Leipzig liest: Tucholsky über wirkungsvollen Pazifismus

»Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen.« schreibt Kurt Tucholsky in »Gruß nach vorn« 1926.

Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum uns so viele Texte aus früheren Zeiten so aktuell erscheinen. Sie sind es. Freilich nicht unbedingt, weil die Autor:innen so hellsichtig und prophetisch waren, sondern weil die Menschheit in entscheidenden Fragen einfach nicht vom Fleck kommt.

Und so mag es sinnvoll erscheinen, einmal nachzusehen, ob wir vom Antimilitaristen und Pazifisten Kurt Tucholsky für die heutige Zeit Impulse erhalten können.

Unter dem Motto »Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich.« stellt die Lesung aus dem Sammelband »Die Zeit schreit nach Satire« den Antimilitaristen Tucholsky in den Mittelpunkt – und weil das ein riesiger Bereich seines Schaffens darstellt, steht dabei seine Suche nach wirkungsvollem Pazifismus besonders im Fokus.

Nach der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, als noch niemand wusste, dass wir Weltkriege dereinst zählen würden – etliche es aber ahnten – etablierte sich auch in Deutschland eine wachsende Pazifismusbewegung.

Diese gesellschaftliche Bewegung stellte sich mit der zentralen Forderung »Nie wieder Krieg!« dem tief verankerten Militarismus entgegen. Trotz teils beeindruckender Großveranstaltungen gelang es aber nie, nachhaltig in die ganze Gesellschaft hineinzuwirken.

Die Suche nach einem wirkungsvollen Pazifismus prägte Tucholskys umfangreiches antimilitaristisches Werk. Die Lesung stellt einige seiner Texte dazu vor.

Die Pazifismusbewegung der Weimarer Republik scheiterte. Ahistorische Vergleich verbieten sich – wir müssen nach dem 2. Weltkrieg anders über militärische Interventionen reden.

Aber vielleicht können Tucholskys Texte dennoch dazu anregen, über wirkungsvollen Pazifismus heute nachzudenken. Damit wir die Weltkriege nicht weiter hochzählen müssen.

Details zur Veranstaltung bei Leipzig liest.

Die Woken wollen uns Winnetou wegnehmen

Karl May (1907), Bild von Erwin Raupp, Public domain, via Wikimedia Commons

Da sich der Gefechtsrauch etwas verzogen hat, soll heute mal ein Blick zurück auf die große deutsche Debatte des vorigen Jahres geworfen werden: Die Woken wollen uns Winnetou wegnehmen!

Die Dynamik dieses Diskurses bietet Stoff für reichlich Qualifizierungsschriften in diversen Wissenschaftsdisziplinen, soll hier aber nicht weiter erörtert werden. Vielmehr habe ich das zum Anlass genommen, mal zu schauen was der Hausheilige dieses Blogs – der ja immerhin einer der ersten Jugendgenerationen angehörte, für die Karl May Bestandteil der Sozialisation war – zum ollen Flunkersachsen zu sagen hatte.

Es gibt nicht viele Belegstellen, häufig ist er nur passim erwähnt. Aber ich habe zwei Stellen gefunden, die mir auch heute so einiges erklären.

In der Rezension zu Leo Perutz’ “Der Marques de Bolibar” beschreibt Tucholsky 1920 ein jugendliches Leseerlebnis, das mir sehr vertraut vorkommt, wenn auch in Details abweichend:

Dagegen kommt dann ja nichts mehr auf: Nach Abschreibung der komplizierten Mathematikaufgabe zu morgen lagen wir auf dem Bauch in der schattigsten Ecke des Zimmers, um uns auch ganz sicher die Augen zu verderben, fraßen von einem Teller, der gleichfalls auf der Erde stand, Mandeln, und während wir sie langsam zerkrachten, lasen wir “Die Skalpjäger”.

Dieses Buch heißt bei Jedem anders – aber jeder richtige Junge hat so etwas einmal gelesen. Das muß so sein. Manche lasen Karl May – ich habe es wegen Langweiligkeit nie fertig bekommen -, manche schmökerten Ebers, und manche – o schöne Zeit! – den “Guten Kamerad”. Es war eine dolle Sache: weiter jagte die Geschichte, weiter, weiter, weiter – und Landschaftsschilderungen wurden grundsätzlich überschlagen. Kommt der Reiter durch oder kommt er nicht durch? Alles Andre war gleich.

Diese Sensationen kehren nie wieder.

aus: “Der Marques de Bolibar” in: Die Weltbühne, Jg. 16, Heft 46, 11.11.1920

Ob ein solches Lektüreerlebnis nun wirklich konstituierend für einen “richtigen Jungen” ist, sei mal dahingestellt. Wiedergefunden habe ich mich in der Beschreibung jedenfalls sehr – auch wenn ich tatsächlich zu den juvenilen Karl-May-Lesern gehöre (ich habe aber Liselotte Welskopf-Henrich und Jack London genauso atemlos gelesen). Mir scheint hier ein Erklärungsansatz zu liegen: Dieses mitfiebernde, intensive, plotorientierte Lesen ist eine so tiefe Erfahrung und wird zudem im Laufe der Lebensjahre immer weiter verklärt. Da entsteht ein Identitätskernstück. Dementsprechend werden die Abwehrhandlungen schnell massiv und irrational (wir kennen das aus den Kolonialismus-Debatten um Pippi Langstrumpf oder den Ergebnissen der historisch-kritischen Harry-Potter-Lektüre).

Das ist das eine. Das andere ist: Im Rahmen der eigenen Lektüreverklärung wird dann auch noch der Autor verklärt. Ich habe in meinen Dreißigern nochmal versucht, May zu lesen – das war extrem ernüchternd, mir ist schleierhaft, wie ich das verschlingen konnte, es ist so entsetzlich langweilig. Daraufhin beschloss ich, meine jugendliche Begeisterung als solche in Erinnerung zu behalten.

Diesen Weg gehen aber durchaus nicht alle und auch schon vor 100 Jahren gingen ihn nicht alle:

Es gibt Leute, denen dieser Karl May – mir ist der Bursche immer als Ausbund der Fadheit vorgekommen – lieb und teuer ist. Aber sie sagens nicht. Sie malen ihm eine Glorie an: ihr meint, das sei einfach ein Unterhaltungsschriftsteller für die reifere Jugend gewesen? Gott bewahre, ein Philosoph war das, ein Mann mit den allegorischsten Hintergedanken, ein schwerer, vollbärtiger, sächsischer Denker, weiland zu Radebeul, jetzt in der Unsterblichkeit.

aus: Nette Bücher. in: Die Weltbühne, Jg. 14, Heft 35, 29.8.1918

Das klingt dann doch schon sehr ähnlich den Statements von Karl-May-Verlag und Karl-May-Gesellschaft zur überragenden Bedeutung Karl Mays. Schade bleibt aus meiner Sicht aber weiterhin, dass sich die Debatte so schnell vom ursprünglichen Thema (nämlich: Warum es falsch ist, die indigene Bevölkerung Nordamerikas so darzustellen als lebten wir noch im Kaiserreich) entfernt hat. Wir hätten da alle sehr viel Lehrreiches erfahren können.

Zum Abschluss dieses Inhaltsblocks noch einen kleinen Spengler-Diss Tucholskys, der angesichts der Kenntnis seiner Position zu May noch etwas mehr Spaß macht:

Spengler, dieser Karl May der Philosophie. Er hat keine Heldentaten verrichtet, er hat sie nur prahlend aufgeschrieben. May war übrigens bescheidener und schrieb um eine Spur besser.

aus: Schnipsel. in: Die Weltbühne, Jg. 28, Heft 32, 9.8.1932

Macht unsere Bücher billiger! – Neues aus der Wrobelei

Der zweite Newsletter näherte sich schon etwas eher dem an, was ich mit dem Projekt vorhabe. Nachzulesen ist der zweite Newsletter der Wrobelei, in dem Tucholsky aktuelle Neuerscheinungen bespricht, wir an Mary Gerold erinnern und uns fragen, was Röhm mit Szájer zu tun hat, bei substack, wo auch die Möglichkeit besteht, den Newsletter direkt zu abonnieren.

If you love someone…

Tucholsky Gruß nach vorn Cover Hörbuch von Steffen Ille

Der 3. Oktober ist, das ist allgemein bekannt, der Tag der Südharzreise. Landauf, landab treffen sich hunderte, ach was, tausende Menschen zu Lesekreisen, um rituelle Lesungen ihrer Lieblingskapitel aus dem grandiosen Reisebericht vorzunehmen.

Es ist ein bezauberndes Schauspiel.

Auf den Tag genau seit vier Jahren steht denn auch das zugehörige Hörbuch unter der Lizenz CC by-nc-sa 4.0 und ist damit frei zur nichtkommerziellen Nutzung.

Dies inspirierte mich nun, auch den heutigen 3. Oktober der alten Weisheit »If you love somebody set them free« zu widmen und das bereits vor sieben Jahren veröffentlichte Tucholsky-Hörbuch »Gruß nach vorn« ebenfalls archive.org anzuvertrauen und zur freien Verfügung zu stellen.

Ich wünsche also viel Vergnügen mit dem Hausheiligen dieses Blogs und freue mich auf spannende Projekte, die mit diesen Aufnahmen vielleicht entstehen mögen.

Ratschlag zum nächsten SPD-Parteitag

Wahlplakat der SPD zur Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 Entwurf: Arnold Schütz Druck: Kunstanstalt Franz Xaver Schroff vorm. Wilh. Fiek Augsburg, 1919 Lithographie 109,7 x 79,6 cm © Deutsches Historisches Museum, Berlin Inv.-Nr.: P 61/1634

Es stehen ab dem Herbst 2018 wieder Landtagswahlen an, wahrscheinlich der Auftakt zu einer weiteren Serie von enttäuschenden und unerklärlichen Niederlagen für die deutsche Sozialdemokratie. In Sachsen ist nicht einmal mehr sicher, dass sie es überhaupt noch in den Landtag schaffen.

Und das alles trotz eines tollen Hashtags und einer tapfer gegen Scheinprobleme ankämpfenden Vorsitzenden. Aber wie so oft, stößt die Partei, die doch nur das Gute will, dabei auf Unverständnis:

Patrick Bahners auf Twitter

Die SPD, die ewig Unverstandene. Nun ist es leicht, auf jemanden einzuschlagen, der bereits am Boden liegt und bei allen Schwächen, die diese Partei hat, so kann es doch nicht im Interesse der Demokratie sein, sie wieder einmal untergehen zu lassen. Denn – so schmerzlich diese Erkenntnis sein mag – sie ist seit 150 Jahren das Herz der deutschen Demokratie. Dass sie dies zunehmend mit stolzgeschwellter Brust als Argument dafür nimmt, so weiterzumachen wie gehabt anstatt als Ansporn, sich wieder aktiv einzubringen, ist freilich eine nicht weniger schmerzliche Erkenntnis.

Daher ein wohlmeinender Ratschlag für den nächsten Parteitag:

Aber nach einem Jahre von Fehlschlägen und politischem Trabantentum in der Sphäre Merkels, und nachdem sich gezeigt hat, daß auch die Wählermassen nicht mehr geneigt sind, der Partei Blankowechsel auszustellen, muß die Führerschaft darauf verzichten, diesen Kongreß als ein Spektakel mit verteilten Rollen aufzuziehn. Das historische »Schweineglück« der Sozialdemokratie hat inzwischen gründlich die Partei gewechselt.

In frühern Zeiten waren diese Parteitage Stechbahnen des Geistes. Jetzt sind sie schon Iange nur noch Kontrollversammlungen, Schaustücke von Funktionären für Funktionäre, mit einer sorgsam rationierten Opposition.

Dies ist kein Zitat aus einem aktuellen Leitartikel, dieser wohlmeinende Ratschlag an die SPD stammt von Carl von Ossietzky, der dies am 2. Juni 1931 in der »Weltbühne« anlässlich des Leipziger Parteitags mit auf den Weg gab – und natürlich nicht von Merkel, sondern von Brüning sprach (der das Regieren per Notverordnung erfand und a Doch genau wie seinerzeit fühlt sich ja auch die heutige SPD eher einer abstrakten staatstragenden Rolle verpflichtet und stützt willfährig eine Regierung, die sie dem Untergang entgegentreibt.

Ossietzky schreibt dort weiter:

Die Partei sehnt sich nach ‘dem Staat’, ‘der Nation’, und fühlt nicht, daß sie dabei ihre einzige wirkliche Lebensquelle verliert: die Klasse.

Ich weiß, »Klasse« darf man heute nicht mehr sagen, weil Stalin und vom klassischen Industriearbeiter werden es auch täglich immer weniger – umso dringender aber wird eine Partei gebraucht, die wieder in den Mittelpunkt rückt, dass es ein existentielles Machtungleichgewicht gibt zwischen denen, die Arbeit verteilen und die Bedingungen dafür stellen und jenen, die auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, Arbeit zu finden und anzunehmen. Gerade weil die Gewerkschaftsbindung immer weiter abnimmt, gerade weil alle Hebel gezogen werden, um entweder gar nicht erst in den Geltungsbereich von Sozialgesetzgebung und BetrVG zu gelangen oder wenn schon, dann alles daran zu setzen, dass die Angestellten aber auch ja nicht auf die Idee kommen, ihre Rechte wahrzunehmen (und das bis zur Schließung des Betriebs). Es gäbe für eine SPD so viel zu tun. Stattdessen holt man sich GoldmanSachs an die Seite.

Und: Es wird bitte endlich Zeit, die seit der Parteigründung mit sich getragene Furcht davor, als Vaterlandsverräter zu gelten, nur weil man nicht nach der konservativ-militaristischen Pfeife tanzt, sollte sie endlich ablegen. Es gibt keine Pflicht, sich für das Vaterland zu opfern.

1930 ließ Tucholsky einen Berliner Ortsfunktionär über seine Partei sagen:

»Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!«

Mir scheint das auch heute wieder nicht völlig unzutreffend sein. Ich wünsche der Partei aus tiefstem Herzen, dass sie es schafft, sich von den Zwängen ihres Apparates zu befreien und ihre Grundsätze wiederzuentdecken. Und sie sollte das schnell tun. Das Schicksal anderer europäischer Sozialdemokratien dieser Tage zeigt überdeutlich, wie schnell und gründlich sich Wähler_innen dauerhaft abwenden können. Denn die brauchen keine sich anbiedernde SPD, sondern eine die kämpft – für die Benachteiligten, nicht für ihren eigenen Apparat.

20 Jahre: In memoriam Frank Böttcher

Am 8. Februar starb Frank Böttcher, nachdem er am Abend zuvor den Fehler begang, als Punk in Magdeburg-Olvenstedt an einer Straßenbahnhaltestelle zu stehen.

Das ist heute 20 Jahre her. 20 Jahre – das sind mehr Jahre als Frank Böttcher zu leben erlaubt wurde.

Für mich und meine politische Sozialisation war dies ein zentrales Ereignis. Seinerzeit leitete ich das Büro der Landesschülervertretung Sachsen-Anhalt, wir hatten Mitglieder, die Frank Böttcher oder sein Umfeld persönlich kannten.

Ich selbst war gerade einmal 19 – und ich war zutiefst erschüttert. Hier gab es nichts zu deuten, nichts zu relativieren: Die Olvenstedter Neonazis fühlten sich sicher genug, um Menschen, deren Aussehen ihnen nicht passte, niederzutreten und abzustechen.

Im Gespräch mit anderen, in der medialen Darstellung, in mehr oder weniger romantischen Generationenrückblicken sehe ich die Neunziger in einer Art und Weise dargestellt, die sich mit meinem Erleben nicht deckt. Für mich waren die Neunziger Jahre keine Zeit unbeschwerter Raves und bunter Disco-Abende. Das war keine bonbonbunte Partyzeit. Das war Mölln, das war Rostock, das war Hoyerswerda (und Bischofferode, aber das ist ein anderes
Thema).
Für mich waren die Neunziger Jahre eine Zeit der Angst, des Flüchtens vor Gewalt – wahlweise vor der von Nazis oder der der Polizei (auch hier stammt mein eindrücklichstes Erlebnis aus Magdeburg: Wie dort schwer gepanzerte und bewaffnete Polizisten einen vollkommen unbewaffneten und nicht aggressiven jungen Mann zu Boden warfen, sich auf ihn setzten und fesselten, schwirrt mir heute noch im Kopf herum – trotz aller anderen Bilder, die es seitdem gegeben hat*). Für mich sind die Neunziger Jahre die Zeit der National Befreiten Zonen (weshalb ich heute nur sehr bitter auflachen kann, wenn man sich wundert, woher die Nazis auf einmal alle kommen). Für mich sind die Neunziger Jahre die Zeit, in der Clubs überfallen und Linke gejagt wurden (und ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt, aber wenn man erstmal erlebt hat, wie Leute in Onkelz-T-Shirts Jagd machen, hat man wenig Lust, sich mit deren ach-so-progressiven Werk auseinanderzusetzen).

Mir ging der Tod von Frank Böttcher nicht nur nahe, weil er persönlich so nahe war. Das spielt eine Rolle, dieses psychologische Muster zu leugnen, wäre naiv.

Er beschäftigt mich aber bis heute, weil aus der Tat ein so offener, so blindwütiger Hass spricht. Ein Hass auf alles, was nicht passt. Ein Hass, von dem ich irrigerweise annahm, er sei überwunden. Ein Hass, der jederzeit wieder hervorbrechen kann – aus vielleicht jedem von uns. Ein Hass, der, geschickt gesteuert, zu einer massiven politischen Bewegung werden kann. Und der zuschlägt. Besonders dann, wenn er sich sicher fühlt. So wie die Neonazis 1997 in Olvenstedt.

Oder wie heute. Im Netz und auf der Straße.

Ich habe damals, in einem Akt jugendlicher Hilflosigkeit, einen Tucholsky-Text in meinem Büro angebracht. Und noch heute verknüpfe ich ihn in jeder Lesung mit Frank Böttcher. Wir dürfen nicht vergessen. Und wir dürfen nicht schon wieder Rosen streuen.

Rosen auf den Weg gestreut (Lesung)

P.S. Angst brachte mich in den Neunzigern nicht zum Schweigen. Sie bringt es auch heute nicht.

*Ich bin mir sicher, die zuständigen Beamten und auch alle anderen, die sich mit Polizeitaktik auskennen, werden mir erklären können, warum das so sein muss. Das glaube ich gerne. Ändert aber nichts an der Wirkung. Und die hält an. Ich stand genauso nur da. Was bleibt: Die Angst, nicht zu wissen, ob der Polizist vor mir nicht spontan entscheidet, ich sei eine Gefahr. Das Gefühl, dieser Entscheidung schutzlos ausgeliefert zu sein. Bei aller rationalen Abstraktion, bei allem Verständnis, dass es wahrscheinlich nicht anders sein kann, weil niemand dem anderen in den Kopf schauen kann: Es fühlt sich falsch an.

Weil es um alles geht

Agora von Athen mit Blick auf die Akropolis. von DerHexer (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) oder GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

UPDATE Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es blieb bei einer Episode. Partei und ich – das war offenkundig ein Missverständnis. Nach ziemlich genau einem Jahr bin ich wieder ausgetreten. Und suche nun nach einer zu mir passenden Form des Engagements.

In meinem letzten Schuljahr wurde ich in den Landesschülerrat gewählt, kurz darauf war ich Vorsitzender.

Ämter dieser Art bringen neben einem wohlklingenden Titel (dessen Klang jungen Menschen in der Adoleszenz durchaus zu Kopf steigen kann) und der Illusion von Einfluss (in der Regel hat man ein Anhörungsrecht und das Anhörungsrecht nach SchulG ist keine schärfere Waffe als das nach BetrVG und bedeutet hier wie dort im Wesentlichen: »Prima, wir können das ohne die Störenfriede umsetzen«) jede Menge Arbeit. Denn man will ja seine Sache gut machen und glaubt in jugendlichem Überschwang tatsächlich, die eigenen Elaborate würden wahrgenommen und gelesen. So schreibt man denn also umfangreiche Stellungnahmen zu Rahmenrichtlinien und Gesetzentwürfen, redet sich in Diskussionen heiß, spürend, dass man den Schlüssel zur Lösung aller Probleme im Schulwesen in der Hand hält. Organisiert Konferenzen und Tagungen, erarbeitet Grundsatzpositionen und veröffentlicht gewichtigte Manifeste. Dies alles im festen Glauben daran, allen Beteiligten ginge es bei allen Differenzen doch im Wesentlichen um die Sache.
Stellt dann aber fest:


Denn was man allerdings auch hat: Kontakt mit politischen Entscheidungsträger_innen in mannigfacher Form. Ich nahm an Podiumsdiskussionen teil, hatte Gespräche mit dem Kultusminister und war bei symbolischen Generationsvertragsunterzeichnungen dabei.

Das war für mich nachhaltig. Ich habe damals entschieden, dass diese Sache mit der Parteiendemokratie schon eine okaye Sache ist, man aber fürs Mitmischen schon irgendwie geschaffen sein muss. Das glaube ich auch heute noch. Die hierzulande gewählte Variante der repräsentativen Demokratie hat offenkundige Schwächen und es ist sehr wohl so, dass das System bestimmte Typen bevorzugt, die zudem im Laufe der Jahrzehnte ein sich selbst reproduzierendes System geschaffen haben, in dem andere Typen kaum noch zum Zuge kommen. Und dass Politik noch weniger als vorher als bürgerschaftliches Engagement und stattdessen eher als Karriereoption wahrgenommen wird, macht die Sache nicht besser. Ich wollte niemals in diesem Zirkus mitspielen (und ich hatte die Gelegenheit dazu).

Aber: In diesem Land ist schon einmal eine Republik vor die Hunde gegangen. Eine Republik, die massive, schwerwiegende Mängel hatte. Die ihren Feinden zum Fraß vorgeworfen wurde. Und die doch unstrittig besser war als das, was nach ihr kam.

Es gehört nicht viel politischer Scharfsinn dazu, zu erkennen: Es brennt. Es brennt an allen Orten – und dies nicht nur metaphorisch. Es geht erneut um alles. Gerade heute erst wieder liefen in Dresden Menschen herum, um gegen »entartete Kunst« zu portestieren.

2017. LTI ist zurück. Der Hass spricht wieder. Unverhohlen.

Und erneut macht man sich auf, die Republik mit den Mitteln der Republik abzuschaffen. Ich kann es mir nicht mehr leisten, nur danebenzustehen und von den Repräsentanten der Demokratie zu fordern, sie mögen doch bitte für diese einstehen und dieses und jenes endlich mal einsehen und machen. Es geht um alles. Danebenstehen gilt nicht. Ironische Distanz auch nicht.

Ich will mich ja gern beschimpfen und anklagen lassen, ich will ja gern alles auf mich nehmen – wenn ich nur nicht sehen müßte, wie grauenhaft allein wir stehen.

schrieb Tucholsky in »Prozeß Marloh« 1919. Ich möchte die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und ich möchte die Zukunft nicht Faschisten überlassen. Das hier ist verdammt nochmal auch mein Land. Ein Land, in dem ich gern lebe und in dem meine Kinder beruhigt aufwachsen sollen.

Ich kann mir eine sehr viel schönere Welt als eine bürgerliche Demokratie vorstellen. Aber jetzt, hier und heute gilt es diese zu verteidigen, für sie einzutreten. Für Freiheit, Offenheit, Respekt. Für ein Mindestmaß an Anstand.

Das ist kein Spaß mehr. Kein “Och, wird schon werden”. Sich an immer unangenehmere Umstände zu gewöhnen, ist keine Qualität der menschlichen Spezies, sondern ihre größte Schwäche.

schreibt Sibylle Berg in ihrer Kolumne »Demokratie in Gefahr: Bewegt euch!«, die überhaupt mal wieder alles viel besser auf den Punkt bringt als ich das kann (aber dafür ist sie ja auch Frau Berg).

Und darum bin ich seit einigen Tagen Mitglied einer politischen Partei. Denn am Rande stehen gilt nicht mehr.

Your ἀγορά needs you.

Die Verteidiger des Abendlands

»Die Zeit schreit nach Satire« – nach diesem Tucholsky-Text benennt die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ihre neue Anthologie, die im Jubiläumsjahr 2015 erscheinen soll.

Und es ist wirklich so, anders als satirisch ist das alles gar nicht mehr zu ertragen, was sich in Dresden und anderswo abspielt. Wer da so alles bei Spengler reloaded mitspielt – das treibt einem derart die Tränen der Verzweiflung in die Augen, dass sich doch ernsthaft die Frage stellt: Wenn dies Ausdruck des zu verteidigenden Abendlandes ist, wäre dann ein Untergang desselben nicht möglicherweise doch zu begrüßen?

Und doch, es ist auch mein Land, um das es hier geht. Da ist eben nicht egal, wenn hier wieder Leute unterwegs sind, um »der ganzen Welt und sich selbst zu beweisen, dass die Deutschen wieder die Deutschen sind«. Ich bin nur so müde. Meine politische Sozialisation erfolgte in den Neunziger Jahren, in den Jahren von Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Hoyerswerda. Irgendwie hatte ich mich der Illusion hingegeben, diese Gesellschaft habe etwas gelernt und das Thema zumindest hätten wir hinter uns. Haben wir aber nicht. Und wenn selbst CSNY die Klampfen wieder in die Hand nehmen, weil sie merken, dass ihre Themen doch noch nicht durch sind – nun, dann werden wir jungen Hüpfer das doch wohl auch hinbekommen. Dann müssen wir wohl wieder raus.

Denn, wie der Hausheilige dieses Blogs 1929 schrieb:

Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.

Eben. Wir sind auch noch da. Wird Zeit, dies auch wieder zu zeigen:

Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land.

In diesem Sinne: Nehmen wir die Ratschläge der skeptischen Generationen ernst, hängen wir nicht nur die ganze Zeit vorm Rechner. Gehen wir doch mal wieder draußen spielen.

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Gruß zum 1. Advent

Der Gruß zum ersten Advent stammt heuer vom Hausheiligen dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1913, geschrieben als Theobald Tiger:

Großstadt – Weihnachten

Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren

die Weihenacht! die Weihenacht!

Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,

wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.

Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?

Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.

Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,

den Aschenbecher aus Emalch glasé.

Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen

auf einen stillen heiligen Grammophon.

Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen

den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,

Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,

voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,

dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:

»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«

Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,

mag es nun regnen oder mag es schnein,

Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,

die trächtig sind von süßen Plauderein.

So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden

in dieser Residenz Christkindleins Flug?

Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …

»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«

(Nachzulesen bei textlog.org)