Die Woken wollen uns Winnetou wegnehmen

Karl May (1907), Bild von Erwin Raupp, Public domain, via Wikimedia Commons

Da sich der Gefechtsrauch etwas verzogen hat, soll heute mal ein Blick zurück auf die große deutsche Debatte des vorigen Jahres geworfen werden: Die Woken wollen uns Winnetou wegnehmen!

Die Dynamik dieses Diskurses bietet Stoff für reichlich Qualifizierungsschriften in diversen Wissenschaftsdisziplinen, soll hier aber nicht weiter erörtert werden. Vielmehr habe ich das zum Anlass genommen, mal zu schauen was der Hausheilige dieses Blogs – der ja immerhin einer der ersten Jugendgenerationen angehörte, für die Karl May Bestandteil der Sozialisation war – zum ollen Flunkersachsen zu sagen hatte.

Es gibt nicht viele Belegstellen, häufig ist er nur passim erwähnt. Aber ich habe zwei Stellen gefunden, die mir auch heute so einiges erklären.

In der Rezension zu Leo Perutz’ “Der Marques de Bolibar” beschreibt Tucholsky 1920 ein jugendliches Leseerlebnis, das mir sehr vertraut vorkommt, wenn auch in Details abweichend:

Dagegen kommt dann ja nichts mehr auf: Nach Abschreibung der komplizierten Mathematikaufgabe zu morgen lagen wir auf dem Bauch in der schattigsten Ecke des Zimmers, um uns auch ganz sicher die Augen zu verderben, fraßen von einem Teller, der gleichfalls auf der Erde stand, Mandeln, und während wir sie langsam zerkrachten, lasen wir “Die Skalpjäger”.

Dieses Buch heißt bei Jedem anders – aber jeder richtige Junge hat so etwas einmal gelesen. Das muß so sein. Manche lasen Karl May – ich habe es wegen Langweiligkeit nie fertig bekommen -, manche schmökerten Ebers, und manche – o schöne Zeit! – den “Guten Kamerad”. Es war eine dolle Sache: weiter jagte die Geschichte, weiter, weiter, weiter – und Landschaftsschilderungen wurden grundsätzlich überschlagen. Kommt der Reiter durch oder kommt er nicht durch? Alles Andre war gleich.

Diese Sensationen kehren nie wieder.

aus: “Der Marques de Bolibar” in: Die Weltbühne, Jg. 16, Heft 46, 11.11.1920

Ob ein solches Lektüreerlebnis nun wirklich konstituierend für einen “richtigen Jungen” ist, sei mal dahingestellt. Wiedergefunden habe ich mich in der Beschreibung jedenfalls sehr – auch wenn ich tatsächlich zu den juvenilen Karl-May-Lesern gehöre (ich habe aber Liselotte Welskopf-Henrich und Jack London genauso atemlos gelesen). Mir scheint hier ein Erklärungsansatz zu liegen: Dieses mitfiebernde, intensive, plotorientierte Lesen ist eine so tiefe Erfahrung und wird zudem im Laufe der Lebensjahre immer weiter verklärt. Da entsteht ein Identitätskernstück. Dementsprechend werden die Abwehrhandlungen schnell massiv und irrational (wir kennen das aus den Kolonialismus-Debatten um Pippi Langstrumpf oder den Ergebnissen der historisch-kritischen Harry-Potter-Lektüre).

Das ist das eine. Das andere ist: Im Rahmen der eigenen Lektüreverklärung wird dann auch noch der Autor verklärt. Ich habe in meinen Dreißigern nochmal versucht, May zu lesen – das war extrem ernüchternd, mir ist schleierhaft, wie ich das verschlingen konnte, es ist so entsetzlich langweilig. Daraufhin beschloss ich, meine jugendliche Begeisterung als solche in Erinnerung zu behalten.

Diesen Weg gehen aber durchaus nicht alle und auch schon vor 100 Jahren gingen ihn nicht alle:

Es gibt Leute, denen dieser Karl May – mir ist der Bursche immer als Ausbund der Fadheit vorgekommen – lieb und teuer ist. Aber sie sagens nicht. Sie malen ihm eine Glorie an: ihr meint, das sei einfach ein Unterhaltungsschriftsteller für die reifere Jugend gewesen? Gott bewahre, ein Philosoph war das, ein Mann mit den allegorischsten Hintergedanken, ein schwerer, vollbärtiger, sächsischer Denker, weiland zu Radebeul, jetzt in der Unsterblichkeit.

aus: Nette Bücher. in: Die Weltbühne, Jg. 14, Heft 35, 29.8.1918

Das klingt dann doch schon sehr ähnlich den Statements von Karl-May-Verlag und Karl-May-Gesellschaft zur überragenden Bedeutung Karl Mays. Schade bleibt aus meiner Sicht aber weiterhin, dass sich die Debatte so schnell vom ursprünglichen Thema (nämlich: Warum es falsch ist, die indigene Bevölkerung Nordamerikas so darzustellen als lebten wir noch im Kaiserreich) entfernt hat. Wir hätten da alle sehr viel Lehrreiches erfahren können.

Zum Abschluss dieses Inhaltsblocks noch einen kleinen Spengler-Diss Tucholskys, der angesichts der Kenntnis seiner Position zu May noch etwas mehr Spaß macht:

Spengler, dieser Karl May der Philosophie. Er hat keine Heldentaten verrichtet, er hat sie nur prahlend aufgeschrieben. May war übrigens bescheidener und schrieb um eine Spur besser.

aus: Schnipsel. in: Die Weltbühne, Jg. 28, Heft 32, 9.8.1932

Traumwelten: Bilder zum Werk Karl Mays

Quelleneditionen sind die Grundlagenforschung der historischen Disziplinen. Wo Physiker Higgs-Teilchen jagen, suchen Historiker (d.h. die nicht unbedingt, es sind nicht selten ihre hilfreichen Geister) nach Dokumenten aller Art aus der Vergangenheit. Und wie sich das für Grundlagenforscher gehört, zunächst einmal ganz ohne damit irgendeine konkrete Frage zu beantworten. Quelleneditionen sollen im Gegenteil die Möglichkeit bieten, Fragen zu stellen. Es ist nicht selten so, dass sich Fragen überhaupt erst durch ein intensives Quellenstudium eröffnen. Sprich: Haben wir erst einmal die Quellen, werden sich die Fragen schon finden.
Unter der Herausgeberschaft von Lothar und Bernhard Schmid sind im Karl-May-Verlag drei opulente Bände erschienen, die versuchen, ein möglichst umfassendes Bild von Illustrationen zum Werk Karl Mays zu zeichnen. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern zumindest für einen großen Teil Europas. Und auch wenn die Edition aus den verschiedensten Gründen keineswegs vollständig ist, bietet sie doch das Material für die eine oder andere kulturwissenschaftliche Qualifizierungsschrift.
Der Karl-May-Verlag selbst, auch 50 Jahre nach der Gemeinfreiheit für die Werke des Namensgebers unbestrittener Hort seines Werkes, verfolgt in Sachen Illustration einen strikten Kurs (also, nicht so strikt, dass man nicht für die eine oder andere Sonderausgabe mal von abweicht, aber ganz prinzipiell und in den Gesammelten Werken): Sie verzichten darauf (vom Unschlag mal abgesehen).
Damit wären nur sehr schwer drei Bände zu füllen, aber es gab selbstverständlich schon immer Lizenzausgaben, bei denen das anders gehandhabt wurde und seit 1962 konnte sowieso jeder machen, was er will. Im heute zu besprechenden Band 3 fallen die Werke denn auch in diesen Zeitraum, da hier alle Künstler verzeichnet sind, deren Erstillustration zu Karl May ab 1931 datiert. Ich hatte mich hier auf ein kulturhistorisch vielfältiges Werk gefreut – und war erstaunt. Wir reden hier immerhin über doch sehr unterschiedliche Jahrzehnte in verschiedensten politischen Systemen in mehreren Ländern – doch die Wiederkehr der immer gleichen Stereotypen erstaunte mich. Auch wenn es tatsächlich sehr unterschiedliche Darstellungen in Technik und Aussage zu entdecken gibt und die verschiedensten künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts prinzipiell auftauchen – die Masse der Darstellungen sind doch Variationen der immer gleichen Bilder. Und damit meine ich nicht unbedingt die Motivwahl, sondern tatsächlich die Art und Weise der Darstellung. Eine mögliche Erklärung wäre sicher, dass man sich an vorangegangen Illustrationen orientierte. Dies ist auch tatsächlich oft der Fall, wie die Autoren des Bandes sehr schön herausarbeiten. Die Querverweise zwischen den verschiedenen Illustratoren sind nicht nur Schwerpunkt bei der Auswahl der Bilder, sondern tatsächlich auch ein klarer Pluspunkt für das Buch, da man hier klar über eine simple Chronistenpflicht hinausgeht und dem Lesenden einen echten Mehrwert vermitteln kann. Möglicherweise, dies aber ist meine Spekulation, liegt das auch in der Natur der Sache. Immerhin ist Karl May ein Meister des Stereotyps. Seine Figuren sind klar gezeichnet, Gut und Böse bereits zu Beginn einer Lesebiographie meist souverän voneinander zu scheiden und es ist ja gerade diese Plastizität, die Klarheit und Eindeutigkeit seiner Beschreibungen, die seinen langen Erfolg begründeten. Auch wenn sicherlich nicht jeder Lesende 1:1 dieselben Bilder vor Augen hatte – es gibt Autoren, die lassen mehr Freiraum für die eigene Phantasie.
Meine eigenen Lektüreerfahrungen beschränken sich auf ein knappes Dutzend seiner WildWest-Romane und eine Handvoll Kara-Ben-Nemsi-Titel, ich kann hier also kein abschließendes Urteil über sein Werk liefern. Gleichzeitig sind es aber doch meist diese Werke, die in nennenswerter Weise publiziert und illustriert wurden, so dass ich es zumindest für eine überlegenswerte Hypothese halte. Aber ich möchte hier ja den Kulturwissenschaftlern ihre Themen nicht wegnehmen. 😉
Weniger überraschend übrigens scheint mir der geringe Einfluss der Verfilmungen auf die Illustrationen zu sein – denn hier scheint mir der Weg genau anders herum zu sein: Die Verfilmungen orientierten sich an den vorhandenen Bildern. 😉
Etwas merkwürdig muten allerdings die versuchten Qualitätsurteile der Autoren an. Zwar weisen sie pflichtschuldigst darauf hin, dass es sich um rein persönliche Einschätzungen handelt, aber man wäre doch auf einen Kriterienkatalog gespannt gewesen wesen. Ein reines Geschmacksurteil ist doch ein bisschen öde, wenn auch sicher zeitgemäß. Es mag der Tradition des Hausverlages geschuldet sein, dass die Worturteile nicht in Sterne umgesetzt wurden, aber letztlich läuft es genau darauf hinaus (die Abstufungen lauten dann eben nicht soundsoviel Sterne, sondern zum Beispiel “solide”, “durchschnittlich”, “überragend” oder, das schien mir das höchste Gütesiegel zu sein, “kongenial”). Das hätte man sich sparen können. Hier werden Qualitätsunterschiede einfach behauptet, was sicher sehr bequem ist und Diskussionen ausschließt, aber eben auch keinen Erkenntnisgewinn bringt.
Abschließend sei also gesagt: Es handelt sich hier um ein Schatzkästlein, wenn nicht für jeden kulturhistorisch interessierten, so doch zumindest für all jene, die Karl May zur eigenen Lesebiographie zählen und es birgt bei allen Wiederholungen so manche Überraschung, denn immerhin zählt allein der Band III 80 verschiedene Illustratoren unterschiedlichster Provenienz auf (z.B. überraschten mich sowohl Sowa als auch Hegenbarth als May-Illustratoren).
Ein Buch also, das man gerne mal zur Kaminzeit in die Hand nehmen kann oder als Gesprächseinstieg für die traute Rotweinrunde. 😉

erschienen 2010 im Karl-May-Verlag.

Bestellt werden kann es hier:.

Das Rezensionsexemplar wurde zur Verfügung gestellt über das empfehlenswerte und hochinteressante Projekt .

Bibliographische Daten:

Lothar und Bernhard Schmid (Hrsg.), Stefan Schmatz: Traumwelten – Bilder zum Werk Karl Mays. Band III. Illustratoren und ihre Arbeiten seit 1931. Karl-May-Verlag Bamberg 2010. ISBN 978-3-7802-0179-9


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