnominierung Frau von der Leyens maßgeblich beteiligt gewesen, schreiben.
Dabei wollte ich unter anderem darauf verweisen, daß Frau von der Leyen im Wesentlichen von männerbündischen Konservativen in der Union verhindert wurde, was im Übrigen zum Nachdenken anregen sollte, und das Zensursula-Argument nur eine willkommene Ausrede für die verzweifelt um ein Restprofil kämpfende FDP war. Im Weiteren sollte eine Ausführung folgen, die darauf hinweist, daß die Meinung der Netzaffinen bei innerparteilichen Machtspielen derart irrelevant ist, daß ich wirklich nicht begreife, wie man auch nur annähernd auf die Idee kommen könnte, daran beteiligt zu sein.
In einer grandiosen Rundschau wollte ich anschließend ausführen, wie klar erkennbar Köhlers Rücktritt mit mangelndem Rückhalt in der Politik zusammen hing (und eben nicht mit der Debatte um seine Afghanistan-Äußerung, als ob Köhler noch keine Kontroversen ausgehalten hätte…) und wie offensichtlich ein Christian Wulff aus durchsichtigen, kurzfristigen, geradezu peinlich kleingeistigen taktischen Motiven heraus nominiert wurde, um dann mit einem Seitenhieb auf die Linke, die mit ihrer idiotischen Begründung, Gauck sei ein Mann der Vergangenheit und nicht der Zukunft (wahrscheinlich im Gegensatz zu Peter Sodann) ihrer Konkurrenz hervorragende Munition für die nächsten Wahlkämpfe lieferte, in einer brillanten Philippika die Tigerenten zu geißeln, die nur mit Mühe werden erklären können, warum sie Gauck nicht wählten.
So in etwa sollte das laufen. Beim Abarbeiten meiner Linkliste zum Thema blieb ich allerdings schon sehr zeitig stecken und stellte fest, daß wiedermal schon alles gesagt war. Zumindest zur Ausgangsfrage. Von der denn auch nicht viel übrig blieb. 😉
Ich bitte also die geneigte Leserschaft einfach mal hier entlang.
Wobei eine Anmerkung noch: Ich will damit nicht gesagt haben, daß es klug ist, wie die Politik mit der Netzöffentlichkeit umgeht. Ganz im Gegenteil, in dieser Ignoranz offenbart sich eine Hybris, die wohl auf Dauer unklug ist. Auf Dauer wird sich das sicherlich ändern, nur derzeit ist es so: Im Getriebe der Politik spielt das Netz überhaupt keine Rolle. Und die Wahl Wulffs statt von der Leyens steht eben genau dafür. Grund zum Jubeln ist das nicht.

UPDATE
06.06.10: Sehr gut auch dieser Beitrag hier.

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Paprika im März

Ich hatte soeben ein bemerkenswertes Erlebnis im Discounter meiner Wahl. Die junge Dame, die vor mir bezahlte, tat ihr Entsetzen darüber Kund, daß Gemüse derzeit ja unglaublich teuer sei, der Paprika zum Beispiel – und dann sehe der noch nicht einmal gut aus. Im Winter sei das ja verständlich, aber nun werde es doch Frühling.
Mein spontaner Impuls war, ihr zuzurufen: “Es ist Anfang März und Du kannst jegliche Obst- und Gemüsesorte kaufen. Geht´s noch?”, unterließ das dann aber, hatte ich doch das Haus überhaupt nur widerwillig verlassen und fehlte mir wahrlich der Antrieb zu einer vermutlich aussichtslosen Debatte.
Allerdings habe ich mich schon lange nicht mehr so alt gefühlt, ich hatte wirklich den Eindruck, irgendwie einer anderen Generation anzugehören, weil es mir nicht selbstverständlich erschien, am 2. März abends um halb acht Paprika kaufen zu können, geschweige denn zu erwarten, um diese Uhrzeit noch eine große Auswahl an frischen, makellosen Exemplaren zum Schnäppchenpreis vorzufinden.
Ich meine, ja, es ist selbstverständlich möglich, aber haben wir wirklich vergessen, welchen Aufwand wir betreiben, damit das überhaupt geht? Haben wir wirklich vergessen, daß das keine Selbstverständlichkeit ist?

Wir befinden uns in der Fastenzeit – und die liegt nicht zufällig in der Zeit des ausgehenden Winters. Es ist nämlich die Zeit, in der die Vorräte zur Neige gehen, mit denen der Winter bestritten werden muß, gleichzeitig aber noch keine Möglichkeit besteht, irgendwas zu ernten, pflücken oder zu sammeln. Weil nämlich noch nichts wächst.
Jedenfalls war das so vor der Erfindung des logistischen Mammutprojekts, das hinter der täglich frischen Belieferung unserer Kaufhallen steckt. Und die Frage darf erlaubt sein, ob das nicht überhaupt Wahnsinn ist.

Wir leben hier in einer Welt, die glaubt, sich von den natürlichen Umweltbedingungen unabhängig gemacht zu haben. Was noch nicht einmal völlig falsch ist, wir begehen nur scheinbar allmählich den Fehler, sie zu ignorieren. Diese Hybris war hier ja schon einmal Thema. Die Vielfalt im Lebensmittelregal scheint zu suggerieren, daß dies zwangsläufig und immer so sein müsse – ganz egal, welche Jahreszeit herrscht, ob es regnet oder schneit, die Erde bebt oder ein Orkan durchzieht. Nein, dem ist nicht so. Ganz im Gegenteil, es handelt sich hier um ein komplexes System, dessen Teile alle reibungslos funktionieren müssen, damit dem so ist. Auch wenn wir schon recht weit sind, was das Austricksen angeht.
Es ist gar nicht so lange her, daß das täglich Brot für jeden ein anzustrebendes Ziel unserer Gesellschaft war – heute schimpfen wir über die Paprikapreise im Winter!

Die Fastenzeit hat ihre ursprüngliche Funktion als religiöse Überhöhung eines natürlichen Mangelzustandes verloren – was auch ihre geringe Popularität erklären könnte, der Mensch verzichtet nicht gern, wenn er nicht muß. Aber es scheint mir doch angebracht, einmal inne zu halten und zu überlegen, was wirklich notwendig ist – und was wir wirklich brauchen. Werden wir verhungern, wenn wir eingelagerte Kartoffeln und Äpfel essen, statt sie aus Ägypten und Italien heranzuschaffen? Wird unsere Produktivität sinken, wenn die Erdbeeren nicht frisch eingeflogen werden, sondern für ein paar Wochen aus dem Einweckglas stammen? Was ist das überhaupt für eine Welt, in der es billiger ist, Kartoffeln um die halbe Welt zu schicken, als sie vom Erzeuger dreißig Kilometer entfernt zu holen? Ticken wir noch richtig?

Ja, ich finde es höchst angenehm, jederzeit nahezu jedes Nahrungsmittel meiner Wahl ohne größeren Aufwand kaufen zu können. Und ja, ich würde darauf höchst ungern verzichten wollen. Aber, verdammt nochmal, das ist Luxus. Und wenn dann die Paprika fünfzig Cent mehr kosten, obwohl doch in wenigen Wochen Frühling ist, dann sollte das eher ein Moment sein, sich in Erinnerung zu rufen, welch irrsinnigen Aufwand wir für diese fünfzig Cent betreiben.

Meine Großeltern sind noch im zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Ich weiß, daß sie froh sind, daß das täglich Brot heute eine Selbstverständlichkeit ist. Wir sollten endlich beginnen, von der Lebenserfahrung früherer Generationen zu lernen, um zu begreifen, welchen Luxus es bedeutet, sich am 2. März vor einer unterbezahlten Kassiererin aufbauen und über die Paprikapreise schimpfen zu können – aus den täglichen Nachrichten scheinen wir es ja nicht zu begreifen. Und so verständlich es ist, dem Fernsehen nicht zu glauben, wenigstens den eigenen Vorfahren sollten wir Glauben schenken. Oder ihnen wenigstens mal zuhören.

Oder dem Hausheiligen:

Der Mann für Ruhe und Ordnung fragt entrüstet, warum denn diese Leute so viele Kinder hätten. Diese Kinder des niedersten Proletariats verdanken ihre Existenz, so brutal das klingt, der Wohnungs- und der Bettennot, dem Mangel an Heizmaterial und der Unbeholfenheit der Frauen, sich gegen den Kindersegen zu wehren (was ein überholtes Strafgesetz heute noch verbietet). Diese Kinder leben, weil . . .
Es gibt ein bitteres Wort einer alten Zeitungsverkäuferin, die auf die Frage, warum sie denn in ihrer Armut noch zehn Kinder in die Welt gesetzt habe, geantwortet hat: »Die reichen Leute jehen abends ins Theater . . . «
Da leben Kinder. Wir haben Kinder gesehen, Mädchen von sechs und sieben Jahren, die waren 90 Zentimeter hoch, und andere, die den ganzen Tag nicht auf die Straße gehen konnten, weil sie mit Ausnahme eines kleinen Kittels ganz nackt waren. Der Ernährungszustand ist durchweg trostlos: die Kinder leben von Brot und Margarine und Kohl. Ein Mädchen schlief zwei Meter von einer Kellertür entfernt neben Lumpen auf dem Steinfußboden. Die Tür schloß nicht, sie ließ einen handbreiten Spalt frei. Daß ein Kind in dieser Proletarierwelt im Bett allein schläft, kommt kaum vor. »Die sittliche Verderbnis der unteren Stände« – man sollte jedem Pastor, der so etwas in den Mund nimmt, die Bibel um die Ohren hauen.
Mag er hingehen und sehen: die Wohnungen, in die kein kaiserliches Marstallpferd hereingegangen wäre, diese muffigen, schwarzdunklen Kellerlöcher mit ein paar alten Bettstellen darin, wo Kinder schlafen, sollte er sehen!
Und das Allerschlimmste an diesen Dingen ist: daß es sich hier nicht nur um Arbeitslose handelt, sondern um Familien, deren Erwerber eine kleine Stellung haben und verdienen. Und es nützt ihnen gar nichts.
Wer früher in die Fabrik ging, zählte kaum zum Lumpenproletariat.
Und heute?

*

Und heute?

*aus: Kinderhölle in Berlin. in: Werke und Briefe: 1920. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 9418f. (vgl. Tucholsky-DT, S. 244-245) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

P.S. Für den Gegenwert der Schuhe, die die junge Dame, deren Kaufentscheidung dann auf Partytomaten fiel, anhatte, hätte sie problemlos sämtliche Paprikavorräte des Ladens kaufen können.