Väterchen Frost strikes back

Die “Wahrheit”-Redaktion der taz erfand dereinst das Verb “bosbachen” zur Beschreibung des Sich-zu-allem-und-jedem-äußern. So verwundert es also nicht, daß Herr Bosbach natürlich auch was zum Wetter zu sagen hat:
Wir neigen zur Dramatisierung: Was heute Schnee-Chaos heißt, nannte man früher Winter.” (zum Beispiel hier nachzulesen.)
Das hat mich ins Grübeln gebracht, was für eine Aussage von Bosbach schon allerhand ist.

Was ist passiert?

Ist es wirklich die versammelte Ignoranz und Unfähigkeit zuständiger Stellen, wie Jörg Kachelmann anmahnt (hier allerdings unbedingt mal in die Kommentare reinschauen)? Ist das ein völlig normaler Winter – nur wir hyperdramatisieren?

Ich glaube, ganz so einfach ist es nicht. Denn es sind ja Dörfer vollkommen zugeschneit. Es blieben Züge liegen, es gab massive Einschränkungen im Öffentlichen Personennahverkehr (Berlin mal ausgenommen, da liegt es nicht am Wetter. Die haben ja dort den alten Bahnslogan umgemünzt in: “Alle reden vom Wetter – Wir nicht. Wir fahren so oder so nicht.”) und viele Straßen waren nicht befahrbar.
Kurz: Es gab und gibt ja Einschränkungen. Warum aber sind das Probleme? Als ich letzten Sonntag an der Bushaltestelle wartete, meinte eine ältere Dame, daß bei diesen Witterungsbedingungen man nicht so genau auf den Fahrplan schauen sollte. Und wartete geduldig weiter, während in der Menge ringsum ein Rhababer-Crescendo aufwallte, je länger der blau-gelbe Motorkasten auf sich warten ließ. Der Barrikadenbau wurde aber durch rechtzeitiges Eintreffen des Busses gerade noch abgewendet.
Aber nochmal: Warum ist das ein Problem? Wieso wallt Zorn auf, wenn aus offenkundigen Gründen der Zug mal später kommt, warum ist es tagelange Berichterstattung wert, daß es schneien wird? Im Winter.

Meine spontane Antwort: Hybris.
Und zwar in mehrerer Hinsicht. Zum einen ist es Hybris, zu glauben, ein System zu beherrschen, dessen Teil wir sind. Es ist Hybris anzunehmen, alles müsse immer funktionieren. Es ist Hybris, zu verlangen, morgens um sechs müssten aber mal alle Straßen geräumt und alle Schienen gefegt sein – das könne man ja wohl für sein Steuergeld verlangen.
Zum anderen ist es Hybris, zu glauben, Winter finde nicht mehr statt, weil wir das gerne so hätten. Es ist Hybris, Züge so zu bauen, daß sie bei ein paar Grad unter Null am Kondenswasser scheitern – und zwar auf der einzigen Strecke, für die sie gebaut wurden. Es ist Hybris, Jahr für Jahr Stellen und Fuhrpark beim Winterdienst abzubauen, nur weil es halt ein paar milde Jahre gab. Es ist schlußendlich Hybris, zu glauben, die Welt funktioniere auf einmal völlig anders. Diesem irrsinnig komplexen System “Erde”, dessen Grundkonstanten wir derzeit bestenfalls erahnen, von “Wissen” will ich gar nicht reden, sind unsere Hypes derart schnuppe, daß es für uns postmoderne Ich-Verliebten wohl viel zu schmerzhaft wäre, gestünden wir uns das ein.
Also machen wir den Bruce (ihr wißt schon) und sehen uns in unseren Grundfesten erschüttert, weil die Bahn nicht kommt, obwohl sie uns das doch so sehr versprochen hat?

Ich weiß nicht.

Selten ist eine Großstadt angenehmer als unter 20 cm Neuschnee. All der Lärm, all die Hektik, all das Achsowichtige, die ganze tägliche Betriebsamkeit – es ist nicht weg, aber ganz angenehm gedämpft. Auch auf die Gefahr hin, jetzt wie ein esoterisch verklärter Erweckungsprediger zu klingen: Aber es täte uns gut, das anzunehmen. Also anstatt über die verlorene Zeit an der Haltestelle zu schimpfen und das Blut in Wallung zu bringen, einfach ein Heißgetränk der Wahl mehr trinken, in Ruhe losgehen und hinnehmen, was nicht zu ändern ist. Der Bus kommt nicht früher und der Schnee fällt so oder so. Es gibt so viel in dieser Welt, wogegen anzukämpfen wäre oder worüber man sich echauffieren könnte – aber daß es im Winter schneit, ist nun wirklich das Letzte auf der Liste.

Gut, was bleibt noch zu sagen?
Zum einen: Allen Spöttern in Sachen Klimaerwärmung zum Trotz – regelmäßig kältere Winter hierzulande wären kein Gegenbeweis, sondern eine Ernst zu nehmende Bestätigung der Theorie. Mir fehlt das Know-how, um das zu überprüfen, aber die ersten sind der Meinung, unsere Heizung sei ausgefallen. Denn bedenkt: Wir leben auf dem Breitengrad Kanadas.

Sonst noch was?
Der Hausheilige hätte sicher einiges zur menschlichen Hybris zu sagen, ich möchte ihn aber doch lieber zum Winter kommentieren lassen, schon allein, weil es zeigt, daß sich viel weniger verändert, als wir glauben:

Und Winter? Es wird eine Art Schnee geliefert, der sich, wenn er die Erde nur von weitem sieht, sofort in Schmutz auflöst; wenn es kalt ist, ist es nicht richtig kalt sondern naßkalt, also naß . . .
Tritt man auf Eis, macht das Eis Knack und bekommt rissige Sprünge, so eine Qualität ist das! Manchmal ist Glatteis, dann sitzt der liebe Gott, der gute, alte Mann, in den Wattewolken und freut sich, daß die Leute der Länge lang hinschlagen . . . also, wenn sie denn werden kindisch . . .
kalt ist der Ostwind, kalt die Sonnenstrahlen, am kältesten die Zentralheizung – der Winter –?

aus: Die fünfte Jahreszeit. in: Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 6996-6997 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 224)