Das Buch zum Sonntag (105)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Christa Wolf: Kassandra

In einem an Selbstgefälligkeit kaum zu überbietenden Interview mit dem Deutschlandradio anlässlich seines neu erschienenen Buches über “verbotene” Literatur kündigte Werner Fuld ein baldiges Vergessen des literarischen Schaffens Christa Wolfs an.*
Das erscheint mir etwas voreilig, steht sie doch derzeit recht fest im Lektüreplan sowohl des Deutschunterrichts als auch der germanistischen Seminare. Und wer da einmal drin ist…

… der muss gerettet werden. Denn es gibt nur wenige Methoden, die so zielsicher die Lust an der Lektüre eines Autors zerstören wie dessen Behandlung im Deutschunterricht. Namen, die dort auftauchen, haben auf Lesewillige meist eine ähnliche Wirkung wie Wasser auf die Hexe des Westens – sie weichen vor ihnen zurück.
Damit dies bei Christa Wolf nicht auch geschieht, sei diesem also entgegen gewirkt.
Kassandra bezieht sich selbstverständlich auf den bekannten antiken Mythos und versucht sich an einer Erzählung der Geschehnisse in und um Troja aus der Perspektive der namensgebenden Protagonistin. Es entsteht dabei ein beeindruckendes inneres Gespräch, eine derart intensive Reise in die Gedanken- und Gefühlswelt einer Heldin, die scharfsinnig ihre Umwelt beobachtet, klar und sachlich analysierend, aber keineswegs emotionslos, immer dann in die Geschicke ihrer Stadt und ihrer Familie einzugreifen versucht, wo sie Irrwege erkennt – und doch scheitert.
Die Kassandra Christa Wolfs ist eine der beeindruckendsten Frauenfiguren, die mir bisher begegneten. Es gelingt ihr hier, eine Frau zu zeichnen, die keineswegs als Spielball göttlicher und irdischer Mächte fungiert, sondern die selbständig handelt, die stark ist (nicht im Sinne von machtvoll, sondern im Sinne einer festen Persönlichkeit), die ihre Stimme erhebt, die sich mit dem, wenn auch nicht selten erfolgreichen, Vernetzen und Manipulieren im Hintergrund nicht zufrieden geben will, die das Recht der Vernunft einfordert, wo die Unvernunft herrscht (die bei Christa Wolf hier klar männlich konnotiert ist).
Der Widerspruch zur tradierten Figur der einsamen, ungehörten Ruferin des antiken Mythos offenbart sich eben erst wirklich und klar durch die Innensicht, die hier entworfen wird. Da ist keine Rede vom Fluch der Götter, der Kassandras Schicksal besiegelt und die Trojaner ins Unglück rennen lässt – keine höheren Mächte sind hier im Spiel, es sind die Menschen selbst, die nicht hören wollen. Kassandra erkennt ganz klar die Religion, die offizielle Ideologie als reines Machtinstrument, als Mittel zum Zweck – und entlarvt Trojas Machthaber als kleingeistige Ränkeschmiede ohne Vertrauen in das eigene Volk, die eigene Tradition, die eigenen Überzeugungen. Gerade diese Aufgabe der eigenen Ideale öffnet Tür und Tor für den Untergang, der dann unvermeidlich wird. Und so wird das einst edle, mit hochfliegenden Zielen und Idealen aufgebaute Troja zum Opfer einer sie bedrohenden, belagernden, kulturlosen Macht.

Eine großartige Interpretation eines alten Stoffes und trotz seines geringen Umfangs, freilig unterstützt durch starke Referenzen, äußerst vielschichtig lesbar – was eine regelmäßige Lektüre übrigens empfehlenswert macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Buch je nach eigener Lebens- und Leseerfahrung, jeweils deutlich anders gelesen wird.

Ich möchte schließen mit einer Stelle, die in meinen Augen sehr schön illustriert, wie sinnfrei es ist, Zensur von kleingeistigen Beamten ausüben zu lassen – ein wirklich kunstsinniger Mensch (In Your Face, Werner Fuld) hätte die folgende Passage unmöglich durchgehen lassen können:

Mit einem bißchen Wahrheitswillen, mit einem bißchen Mut sei doch das ganze Mißverständnis aus der Welt zu schaffen, glaubt ich immer noch. Was wahr ist, wahr zu nennen, und was unwahr falsch: das mindeste, so dachte ich, und hätte unsern Kampf weit besser unterstützt als jede Lüge oder Halbwahrheit. […] Bis ich begriff: In Helena, die wir erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr hatten. Was wir aber, je mehr es schwand, für um so wirklicher erklären mußten. So daß aus Worten, Gesten, Zeremonien und Schweigen ein andres Troia, eine Geisterstadt erstand, in der wir häuslich leben und uns wohlfühln sollten.

(S. 112)**

Vergesst die Geschichtsbücher, Kassandra ist vielleicht eines der besten Bücher darüber, wie die DDR funktionieren konnte, wie Gesellschaften, wie Machtkonstellationen ganz generell funktionieren und wie im Kampf gegen echte oder imaginierte Feinde Sicherheitsversprechen immer ein Weg sind, Kontrolle auszuüben.
Kurz: Ich war beeindruckt. Da können noch etliche Hundertjährige aus diversen Hausöffnungen verschwinden, eh ich wieder ähnlich begeistert sein werde.

Und noch einen letzten Hinweis – die Frage, was die Künstlerin uns wohl damit sagen wolle, hat sie selbst beantwortet, in den zur Erzählung gehörenden Frankfurter Poetikvorlesungen 1982. Ich empfehle der geneigten Leserschaft jedoch, diese erst danach zu lesen, wenn denn gewüscnht. Die andere Reihenfolge wollen wir den literaturwissenschaftlichen Seminaren überlassen. 😉

Und so sei denn auch heute auf die

lieferbaren Ausgaben

verwiesen.


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*Putzigerweise begründet er das mit deren mangelnder literarischer Qualität. Was nun aber bekanntermaßen überhaupt kein Kriterium für die Frage nach ewigem Ruhm ist. Schon gar nicht nach Meinung eines Kritikers. Es würde mich hier sogar einmal die Gegenprobe interessieren, nämlich ob das Verdammen durch zeitgenössische Literaturkritiker nicht eher ein Indiz für folgenden Nachruhm ist.
**zitiert aus: Wolf, Christa: Kassandra. Suhrkamp Frankfurt/Main. 1. Aufl. 2008