Kamillentee ist keine Option: Gedanken zu Tucholskys Pazifismus

Dry matricaria chamomilla as used to make tea.

Vorbemerkung: Dies ist der zweite Blogpost, der initial durch einen Social Media-Post des großartigen Frédéric Valin ausgelöst wurde. Der erste solcherart motivierte Post (gefühlte Äonen her) war dieser zu Marianne Fredriksson und meine zerstörten Lektüreprinzipien.

Auf dieser Website ist schon des öfteren die Position vertreten worden, dass es keine Frage des modernen Lebens gibt, zu der Kurt Tucholsky nichts zu sagen hätte. Es wäre aber ein Missverständnis, darin ein Schon der große Meister wusste zu sehen und nun anzunehmen, seine Texte als unabänderliche, endgültige Wahrheit und Weisheit zu betrachten. Das wäre zudem entsetzlich langweilig. Denn natürlich hat es in den rund 100 Jahren seit der Entstehungszeit reichlich Entwicklungen gegeben. Der besondere Reiz besteht aus meiner Sicht jedoch in der Auseinandersetzung mit diesen historischen, aber eben nicht völlig fremden Texten (ich glaube auch, dass die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Epen spannend ist, aber die Transferleistung ist naturgemäß ungleich größer).

Während es einige Suche bräuchte, um beispielsweise Tucholsky in Beziehung zu etwa Smartphones oder Large Language Models zu setzen, stehen interessierte Menschen zum Themenkomplex Krieg, Militarismus und Pazifismus vor dem gegenteiligen Problem: Die Fundstellen sind unermesslich. Von den überlieferten rund dreieinhalbtausend Texten beschäftigen sich nur wenige überhaupt gar nicht damit. Spätestens nach 1918 ist der Weltkrieg (damals zählte man noch nicht – und das ist entscheidend), seine Ursachen, Auswirkungen und die Verhinderung einer Wiederholung omnipräsent. Dementsprechend unmöglich ist es mir, hier eine Gesamtbetrachtung und letztgültige Darstellung von Tucholskys Pazifismusverständnis zu geben.

Aber mich plagt ein wenig die Bequemlichkeit der lauten Stimmen der Friedensbewegung, die sich entscheidenden Fragen nicht stellt. Die sich der Erkenntnis, dass nicht pazifistische Manifeste, sondern Bomber Harris und Millionen tote Rotarmisten den zweiten Weltkrieg nebst seinen Genoziden beendeten, verweigert. Ich habe dazu auch keine widerspruchsfreien Antworten, aber als Bilanz 80 Jahren kollektiven Nachdenkens ist das doch ein etwas trübes Ergebnis.

Ärgerlich aber wird es für mich, wenn man sich hinter der zur Aufkleber- und Posterphrase verkommenen Tucholsky-Losung Soldaten sind Mörder versteckt. Tucholsky war entschiedener Kriegsgegner und Antimilitarist, aber so banal, dass sich alles auf diese Formel reduzieren ließe, ist es dann auch wieder nicht.

Tucholskys Pazifismus und Antimilitarismus ziehen sich durch sein gesamtes Werk. Wenig überraschend ist der Weltkrieg eines der bestimmendsten Themen seiner Arbeit. In seiner politischen Publizistik ist das Thema sogar überhaupt nicht wegzudenken, er greift permanent darauf zurück. Wollte man also ein umfassendes Bild seines Pazifismus zeichnen, müsste man sein Gesamtwerk betrachten. Das ist meine Sache nicht.

Ich werde aber versuchen, mich dem anzunähern und ich denke, es lassen sich einige Impulse herauslesen, die manche unterkomplexe Vorstellungen in Frage stellen und zu weiterem Nachdenken anregen können. Dazu gilt es aber, zunächst einmal Tucholsky in seiner Historizität ernst zu nehmen.

Wenn Tucholsky über Krieg spricht, spricht er über einen anderen Krieg als wir heute. Mit dem 2. Weltkrieg hat sich Krieg so massiv verändert, dass jede Mutmaßung darüber, wie Tucholsky dazu stehen würde, ahistorischer Unsinn ist.

Das lässt sich zum Beispiel sehr deutlich daran erkennen, dass Tucholsky immer auf Fronterfahrung, auf das Töten von Soldaten durch Soldaten abhebt. An vielen Stellen verweist er auf die unterschiedliche Realität des Kriegserlebens an der Front im Vergleich zur Nicht-Front. Selbst im „Soldaten sind Mörder“-Text Der bewachte Kriegsschauplatz ist das evident.

Ein Krieg, der die komplette Bevölkerung militärisch einbezieht, ein Krieg mit Flächenbombardements, mit Raketen und Drohnen, ein moderner Krieg in seiner Totalität, der für uns schon kaum noch ohne Völkermord denkbar zu sein scheint: Das ist nicht der Krieg, von dem Tucholsky spricht.

Bei aller Rechtfertigung des Begriffs von der „Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ muss man doch konstatieren, dass der erste Weltkrieg in seiner militärischen Perspektive näher an 1870 als an 1939 ist. Fragen wie „Was würde Tucholsky zum Ukraine-Krieg sagen?“ oder „Hätte Tucholsky die Landung in der Normandie begrüßt?“ führen völlig in die Irre. Und vor diesem Hintergrund würde ich urteilen: Diese Frage ist nicht zu beantworten. Ich gehe sogar noch weiter: Sie ist völlig irrelevant. Es geht nicht darum, einen Götzen zu erschaffen und diesen nun zu befragen1, auf dass er uns erleuchte. Das ist Religionsersatz und Denkfaulheit.

Relevant ist: „Was sagen wir heute zum Ukraine-Krieg? Wie stehen wir zu militärischen Interventionen angesichts eines Genozids?“ Und natürlich kann man sich bei der Beantwortung dieser Fragen auf Tucholskys Pazifismus-Verständnis beziehen und daraus Gedanken und Antworten für die heutigen Herausforderungen entwickeln.

Hierbei gilt es zunächst einmal festzuhalten, dass Tucholsky keineswegs Kampf und Gewalt ablehnt. In seinem vielleicht noch am ehesten als Grundlagentext zu sehenden „Über wirkungsvollen Pazifismus“ schreibt er:

Wieweit zu sabotieren ist, steht in der Entscheidung der Gruppe, des Augenblicks, der Konstellation, das erörtert man nicht theoretisch. Aber das Recht zum Kampf, das Recht auf Sabotage gegen den infamsten Mord: den erzwungenen – das steht außer Zweifel. Und, leider, außerhalb der so notwendigen pazifistischen Propaganda. Mit Lammsgeduld und Blöken kommt man gegen den Wolf nicht an.

Getreu dem Motto Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. aus seinem einzigen echten Manifest ist er durchaus unerbittlich in der Frage, wie gegen Militarismus und Krieg, auch gegen direkte politische Gewalt vorzugehen sei. Ein Pazifismus der (Selbst-)Aufgabe ist da nicht zu erkennen. Ich illustriere das mal mit ein paar Beispielen:

„Aber wie sollen wir gegen kurzstirnige Tölpel und eisenharte Bauernknechte anders aufkommen als mit Knüppeln? Das ist seit Jahrhunderten das große Elend und der Jammer dieses Landes gewesen: dass man vermeint hat, der eindeutigen Kraft mit der bohrenden Geistigkeit beikommen zu können.“ (Wir Negativen, 1919)

Uns radikalen Pazifisten aber bleibt, entgegen allen Schäden des Reichsgerichts, das Naturrecht, imperialistische Mächte dann gegeneinander auszuspielen, wenn der Friede Europas, wenn unser Gewissen das verlangt, und ich spreche hier mit dem vollen Bewußtsein dessen, was ich sage, aus, dass es kein Geheimnis der deutschen Wehrmacht gibt, das ich nicht, wenn es zur Erhaltung des Friedens notwendig erscheint, einer fremden Macht auslieferte.[…] Wir halten den Krieg der Nationalstaaten für ein Verbrechen, und wir bekämpfen ihn, wo wir können, wann wir können, mit welchen Mitteln wir können. Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa. (Die großen Familien, 1928)

Ihr seid die Zukunft!
Euer das Land!
Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!
Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!
Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!
Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!
– Nie wieder Krieg –! (Drei Minuten Gehör, 1922)

Vier Jahre Mord – das sind, weiß Gott, genug.
Du stehst vor deinem letzten Atemzug.
Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.
Stirb oder kämpfe! Drittes gibt es nicht. (Rathenau, 1922)

Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg … das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.“ (Schnipsel, 1930)

Möge das Gas in die Spielstuben eurer Kinder schleichen. Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs und der Mutter des Bildhauers und der Schwester des Bankiers, dass sie einen bittern qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie es so wollen, ohne es zu wollen. Weil sie herzensträge sind. Weil sie nicht hören und nicht sehen und nicht fühlen. Leider trifft es immer die Falschen.“ (Dänische Felder, 1927)

Klar scheint mir mithin zu sein, dass Tucholsky Kampf und auch Gewalt für legitim hält, nicht nur um Krieg zu verhindern, sondern auch im Krieg selbst. Ob es einen gerechtfertigten Krieg geben kann? Es gibt es wie auch oben schon klare Hinweise, dass es in seinem ethischen Verständnis Gründe für den Einsatz von Gewalt gibt. Gerechte Kriege sind aber etwas anderes und wenn es Punkte gibt, in denen er völlig eindeutig und immer wieder glasklar ist, dann in seiner Ablehnung des Krieges an sich.

Ob aber angesichts von Holocaust und Porajmos, Völkermord und „Totalem Krieg“ militärisches Eingreifen nicht dennoch nötig ist, also die Frage des Gewalteinsatzes nicht doch die Stufe des Krieges überschreiten muss, weil die Ressourcen, die nötig sind, nur noch Staaten zur Verfügung stehen und eben nicht internen Widerständlern, ist eine Frage, der wir uns stellen müssen. Denn noch einmal, das ist eine ganz andere Form des Krieges. Ein Krieg, der von Tucholskys Definition von Krieg nicht wirklich erfasst wird. Vielleicht zentral für diesen Punkt diese Passagen:

Der moderne Krieg hat wirtschaftliche Ursachen. Die Möglichkeit, ihn vorzubereiten und auf ein Signal Ackergräben mit Schlachtopfern zu füllen, ist nur gegeben, wenn diese Tätigkeit des Mordens vorher durch beharrliche Bearbeitung der Massen als etwas Sittliches hingestellt wird. Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich. Es ist nicht wahr, dass in unsrer Epoche und insbesondere in der Schande von 1914 irgend ein Volk Haus und Hof gegen fremde Angreifer verteidigt hat. Zum Überfall gehört einer, der überfällt, und tatsächlich ist dieses aus dem Leben des Individuums entliehene Bild für den Zusammenprall der Staaten vollkommen unzutreffend. (Wofür?, 1925)

sowie, besonders deutlich:

Der Pazifist hat jedoch in seinem Kampf gegen den Krieg recht, weil er es ablehnt, über das Leben andrer Menschen zu verfügen. Ich fühle in keiner Hinsicht vegetarisch: es mag Situationen geben, in denen Blut zu vergießen kein Unrecht ist. Als Grundforderung aber muß aufrechterhalten werden, daß niemand das Recht hat, über das Leben seiner Mitmenschen zu verfügen, um sich selber zu erhöhen. Das aber tut der Soldat.“ (Der Leerlauf eines Heroismus, 1930)

Ich fühle in keiner Hinsicht vegetarisch: es mag Situationen geben, in denen Blut zu vergießen kein Unrecht ist. Diesen Satz bitte ins Stammbuch all jener, die meinen, Frieden und Freiheit seien ohne Einsatz zu bekommen, wenn der Gegner zu allem entschlossen ist. Kurz vor seinem Tod wurde er da noch einmal deutlicher. Da sind wir schon im Jahr 1935, die Nazis fest im Sattel und die Welt halbgar irgendwie dagegen.

Will man aber den Krieg verhindern, dann muß man etwas tun, was alle diese nicht tun wollen: Man muß bezahlen.

Ein Ideal, für das man nicht bezahlt, kriegt man nicht.

Ein Ideal, für das ein Mann oder eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt – das ist ein Naturgesetz. Der Rest ist Familiäre Faschingsfeier im Odeon. (Beilage zum Brief an Hedwig Müller vom 16.3.1935)

Und später:

Ich habe einen Interventionskrieg stets für wahnsinnig gehalten, das wäre so, wie wenn man meine Mama, um sie zu ändern, ins Gefängnis sperren wollte. Was sollte dieser Krieg? Die boches sind boches – was nützt der Krieg? Aber:

Zwischen diesem Krieg und einer energischen und klaren Haltung aller Mächte Europas ist noch ein großer Unterschied. (Beilage zum Brief an Hedwig Müller vom 16.3.1935)

Und, vielleicht noch ganz interessant wegen des persönlichen Bezuges:

Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte – und ich bedaure, daß ich nicht, wie der große Karl Liebknecht, den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich. So tat ich, was ziemlich allgemein getan wurde: ich wandte viele Mittel an, um nicht erschossen zu werden und um nicht zu schießen – nicht einmal die schlimmsten Mittel. Aber ich hätte alle, ohne jede Ausnahme alle, angewandt, wenn man mich gezwungen hätte; keine Bestechung, keine andre strafbare Handlung hätte ich verschmäht. Viele taten ebenso. Und das nicht, weil wir etwa, im Gegensatz zu den Feldpredigern, Feldpastoren, Feldrabbinern, die Lehren der Bibel besser verstehen als sie, die sie fälschten – nicht, weil wir den Kollektivmord in jeder Form verwerfen, sondern weil Zweck und Ziel dieses Krieges uns nichts angehen. Wir haben diesen Staat nicht gewollt, der seine Arbeiter verkommen läßt, wenn sie alt sind, und der sie peinigt, solange sie arbeiten können; wir haben diesen Krieg nicht gewollt, der eine lächerliche Mischung von Wirtschaftsinteressen und Beamtenstank war, im wahren Sinne des Wortes deckte die Flagge die Warenladung. (Wo waren Sie im Kriege, Herr – ?, 1926)2

Unschwer zu erkennen, dass der Brecht’sche Gedanke vom Krieg als Fortführung der Geschäfte mit anderen Mitteln durchaus nicht originär dessen Idee war (wie ja überhaupt sehr viele der Brecht’schen Gedanken, aber das ist ein anderes Thema). Tatsächlich war der Gedanke, die Ursache der Kriege seien kapitalistische Interessen, weitaus weniger kontrovers als er es heute ist (Chapeau an die neoliberale Propaganda an dieser Stelle, das ist schon eine bemerkenswerte Leistung, aber auch das ist ein anderes Thema).

Was aber nun? Kann die Lösung sein, es einfach hinzunehmen, wenn Faschisten die Macht übernehmen? Verbrecherische Regierungen einfach machen lassen und wenn Krieg ist, hoffen, dass die Résistance regelt? Das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Wenn das die Antwort des Pazifismus ist, ist das ein bisschen wenig. Es war übrigens auch schon Tucholsky zu wenig. Auch die folgende Passage aus dem Brief an Hedwig Müller möchte ich dem einen oder anderen Friedensbewegten ins Stammbuch schreiben:

Zu machen war:

Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen. Vor allem aber, und das halte ich für das schrecklichste: die geistige Haltung hätte eben anders sein müssen, aber sie konnte nicht anders sein, denn da ist nichts. Man siegt nicht mit negativen Ideen, die ja stets das Verneinte als Maß aller Dinge anerkennen – man siegt nur mit positiven Gedanken. Europa hat keine. Beharren ist nichts. Es geht zurück. Es verliert.

Zu haben war, bei der Gemütsart der boches: Sturz des Regimes, äußerste Vorsicht der Reichswehr, Zurückdämmung der Rüstungen, Verzicht auf einen Überfall im Osten, wenigstens für lange Jahre.
Es gibt keine geistige Position, von der aus ich das sagen könnte. Es hat so etwas verfehlt savonarolahaftes: der verlangt Opfer! Und die tiefe Beschämung, daß da doch etwas nicht stimmt, verwandelt sich in Ablehnung und Wut, »man will das nicht mehr hören«, und »Auf einmal so kriegerisch?« – es gibt keine geistige Position. Daher mein Schweigen. (Beilage zum Brief an Hedwig Müller vom 16.3.1935)

Als Quintesszenz möchte ich argumentieren: Tucholsky war vor allem Antimilitarist. Seine pazifistischen Ansichten beruhen vor allem auf diesem Antimilitarismus und weitaus weniger auf einer gewaltfreien Weltanschauung.

Abschließend noch ein paar Worte zum wohl berühmtesten Tucholsky-Zitat (nach oder neben der leider ebenfalls zur Phrase verkommenen Was darf die Satire?-Pointe). Spannend an diesem Satz ist vor allem seine Rezeptionsgeschichte, die von Anfang an auch eine juristische war.

Eine gute Zusammenfassung der Debatten in Weimar und Bonn/Berlin findet sich bei Michael Hepp und Viktor Otto. Ihr Buch ist bei Google Books zugänglich, vielleicht hat es auch eine Bibliothek in der Nähe.

Auf die juristische Debatte möchte ich nicht groß eingehen, zum einen, weil ich die für die Pazifismus-Frage für zweitrangig halte und zum anderen, weil ich da nicht wirklich kompetent bin. Und sie ist in den letzten dreißig Jahren tatsächlich weitergegangen. Wenn ich die Kommentare richtig verstehe, dann damit, dass die Jurisprudenz weitgehend versucht, das BVerfG-Urteil zu umgehen. Ich meine zu beobachten, dass die herrschende Meinung hier die Begründung des BVerfG nicht überzeugend findet.

Ein juristischer Punkt scheint mir aber für das Verständnis des Zitates wichtig zu sein: Die Mord-Definition der Weimarer Republik war eine deutlich andere als unsere heutige, die ja auf der Nazi-Definition von Mord beruht. Seinerzeit lautete die juristische Definition:

Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.3

Das ist natürlich eine ganz andere Diskussionsgrundlage als die heutige Morddefinition mit ihrem Nazi-Geraune von niederen Beweggründen und sittlichem Empfinden.4 Und wir dürfen davon ausgehen, dass Dr. iur. Kurt Tucholsky, der während der Weimarer Republik viel zur Justiz publizierte, sich der Definition vollkommen bewusst war.

Zum Zitat selbst gibt es gar nicht so wahnsinnig viel zu sagen. Es ist ein Kernpunkt bei Tucholskys Position zum Soldatentum, dass er es strikt ablehnt, den Menschen in einen „Zivilisten“ und einen „Soldaten“ aufzusplitten. Auf das Individuum bezogen nicht eben subtil zu sehen in Kleine Begebenheit (1921). Und diese Auffassung bezieht sich dann eben auch auf die gesellschaftliche (und implizit dann eben auch juristische) Bewertung.

Im „Soldaten sind Mörder“-Text Der bewachte Kriegsschauplatz exerziert er genau das durch. Und das war es eigentlich auch schon, der Rest ist Aufregung. Tatsächlich entsteht die Bedeutung ganz klar erst durch die Rezeption, die zu Freisprüchen sowohl in der Weimarer wie auch in der Bonner und der Berliner Republik führte.

Es ist äußerst spannend, die Reaktionen zu vergleichen und ich finde es geradezu bedauerlich, wie er zu einer äußerst unterkomplexen Phrase der Friedensbewegung wurde. Aber für Tucholskys Pazifismus-Verständnis ist der Satz geradezu banal. Und leider ist seine Verwendung heute ebenfalls banal – verkommen zur Sticker- und Posterphrase, die zu nichts verpflichtet, schon gar nicht zum Nachdenken.

Textliste zum Weiter- und Nachlesen:

  1. Tatsächlich ginge das vermutlich inzwischen sogar, sobald die Gesamtausgabe mal digital vorliegt, könnte man mit den überlieferten Texten und Briefen ein LLM trainieren – das ganze kombiniert mit den Bildern, die wir haben und wir könnten wären schon sehr nah an den einschlägigen Star Trek-Episoden. Was noch fehlt: Tonaufnahmen. Das ist wirklich tragisch, denn er soll mitreißend gewesen sein. ↩︎
  2. Wer sich genauer dafür interessiert, wie sich Tucholsky verhalten hat, als er in seinem Leben tatsächlich einmal real vor der Frage stand, wie er sich im Krieg verhalten soll, dem sei der Ausstellungsband Böthig/Sax: Wo waren Sie im Kriege, Herr- ? (Begleitband zur Ausstellung im Kurt Tucholsky Museum Rheinsberg 2015) empfohlen. ↩︎
  3. aus dem Wikipedia-Artikel zum Tucholsky-Zitat ↩︎
  4. siehe hierzu beispielsweise Philipp Preschany: Über die Notwendigkeit einer Reform des Mordtatbestands (§ 211 StGB) aus rechtsgeschichtlicher Sicht in: Kriminalpolitische Zeitschrift 4/2023 ↩︎

Frieden schaffen nur mit Waffen?!

Sign of Calle de la Paz (street) in Centro district in Madrid (Spain). Tilework by Alfredo Ruiz de Luna. Luis García, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Die Mutter, die in einigen zwanzig Jahren an der zerkrümmten Leiche eines kleinen Kindes heulen wird, neben sich den Schlauch einer unnützen Sauerstoffflasche und einen bedauernden Arzt: »Gegen dieses Giftgas, gnädige Frau, sind wir zur Zeit noch machtlos – Ihr Kind ist nicht das einzige Opfer in der Stadt . . . « – diese Mutter wird sich in ruhigen Stunden immerhin fragen dürfen, wo denn eigentlich der vielverschriene Pazifismus in den letzten zwanzig Jahren gewesen sei; ob wir denn nichts getan hätten; ob es denn keinen Krieg gegen den Krieg gebe . . .1

Kurt Tucholsky, 1927

Die pazifistische Bewegung steht hierzulande vor einem grandiosen Scherbenhaufen. Wer heute noch medienwirksam das Wort Frieden in den Mund nimmt, mag sich selbst als einsamen Rufer in der Wüste wahrnehmen – tatsächlich aber ist die Chance, dass es sich dabei um Menschen handelt, die eine sehr eigene Wahrnehmung der Welt haben, ziemlich groß.

Denn erstaunlicherweise erleben wir eine Hegemonie des militärischen Standpunktes, den ich vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. Dagegen halten – wohlgemerkt wahrnehmbar – scheinbar nur noch Menschen, deren Moralkompass sich an merkwürdigen Polen orientiert. Aber es ist doch keineswegs so, dass es zwischen Wir rüsten auf, bis bei Rheinmetall keiner mehr weiß, wohin mit den Sektkorken und Der arme Wladimir, alle sind so böse zu ihm keine Bandbreite an Alternativen gäbe. Genauso übrigens – aber da kenne ich mich leider so wenig aus, dass ich hierzu keine Stellung nehmen werde – wie es zwischen Bibi Netanjahu Teufelskerl! und Unterstützt die Freiheitskämpfer der Hamas ja durchaus Positionen gibt, die eingenommen werden können. Wie ist es soweit gekommen? Und was nun?

Mit Lammsgeduld und Blöken kommt man gegen den Wolf nicht an.2

Die pazifistische Bewegung moderner Prägung entstammt den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Diese Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts3 hat gerade im Deutschen Reich Bewegungen gefördert, die den Krieg durchaus nicht mehr als notwendigen Bestandteil der internationalen Politik sahen. Es waren nicht zuletzt die massiven Verheerungen, die schweren physischen und psychischen Schäden, die dieser erstmals vollständig in industriellem Ausmaß betriebene Krieg hinterließ, die zu einem Erwachen von pazifistischen Bewegungen führte. Und zwar von Bewegungen, die nicht mehr esoterisch-welterweckend in der Abkehr von der Moderne predigten, sondern die konkret und im Rahmen der Welt, wie sie nun einmal ist, nach Lösungen suchten.

Diese Bewegungen waren von Anfang an international und weltanschaulich durchaus divers. Es gab unzählige Friedenskongresse und Kundgebungen und Artikel und und und…

Ich möchte das hier gar nicht im Detail darstellen, denn eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie scheiterten. Wie wir alle wissen, werden die Weltkriege seit 1939 gezählt. Schaut man aber in die Schriften und Beiträge dieser Zeit, so lässt sich erstaunlicherweise feststellen: Da wurde sehr viel erkannt und sehr viel konzeptioniert – da sind eine Menge Ideen, die auch die Friedensforschung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen hat. Gedanken zu einer gemeinsamen europäischen Zukunft nahmen hier zum Teil sehr konkrete Formen an.4

Was aber geschah tatsächlich? Eines nach dem anderen kippten die Länder Europas in autoritäre Regime, in Diktaturen, in den Faschismus. Und zwar mit Ansage und Anlauf. Wie konnte das geschehen?

Im eingangs zitierten Text von Kurt Tucholsky Über wirkungsvollen Pazifismus im Jahr 1927 geht es wie folg weiter:

Tatsächlich wird der Pazifismus von den Mordstaaten sinnlos überschätzt; wäre er halb so gefährlich und wirkungsvoll, wie seine Bekämpfer glauben, dürften wir stolz sein. Wo stehen wir –?

Die historische und theoretische Erkenntnis der anarchischen Staatsbeziehungen ist ziemlich weit fortgeschritten. Die Friedensgesellschaften der verschiedenen Länder, die inoffiziellen Staatsrechtslehrer, Theoretiker aller Grade arbeiten an der schweren Aufgabe, aufzuzeigen, wo die wahre Anarchie sitzt. […] Immer mehr zeigt sich, was wahre Kriegsursache ist: die Wirtschaft und der dumpfe Geisteszustand unaufgeklärter und aufgehetzter Massen.

Und da scheint mir auch heute, nach Jahrzehnten intensiver und erkenntnisreicher Friedensforschung tatsächlich nicht das Problem zu liegen: Wir wissen sehr gut, was Kriege verursacht, wie sie geführt werden und was sie stützt. Ob Tucholskys Einschätzung so ohne weiteres zu unterschreiben ist, sei dahingestellt – denn damals wie heute gilt: Es mangelt nicht an Erkenntnis, es mangelt nicht an Wissen. Nein: Die Pazifisten dringen nicht durch, sie schaffen es nicht, nennenswert zu handelnder Politik beizutragen, es gelingt ihnen nicht, Menschen zu erreichen – kurz: Die pazifistische Bewegung wirkt nicht.

Theoretische Schriften über den Staatsgedanken des Pazifismus, Diskussionen über dieses Thema müssen sein – sie bleiben völlig wirkungslos, wenn sie nicht in die Terminologie, in die Vorstellungswelt, in das Alltagsleben des einzelnen übersetzt werden.

Es mag ganz nett sein, sich jedes Jahr zu Ostern zu versichern, wie schlimm der Krieg ist – aber Fakt ist doch: Von Pershing bis Tomahawk hat die Friedensbewegung in diesem Land keine Stationierung verhindert. Und selbst die großen, inzwischen aufgekündigten Abrüstungsverträge entstanden auf wirtschaftlichen und nicht auf friedensbewegten Druck hin.

Und warum nicht –?

Weil wir nicht die Sprache der Leute reden.5

Die Friedensbewegung en gros hat – aus meiner Sicht – die Fehler der Zwischenkriegszeit wiederholt. Nicht, weil sie nicht radikal genug gewesen wäre oder nicht deutlich genug gezeigt hätte, wie furchtbar Krieg ist. Sie hat es nie geschafft, eine Sprache zu entwickeln, die wirkmächtig genug wäre, wirklich bis in die Tiefe der Gesellschaft zu wirken. Ihre Wirkung reicht doch noch nicht einmal bis zu ihren parlamentarischen Verbündeten, wenn wir uns anschauen mit welcher Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit Menschen wie Anton Hofreiter über Modellvarianten der Schwerartillerie reden. Diesem Fakt gilt es sich zu stellen. Egal, wie oft man sich auf Veranstaltungen aller Art tief in die Augen schaut und feststellt, dass ja alle miteinander gegen den Krieg sind. Nach draußen! Dahin muss der Blick und das Wort gehen, dahin, wo es weh tut, wo Menschen im Krieg etwas Heroisches, Notwendiges oder Unvermeidbares sehen. Und darum noch einen Absatz aus dem hier permanent zitierten Text des Hausheiligen dieses Blogs (ja, das ist ein ganz dezenter Lesehinweis auf den Gesamtext):

Was die Generale mit ihren ehrfurchtsvoll gesenkten Degen, mit Fahnen und ewigen Gasflammen; mit Uniformen und Hindenburg-Geburtstagsfeiern; mit Legionsabzeichen und Filmen heute ausrichten und ausrichten lassen, ist das schlimmste Gift. Entgiften wir.

Das kann man aber nicht, wenn man, wie das die meisten Pazifisten leider tun, dauernd in der Defensive stehen bleibt, »Man muß den Leuten Zeit lassen –« und: »Auch wir sind gute Staatsbürger –« Ich glaube, daß man weiterkommt, wenn man die Wahrheit sagt […]

Wir kennen den Geisteszustand, der in allen Ländern im ersten Kriegstaumel geherrscht hat. Ihn hat man heraufzubeschwören, ihn genau auszumalen – und ihn zu bekämpfen. Prophezeit: so und so wird es sein. Ihr werdet zu euern sogenannten Staatspflichten gezwungen werden, die nichtig und verdammenswert sind – befolgt sie nicht. Ihr werdet eingeredet bekommen, daß drüben der Feind steht – er steht hüben. Man wird euch erzählen, daß alle Letten, Schweden, Tschechen oder Franzosen Lumpen seien – die Erzähler sind es. Ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig; ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig; ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig.

Und die Fahne, die da im Wind flattert, weht über einem zerfetzten Kadaver. Und wenn euch ein Auge ausgeschossen wird, bekommt ihr gar nichts oder sechzehn Mark achtzig im Monat. Und jeder Schuß, den ihr abfeuern müßt, ist ein Plus im Gewinnkonto einer Aktiengesellschaft. Und ihr karrt durch den Lehm der Straßen und stülpt die Gasmasken auf, aber ihr erntet nicht einmal die Frucht eures Leidens. Und die wahre Tapferkeit, der echte Mannesmut, der anständige Idealismus des guten Glaubens – sie sind vertan und gehen dahin. Denn man kann auch für einen unsittlichen Zweck höchst sittliche Eigenschaften aufbringen: aufopfern kann man sich, verzichten, hungern, die Zähne zusammenbeißen, dulden, ausharren – für einen unsittlichen Zweck, Getäuschter, der man ist, Belogener, Mobilisierter . . . seiner primitiven Eigenschaften, der barbarischen.

Stoßen wir vor –? Sagen wir das den Leuten –?6

Die Antwort muss damals wie heute lauten: Nein. Wir stoßen nicht vor. Das muss die bittere Erkenntnis sein, wenn wir uns die rasche Militarisierung unserer Gesellschaft in den letzten Jahren anschauen. Mit dem Abtreten der letzten Kriegsgeneration aus der politischen Verantwortung sind rasant Dinge wieder möglich geworden, die vorher undenkbar schienen. Deutsche Soldaten im Auslandseinsatz erscheinen uns inzwischen völlig normal, ja wir diskutieren sogar, ob sie denn auch effektiv genug sind. Selbst Werbung der Bundeswehr an Schulen ist kein No-Go mehr. Wieder einmal wussten die Militaristen sehr viel besser, wie das Spiel gespielt wird. Und als der Krieg mit voller Wucht in das Herz Europas zurückkehrte, konnten sie ernten, was sie gesät haben. Wir auch schon vor 110 Jahren erwachten die Pazifisten viel zu spät:

Am 1. August 1914 war es zu spät, pazifistische Propaganda zu treiben7

Stellt sich jetzt also die Lenin’sche Frage: Was nun?

Kriegspropaganda allerorten

Ich möchte mich jetzt einmal auf den Elefanten im Raum dieses Textes konzentrieren: Den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Aus dem simplen Grund, dass hier die Sachlage – entgegen allen Geraunes – simpel ist. Und gleichzeitig die Schwäche der Friedensbewegung offenbar wird, sich in Freund-Feind-Schemen zu verstricken, die letztlich der militaristischen Logik folgen. Und deren Endkonsequenz ist, dass sie heute Partei nimmt. Anstatt also Wege aus dem Krieg zu zeigen, anstatt Ansätze für eine Friedenspolitik zu liefern (nochmal: Es liegen Erkenntnisse aus Jahrzehnten Forschung vor!), verstrickt sie sich in simplifizierenden, Realitäten ignorierenden Ostermarschträumen und prangert den Imperialismus im Auge des anderen an, um ihn vor dem Kopf des einen zu ignorieren.

Recap: Was bisher geschah

Die Historie des russischen Krieges ist hinlänglich nachzulesen, ich möchte ein paar Schlaglichter herausgreifen. Nach dem Ende der Sowjetunion entstand die Situation einer eigenständigen Ukraine, die sich urplötzlich im Kreise der Atommächte wiederfand und eine stattliche Flotte im Schwarzen Meer ihr eigen nennen konnte, inklusive zweier im Bau befindlicher Flugzeugträger.

Es folgten mehrjährige Verhandlungen, an deren Ende die Ukraine ihren Flottenanteil verkaufte, den Flottenstützpunkt verpachtete und die Atomwaffen übergab.

Dass Verträge mit Russland eher so allgemeine Richtlinien sind und die russische Seite sich durchaus zu nichts verpflichtet fühlt, zeigte sich bereits 2006, als die Ukraine doch tatsächlich Schritte unternahm, um eine NATO- und eine EU-Mitgliedschaft zu erlangen.

Ausriss aus der Seite 1 der Tageszeitung junge Welt in der Ausgabe vom 15. Mai 2006 mit dem Artikel-Teaser
Schneller Marsch | Besuch in Warschau: Der ukrainische Präsident Juschtschenko will rasch in NATO und EU

Sehr plötzlich verlangte Gazprom eine sofortige Tilgung offener Rechnungen, erhöhte massiv den eigentlich vereinbarten Erdgaspreis und drohte mit Lieferstopp, der dann auch folgte. Das jahrelange Tauziehen endete erst 2010, als inzwischen ein russlandfreundlicher Präsident in Kyjiw amtierte und – vor allem – das EU-Assoziierungsabkommen nicht ratifiziert wurde. Plötzlich war wieder ein niedrigerer Erdgaspreis möglich. Nach dessen Sturz und der russischen Invasion auf der Krim galt das alles wieder nicht mehr. Das russische Gebahren wurde übrigens sogar international juristisch aufgearbeitet, mit dem Ergebnis, dass der Ukraine 2,5 Milliarden Dollar zustehen. Dieses Vorgehen der russischen Gas-Diplomatie ist nicht einmal etwas besonderes im Verhältnis der beiden Nachbarstaaten, auch in Europa hat man sich mit solchen Verträgen, die im Zweifelsfall das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen, knebeln lassen.

Worauf ich hinauswill: Das russische Verhalten ist glasklar imperialistische Politik und daraus hat Wladimir Putin niemals ein Geheimnis gemacht. Es war und ist erklärtes Ziel, den russischen Einflussbereich mindestens auf die Größe der ehemaligen Sowjetunion auszudehnen und dabei wird jedes Mittel gezogen, bis zum Krieg. Auch das wissen wir schon lange und unsere osteuropäischen Nachbarländer wurden nie müde, darauf hinzuweisen.

Russland hat – und das ist unstrittig – jeden Vertrag der letzten 30 Jahre mit der Ukraine gebrochen. Die wichtigsten wahrscheinlich der Freundschaftsvertrag von 1999 und das Budapester Memorandum von 1994, die beide die territoriale Integrität, die Anerkennung von Grenzen und der Souverinät feststellten.

Keine völkerrechtliche Vereinbarung hat Russland davon abgehalten, nicht nur gegen die expliziten, Ukraine-bezogenen Verträge zu verstoßen, sondern auch gegen übergeordnete Verträge wie die KSZE-Schlussakte oder die Charta der Vereinten Nationen.

Explizit verbotene Handlungen wie wirtschaftliche Erpressungsmaßnahmen, Invasion und Annexion des Staatsgebietes, mit deren Zusicherung die Ukraine auf Atomwaffen verzichtet hat, wurden dennoch begangen.

Es ist wirklich selten, dass die Frage, wer hier der Agressor ist, so eindeutig und klar zu beantworten ist. Und zwar, das sei hier explizit noch einmal hervorgehoben, ganz unabhängig davon, dass die Ukraine gewiss kein demokratischer Musterstaat ist. Das spielt bei dieser Frage überhaupt keine Rolle. Wir haben uns aus guten Gründen darauf geeinigt, dass man nicht einfach in Länder einmarschiert, deren Regierung einem nicht passt. Seit 2014 führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine, seit 2022 flächendeckend. Punkt.

Wo kann hier die pazifistische Perspektive liegen?

Welche Antworten kann die Friedensbewegung hier geben? Sie kann möglicherweise viele geben, aber wir hören sie nicht.

Bankrotterklärung

Bisher war es für die westliche Friedensbewegung sehr einfach: Der böse US-amerikanische Imperialismus greift per Kommandooperation oder auch ganz offen dort ein, wo er seine Interessen bedroht sieht. Im Zweifelsfall holt er sich sogar noch die Erlaubnis der Weltgemeinschaft mit gefälschten Beweisen dafür ab. Chile, Nicaragua, Vietnam, Irak etc. etc.

Dagegen lässt sich protestieren, es gibt Medien, die das offenkundig machen und auf das Übel zeigen. Das ist richtig und mehr als notwendig. Es hat sich aber in den 70 Jahren des Protestes zweierlei gezeigt:

a) Günter Grass hatte 1967 einen Punkt:

Aber es gibt, so lesen wir,
Schlimmeres als Napalm.
Schnell protestieren wir gegen Schlimmeres.
Unsere berechtigten Proteste, die wir jederzeit
Verfassen, falten, frankieren dürfen, schlagen zu Buch.
Ohnmacht, an Gummifassaden erprobt.
Ohnmacht legt Platten auf: ohnmächtige Songs.
Ohne Macht mit Gitarre. –
Aber feinmaschig und gelassen
wirkt sich draußen die Macht aus.8

Die Proteste dagegen hatten bald etwas routiniertes. Sie schienen kaum noch auf den Einzelfall bezogen zu sein, sondern man konnte bequem die Schilder vom letzten Protest nochmal verwenden. Diese Routine, wenn nicht schon Ritualisierung, machte Friedensproteste in Ost und West erstaunlich ähnlich – und das ist bemerkenswert, denn im Osten waren die nun wirklich echte staatliche Rituale. Auch ich bin als Kind mit der Picasso-Taube demonstrieren gegangen und natürlich was der Imperialismus als Kapitalismus im Endstadium und damit Verteidiger des Faschismus (wenn nicht sogar selbst faschistisch!) der große Feind des friedenswilligen Sozialismus. Und deshalb war es natürlich auch nötig, die Kinder zeitig zu militarisieren, damit sie auch gerne den Panzer zur Verteidigung des Friedens besteigen – sorry, ich schweife ab.

Jedenfalls aus meiner Beobachtung gibt es von dort eine direkte Entwicklungslinie zu

b) einem reflexhaften Anti-Amerikanismus.

Es gibt irrsinnig viele Gründe, die US-amerikanische Außenpolitik und ihr offizielles und inoffizielles Handeln zutiefst zu verbscheuen. Und nein, natürlich ist die US-Politik nicht von irgendwelchen Werten geleitet, sondern im Wesentlichen von Interessen – und auch hier bevorzugt von ihren eigenen. Das führt zu widerlichsten Ergebnissen und die sind hart und offen anzusprechen und zu kritisieren. Gerade aus antiimperialistischer Sicht (und nur eine solche Sicht kann eine pazifistische Weltanschauung annehmen, Imperien sind per se nicht friedensfördernd, auch wenn wir in unserer Erinnerungskultur immer wieder so tun) gibt es mehr als genug Gründe, ganz genau hinzuschauen, wenn die USA politisch tätig werden.

Ein Antiimperialismus, der allerdings völlig übersieht, dass die USA nicht die einzige Weltmacht sind und auch keineswegs die einzige, die sich außenpolitische widerlichster Praktiken bedient, verdient seinen Namen nicht. Wer nicht erkennt, dass die Abhängigkeitspolitik, die Russland über Jahrzehnte betrieben hat und die China seit einigen Jahrzehnten betreibt (Afrika, anyone? Südasien, anyone? Südamerika, anyone?), Imperialismus in Lehrbuchform ist, pflegt keine kritische Weltsicht, sondern Vorurteile. Wer übersieht, wie Russland immer wieder militärisch eingegriffen hat, wenn Nachbarländer nicht gespurt haben, wer nicht sieht, dass Russland und nur Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, pflegt keine kritische Weltsicht, sondern Vorurteile. Die USA sind an vielem Übel Schuld. Daran, dass Putin gerne die Sowjetunion wieder haben will und dafür alles unternimmt, was ihm nötig erscheint, aber nicht.

Es waren nicht die USA, die auf die Krim, in Donezk und Luhansk einmarschiert sind. Es waren nicht die USA, die mit einem Handstreich Kyjiw erobern wollten und in Butscha Dorfbewohner massakriert haben.

Ein Antiimperialismus, eine Friedensbewegung, die Ernst genommen werden will, muss in der Lage sein, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch wenn der Lieblingsfeind gerade mal nicht Schuld hat.

Es gibt keinen, keinen einzigen Grund, der es rechtfertigt, einen Krieg zu beginnen. Eine Friedensbewegung, die es nicht schafft, sich auf diesen Nenner zu einigen, ist keine. Wer allen Ernstes meint, der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei nur das Ergebnis einer Provokation des Westens, insbesondere der USA, erklärt doch letzten Endes: Es gibt Situationen, da muss ein Land seinen Nachbarn überfallen. Und sorry, aber das mag vieles sein, pazifistisch ist das nicht.9

Was hier geschieht, ist die Rechtfertigung eines Angriffskrieges. Und das ist: Kriegspropaganda.

Scheinargumente

Es gibt immer wieder Argumente, die vorgebracht werden, um zu belegen, es sei eigentlich ganz einfach und in der Hand des Westens, diesen Krieg zu beenden. Sie gleichen sich in Muster und Stoßrichtung, darum nur mal zwei willkürlich herausgegriffen. Ziel ist es immer, Agens und Reagens zu vertauschen und damit die Handlungsoptionen zu verschieben.

Gegen eine Atommacht kann man nicht gewinnen

Dieses Argument kommt sehr realpolitisch daher. Und ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war davon geprägt, der Atomwaffensperrvertrag beruht darauf. Und ja, Russland hat sich bisher nicht an die Verträge gehalten, warum sollten sie urplötzlich damit anfangen. Das Budapester Memorandum, dass explizit besagt, Atomwaffen nicht gegen Nicht-Atomwaffenmächte einzusetzen, wurde ja bereits in anderen Punkten gebrochen, warum nicht auch in diesem? Also ja, absolut möglich, dass Russland gegen die Ukraine Atomwaffen einsetzen wird. Doch lasst uns hier mal kurz innehalten: Wer hat hierfür die Handlungsoptionen? Es ist einzig und allein Russlands Entscheidung, ob es den Angriffskrieg weiter eskaliert. Es gibt eine ganz einfache Option, den Krieg sofort zu beenden: Sich aus der Ukraine, in der sie nichts zu suchen haben, zurückzuziehen. Als ob irgendeine Handlung der Ukraine oder des Westens Russland hindern würde! Selbst die kuschelzahme deutsche Appeasement-Politik seit den 90ern hat nichts, gar nichts verhindert. Den Krieg in Tschetschenien nicht, in Georgien nicht, in der Ukraine nicht. Und wenn es Putin oder sonstwem in den Kopf kommt, wird die Bombe fallen. Und wenn sie sich ausdenken, dass in der Ukraine Atomwaffen stehen. Dass Russland eine Atommacht ist und man ihm deshalb natürlich erlauben muss, seine Nachbarn mit Krieg zu überziehen, weil die ja eh nicht gewinnen können: Das ist die Rechtfertigung eines Krieges und mithin: Kriegspropaganda.

Frieden also erst, wenn genug Russen tot sind?

Ein Argument, das besonders gerne gegen Waffenlieferungen an die Ukraine gebracht wird. Und das ist nun ein Musterbeispiel für die Umkehrung von Aktion und Reaktion. Es bräuchte kein Russe mehr im Krieg sterben, wenn der Aggressor das tun würde, was nach Völkerrecht geboten wäre: Sich zurückziehen. Niemand hat so viel Macht wie Putin, diesen Krieg zu beenden. Er müsste es nur befehlen. Dass er das aus innenpolitischen Gründen nicht kann, weil er diesen Krieg propagandistisch derart aufgeblasen hat, dass selbst ihm das Schönreden schwer fallen dürfte, ändert nichts am Fakt: Er hat den Einmarsch befohlen, er kann den Abmarsch befehlen. und sofort müsste kein russischer Soldat mehr an der Front sterben. Nicht mal durch deutsche Panzer. Man kann die Waffenlieferungen kritisch sehen und Pazifisten müssen Waffenlieferungen kritisch sehen. Aber bitte auf Grundlage der tatsächlichen Verhältnisse. Und die besagen: Es sterben Russen und Ukrainer zu tausenden und täglich – aus einem einzigen Grund: Weil Russland die Ukraine überfallen hat. Es ist Russland, das derzeit seine alte Kriegstradition aufgreift und so lange Soldaten ins Feuer schickt, bis der Gegner keine Munition mehr hat. Sie könnten sofort damit aufhören. Es ist geradezu zynisch, in diesem Punkt die Verhältnisse umzudrehen. Dass Russen an der Front sterben, liegt ausschließlich in der Verantwortung Russlands. Zu behaupten, daran sei irgendjemand anderes als die russische Führung Schuld, betreibt die Rechtfertigung eines Krieges und mithin: Kriegspropaganda.

Perspektiven

Am 1. August 1914 sei es zu spät für pazifistische Propaganda gewesen, heißt im obigen Tucholsky-Zitat. Das gilt natürlich auch für den 1. September 1939 und für den 24. Februar 2022 und jedes beliebige andere Kriegsbeginnsdatum. Übrigens geht das Zitat weiter:

war es zu spät, militaristische zu treiben – tatsächlich ist auch damals von den Militaristen nur geerntet worden, was sie zweihundert Jahre vorher gesät haben. Wir müssen säen.10

Nun haben die Pazifisten nicht – oder zumindest nicht genug – gesät. Dennoch gilt es aber, weiter nach Alternativen zu suchen. Pazifismus hat derzeit keinen guten Klang, wie auch Heribert Prantl erst jüngst anprangerte. Auch Prantl benennt in seinem Kommentar das Dilemma des Pazifismus im Krieg:

Wenn der Krieg beginnt, sind die entscheidenden Fehler zumeist schon gemacht worden. Der Pazifismus ist daher der große und wichtige Widerspruch gegen den Krieg, er ist die radikale Anklage gegen den alten Spruch, dass der, der den Frieden will, den Krieg vorbereiten müsse. Es ist genau anders: Wer den Frieden will, muss den Frieden suchen – nicht erst im Krieg, sondern lange vorher, bevor er zu köcheln und zu kochen beginnt.11

Nun ist er aber da, der Krieg. Und hämisch werden die Pazifisten gefragt: Na, wohin denn nun mit euren Blümchen und Protestsongs? Helfen die gegen russische Bomben?

Nein, helfen die nicht. Und es sei als Exkurs an dieser Stelle erwähnt: Natürlich müssen wir nach diesem Jahrhundert der Völkermorde, in denen Verbrechen in Dimensionen begangen wurden, die mit militärischer Kriegsführung nichts mehr zu tun haben, anders über Waffeneinsatz reden. Es ist – dies ist eine bittere Erkenntnis – manchmal tatsächlich nur noch mit Waffengewalt zu antworten, weil alles andere noch schlimmer wäre.

Nur: Als Antwort auf Krieg nur Aufrüstung und Kriegsbereitschaft bereitzuhalten, ist Werbung für den nächsten Krieg, mithin: Kriegspropaganda. Hier gilt es entschieden und deutlich gegenzuhalten. Wir brauchen Ideen, wie wir die Zeit nach dem Ukraine-Krieg so gestalten, dass nicht doch noch der nächste Weltenbrand ausbricht. Und die müssen hörbar und wirksam gemacht werden. Die bisherige Strategie: Wir binden Russland ein, wenn wir ihre guten Gas-Kunden sind, werden die schon nichts tun und der Wladimir redet halt nur, der meint das alles gar nicht so – ist gescheitert. Der Wladimir meint das genau so und China hat auch schöne Pipelines. Diese Ideen gibt es, macht sie groß, macht sie laut.

Dann: Dieser Krieg ist zu beenden. Das wird aber nicht funktionieren, indem nach schon gescheiterten Formaten gerufen wird (Minsker Abkommen, erinnert sich noch wer?) Mit Putin wurde selbst nach der Invasion auf die Krim verhandelt und er hat auch dieses Vertragswerk mit Füßen getreten. Ich kann in keinster Weise erkennen, dass mit Putin zu verhandeln ist. Er kann nur gezwungen werden. Militärisch wird er nach Lage der Dinge kaum gezwungen werden können – er mobilisiert einfach so lange Soldaten, bis der Ukraine die eigenen Soldaten oder die Munition ausgeht. Diese menschenverachtende Ausblutungsstrategie ist in der russischen und sowjetischen Militärtradition nicht neu – und wenn wir bedenken, in welch hohen Tönen Putin von den militärischen Glanztaten der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg spricht, stellt das für ihn auch kein moralisches oder sonstiges Problem dar. Es gibt also nur wenige Möglichkeiten: Entweder es greifen weitere Mächte direkt ein – was höchstwahrscheinlich den letzten Weltkrieg auslösen wird. Oder die Ukraine wird irgendwann zur Aufgabe gezwungen und Teil des allseligen Russischen Reiches. Mit unabsehbaren Folgen für die Weltordnung als Ganzer und mit dem wahrscheinlichen Ende der Selbstständigkeit Taiwans. Krieg ist immer eine Lose-Lose-Situation. Ein nicht-militärisches Ende wäre wohl nur zu erwarten, wenn es für mindestens Indien und China im eigenen Interesse sein wird, dass Russland den Krieg beendet. Derzeit profitieren sie aber zu sehr davon (nebenbei, in Sachen Lose-Lose-Situation: Russland hat sich mit diesem Krieg endgültig in die zweite Reihe verabschiedet – das Land ist ganz nützlich als Rohstoff-Lieferant und Absatzmarkt (Nordkorea z.B. wird gerade seine irrsinnige Überproduktion an Militärgütern los, der Iran auch) – aber eine erste Rolle wird es nicht mehr spielen können, denn es hängt jetzt am chinesischen Tropf).

Eine der prägendsten Filmmomente meiner frühen Jugend war eine Szene im bestenfalls mittelmäßigen Film American Shaolin. Nachdem der Protagonist mühsam gelernt hat, dass Kampf kein Mittel der Auseinandersetzung ist, sieht er seinen alten Mobber wieder, der im Ring einen Mitschüler quält und den Protagonisten auffordert, gegen ihn zu kämpfen, erst dann würde er vom Gepeinigten ablassen. Und hier erhält unser Protagonist eine Lehre: Manchen Menschen muss man eine Lektion erteilen, sonst hören sie nie auf. Worauf er in den Ring steigt.

Mich hat das geprägt, weil es nicht nur auf individueller Ebene, sondern eben auch auf staatlicher Ebene immer wieder vorkommt, dass jemand durch keine Regel einzuhegen ist. Dem alles egal ist und der immer wieder kommen wird. Der immer wieder zuschlägt, bis er selbst zu Boden geht – und nichts anderes kann ihn stoppen.

Was macht man mit so jemandem? Wie geht man mit so einem Staat um? Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher: Es gibt Menschen, die das wissen. Und die will ich hören. Die sollen in den Talkshows sitzen und nicht irgendwelche Menschen, die Kriegspopaganda nacherzählen. Denen müssen die Schlagzeilen gehören.

Heute aber, das bringt der Kalender so mit sich, gehören die Schlagzeilen denen, die das Wort Frieden gekapert und zutiefst korrumpiert haben und damit nicht den Frieden, sondern die Grabesstille der Diktatur meinen.

Zum Ausgang noch diese Worte des Hausheiligen dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky:

Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg . . . das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.12

  1. Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: Über wirkungsvollen Pazifismus. erschienen in: Die Weltbühne, 11.10.1927, Nr. 41, S. 555. online verfügbar bei zeno.org ↩︎
  2. ebda. ↩︎
  3. Dieser Begriff birgt einige Komplikationen. Zum einen ist der Krieg natürlich nicht wie eine Tsunami-Welle über den Kontinent geschwappt, sondern hat ganz klare und definierbare Ursachen. Zum anderen ist er durchaus eurozentristisch. Bei allen Auswirkungen, die der 1. Weltkrieg ohne Zweifel global hatte – dieses Schlagwort lässt sich so aber doch nur in einem relativ eng definierten Bereich aufrecht erhalten. Ich verwende ihn hier trotzdem, weil er aus einer Perspektive, die mir an dieser Stelle wichtig ist, treffend sein dürfte: Das Ausmaß der Verheerungen politisch, psychologisch, materiell war für die Masse der europäischen Bevölkerung kaum anders als katastrophal zu nennen. Es ist meiner Meinung nach denn auch kein Zufall, dass es gerade in Deutschland starken Zulauf zu pazifistischen Bewegungen gab. ↩︎
  4. Ganz willkürlich und beispielhaft sei hierzu auf den Aufsatz von Thomas F. Schneider Die Vereinigten Staaten von Europa verwiesen. Zu finden in: King, Ian (Hrsg) »Ein bunt gestrichenes Irrenhaus«. Tucholsky, die Weltbühne und Europa. Leipzig, Weissenfels: Ille & Riemer, 2018 Schriftenreihe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 11), 102–128 ↩︎
  5. Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: Über wirkungsvollen Pazifismus. erschienen in: Die Weltbühne, 11.10.1927, Nr. 41, S. 555. online verfügbar bei zeno.org ↩︎ ↩︎
  6. ebda. ↩︎
  7. ebda. ↩︎
  8. aus: In Ohnmacht gefallen. in: Günter Grass: Gedichte und Kurzprosa, Teil 1. Steidl Verlag Göttingen 2020. ISBN 978-3-95829-446-2, S. 177 ↩︎
  9. Beispielhaft lasse ich mal dies hier: Jürgen Rose: Kriegstreiber unerwünscht. Rede anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz 2024. in: Mansfeller Zeitung, 19. Februar 2024 https://www.mansfeller-zeitung.de/artikel/2024-02/Proteste-gegen-Muenchner-Sicherheitskonferenz ↩︎
  10. Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: Über wirkungsvollen Pazifismus. a.a.O. ↩︎
  11. Heribert Prantl: Pazifisten-Shaming führt in die Sackgasse. in: Deutschlandfunk Kultur, Meinung & Debatte, 22.08.2024 https://www.deutschlandfunkkultur.de/pazifisten-krieg-waffenlieferungen-kommentar-100.html ↩︎
  12. aus: Kurt Tucholsky als Peter Panter: Schnipsel. in: Die Weltbühne, 30.12.1930, Nr. 53, S. 999. online verfügbar unter http://www.zeno.org/nid/2000581880X ↩︎

Leipzig liest: Tucholsky über wirkungsvollen Pazifismus

»Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen.« schreibt Kurt Tucholsky in »Gruß nach vorn« 1926.

Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum uns so viele Texte aus früheren Zeiten so aktuell erscheinen. Sie sind es. Freilich nicht unbedingt, weil die Autor:innen so hellsichtig und prophetisch waren, sondern weil die Menschheit in entscheidenden Fragen einfach nicht vom Fleck kommt.

Und so mag es sinnvoll erscheinen, einmal nachzusehen, ob wir vom Antimilitaristen und Pazifisten Kurt Tucholsky für die heutige Zeit Impulse erhalten können.

Unter dem Motto »Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich.« stellt die Lesung aus dem Sammelband »Die Zeit schreit nach Satire« den Antimilitaristen Tucholsky in den Mittelpunkt – und weil das ein riesiger Bereich seines Schaffens darstellt, steht dabei seine Suche nach wirkungsvollem Pazifismus besonders im Fokus.

Nach der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, als noch niemand wusste, dass wir Weltkriege dereinst zählen würden – etliche es aber ahnten – etablierte sich auch in Deutschland eine wachsende Pazifismusbewegung.

Diese gesellschaftliche Bewegung stellte sich mit der zentralen Forderung »Nie wieder Krieg!« dem tief verankerten Militarismus entgegen. Trotz teils beeindruckender Großveranstaltungen gelang es aber nie, nachhaltig in die ganze Gesellschaft hineinzuwirken.

Die Suche nach einem wirkungsvollen Pazifismus prägte Tucholskys umfangreiches antimilitaristisches Werk. Die Lesung stellt einige seiner Texte dazu vor.

Die Pazifismusbewegung der Weimarer Republik scheiterte. Ahistorische Vergleich verbieten sich – wir müssen nach dem 2. Weltkrieg anders über militärische Interventionen reden.

Aber vielleicht können Tucholskys Texte dennoch dazu anregen, über wirkungsvollen Pazifismus heute nachzudenken. Damit wir die Weltkriege nicht weiter hochzählen müssen.

Details zur Veranstaltung bei Leipzig liest.

Die Woken wollen uns Winnetou wegnehmen

Karl May (1907), Bild von Erwin Raupp, Public domain, via Wikimedia Commons

Da sich der Gefechtsrauch etwas verzogen hat, soll heute mal ein Blick zurück auf die große deutsche Debatte des vorigen Jahres geworfen werden: Die Woken wollen uns Winnetou wegnehmen!

Die Dynamik dieses Diskurses bietet Stoff für reichlich Qualifizierungsschriften in diversen Wissenschaftsdisziplinen, soll hier aber nicht weiter erörtert werden. Vielmehr habe ich das zum Anlass genommen, mal zu schauen was der Hausheilige dieses Blogs – der ja immerhin einer der ersten Jugendgenerationen angehörte, für die Karl May Bestandteil der Sozialisation war – zum ollen Flunkersachsen zu sagen hatte.

Es gibt nicht viele Belegstellen, häufig ist er nur passim erwähnt. Aber ich habe zwei Stellen gefunden, die mir auch heute so einiges erklären.

In der Rezension zu Leo Perutz’ “Der Marques de Bolibar” beschreibt Tucholsky 1920 ein jugendliches Leseerlebnis, das mir sehr vertraut vorkommt, wenn auch in Details abweichend:

Dagegen kommt dann ja nichts mehr auf: Nach Abschreibung der komplizierten Mathematikaufgabe zu morgen lagen wir auf dem Bauch in der schattigsten Ecke des Zimmers, um uns auch ganz sicher die Augen zu verderben, fraßen von einem Teller, der gleichfalls auf der Erde stand, Mandeln, und während wir sie langsam zerkrachten, lasen wir “Die Skalpjäger”.

Dieses Buch heißt bei Jedem anders – aber jeder richtige Junge hat so etwas einmal gelesen. Das muß so sein. Manche lasen Karl May – ich habe es wegen Langweiligkeit nie fertig bekommen -, manche schmökerten Ebers, und manche – o schöne Zeit! – den “Guten Kamerad”. Es war eine dolle Sache: weiter jagte die Geschichte, weiter, weiter, weiter – und Landschaftsschilderungen wurden grundsätzlich überschlagen. Kommt der Reiter durch oder kommt er nicht durch? Alles Andre war gleich.

Diese Sensationen kehren nie wieder.

aus: “Der Marques de Bolibar” in: Die Weltbühne, Jg. 16, Heft 46, 11.11.1920

Ob ein solches Lektüreerlebnis nun wirklich konstituierend für einen “richtigen Jungen” ist, sei mal dahingestellt. Wiedergefunden habe ich mich in der Beschreibung jedenfalls sehr – auch wenn ich tatsächlich zu den juvenilen Karl-May-Lesern gehöre (ich habe aber Liselotte Welskopf-Henrich und Jack London genauso atemlos gelesen). Mir scheint hier ein Erklärungsansatz zu liegen: Dieses mitfiebernde, intensive, plotorientierte Lesen ist eine so tiefe Erfahrung und wird zudem im Laufe der Lebensjahre immer weiter verklärt. Da entsteht ein Identitätskernstück. Dementsprechend werden die Abwehrhandlungen schnell massiv und irrational (wir kennen das aus den Kolonialismus-Debatten um Pippi Langstrumpf oder den Ergebnissen der historisch-kritischen Harry-Potter-Lektüre).

Das ist das eine. Das andere ist: Im Rahmen der eigenen Lektüreverklärung wird dann auch noch der Autor verklärt. Ich habe in meinen Dreißigern nochmal versucht, May zu lesen – das war extrem ernüchternd, mir ist schleierhaft, wie ich das verschlingen konnte, es ist so entsetzlich langweilig. Daraufhin beschloss ich, meine jugendliche Begeisterung als solche in Erinnerung zu behalten.

Diesen Weg gehen aber durchaus nicht alle und auch schon vor 100 Jahren gingen ihn nicht alle:

Es gibt Leute, denen dieser Karl May – mir ist der Bursche immer als Ausbund der Fadheit vorgekommen – lieb und teuer ist. Aber sie sagens nicht. Sie malen ihm eine Glorie an: ihr meint, das sei einfach ein Unterhaltungsschriftsteller für die reifere Jugend gewesen? Gott bewahre, ein Philosoph war das, ein Mann mit den allegorischsten Hintergedanken, ein schwerer, vollbärtiger, sächsischer Denker, weiland zu Radebeul, jetzt in der Unsterblichkeit.

aus: Nette Bücher. in: Die Weltbühne, Jg. 14, Heft 35, 29.8.1918

Das klingt dann doch schon sehr ähnlich den Statements von Karl-May-Verlag und Karl-May-Gesellschaft zur überragenden Bedeutung Karl Mays. Schade bleibt aus meiner Sicht aber weiterhin, dass sich die Debatte so schnell vom ursprünglichen Thema (nämlich: Warum es falsch ist, die indigene Bevölkerung Nordamerikas so darzustellen als lebten wir noch im Kaiserreich) entfernt hat. Wir hätten da alle sehr viel Lehrreiches erfahren können.

Zum Abschluss dieses Inhaltsblocks noch einen kleinen Spengler-Diss Tucholskys, der angesichts der Kenntnis seiner Position zu May noch etwas mehr Spaß macht:

Spengler, dieser Karl May der Philosophie. Er hat keine Heldentaten verrichtet, er hat sie nur prahlend aufgeschrieben. May war übrigens bescheidener und schrieb um eine Spur besser.

aus: Schnipsel. in: Die Weltbühne, Jg. 28, Heft 32, 9.8.1932

Macht unsere Bücher billiger! – Neues aus der Wrobelei

Der zweite Newsletter näherte sich schon etwas eher dem an, was ich mit dem Projekt vorhabe. Nachzulesen ist der zweite Newsletter der Wrobelei, in dem Tucholsky aktuelle Neuerscheinungen bespricht, wir an Mary Gerold erinnern und uns fragen, was Röhm mit Szájer zu tun hat, bei substack, wo auch die Möglichkeit besteht, den Newsletter direkt zu abonnieren.

Context is king. – Neues aus der Wrobelei

Zitate: Woher sie kommen und wohin sie führen können.

Der erste Newsletter stand unter dem Motto »Kontext ist wichtig« und beinhaltet eine kleine Zitatekunde, die mir möglicherweise etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Nachlesen könnt ihr den Beitrag bei substack, wo auch die Möglichkeit besteht, den Newsletter direkt zu abonnieren.

If you love someone…

Tucholsky Gruß nach vorn Cover Hörbuch von Steffen Ille

Der 3. Oktober ist, das ist allgemein bekannt, der Tag der Südharzreise. Landauf, landab treffen sich hunderte, ach was, tausende Menschen zu Lesekreisen, um rituelle Lesungen ihrer Lieblingskapitel aus dem grandiosen Reisebericht vorzunehmen.

Es ist ein bezauberndes Schauspiel.

Auf den Tag genau seit vier Jahren steht denn auch das zugehörige Hörbuch unter der Lizenz CC by-nc-sa 4.0 und ist damit frei zur nichtkommerziellen Nutzung.

Dies inspirierte mich nun, auch den heutigen 3. Oktober der alten Weisheit »If you love somebody set them free« zu widmen und das bereits vor sieben Jahren veröffentlichte Tucholsky-Hörbuch »Gruß nach vorn« ebenfalls archive.org anzuvertrauen und zur freien Verfügung zu stellen.

Ich wünsche also viel Vergnügen mit dem Hausheiligen dieses Blogs und freue mich auf spannende Projekte, die mit diesen Aufnahmen vielleicht entstehen mögen.

Ratschlag zum nächsten SPD-Parteitag

Wahlplakat der SPD zur Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 Entwurf: Arnold Schütz Druck: Kunstanstalt Franz Xaver Schroff vorm. Wilh. Fiek Augsburg, 1919 Lithographie 109,7 x 79,6 cm © Deutsches Historisches Museum, Berlin Inv.-Nr.: P 61/1634

Es stehen ab dem Herbst 2018 wieder Landtagswahlen an, wahrscheinlich der Auftakt zu einer weiteren Serie von enttäuschenden und unerklärlichen Niederlagen für die deutsche Sozialdemokratie. In Sachsen ist nicht einmal mehr sicher, dass sie es überhaupt noch in den Landtag schaffen.

Und das alles trotz eines tollen Hashtags und einer tapfer gegen Scheinprobleme ankämpfenden Vorsitzenden. Aber wie so oft, stößt die Partei, die doch nur das Gute will, dabei auf Unverständnis:

Patrick Bahners auf Twitter

Die SPD, die ewig Unverstandene. Nun ist es leicht, auf jemanden einzuschlagen, der bereits am Boden liegt und bei allen Schwächen, die diese Partei hat, so kann es doch nicht im Interesse der Demokratie sein, sie wieder einmal untergehen zu lassen. Denn – so schmerzlich diese Erkenntnis sein mag – sie ist seit 150 Jahren das Herz der deutschen Demokratie. Dass sie dies zunehmend mit stolzgeschwellter Brust als Argument dafür nimmt, so weiterzumachen wie gehabt anstatt als Ansporn, sich wieder aktiv einzubringen, ist freilich eine nicht weniger schmerzliche Erkenntnis.

Daher ein wohlmeinender Ratschlag für den nächsten Parteitag:

Aber nach einem Jahre von Fehlschlägen und politischem Trabantentum in der Sphäre Merkels, und nachdem sich gezeigt hat, daß auch die Wählermassen nicht mehr geneigt sind, der Partei Blankowechsel auszustellen, muß die Führerschaft darauf verzichten, diesen Kongreß als ein Spektakel mit verteilten Rollen aufzuziehn. Das historische »Schweineglück« der Sozialdemokratie hat inzwischen gründlich die Partei gewechselt.

In frühern Zeiten waren diese Parteitage Stechbahnen des Geistes. Jetzt sind sie schon Iange nur noch Kontrollversammlungen, Schaustücke von Funktionären für Funktionäre, mit einer sorgsam rationierten Opposition.

Dies ist kein Zitat aus einem aktuellen Leitartikel, dieser wohlmeinende Ratschlag an die SPD stammt von Carl von Ossietzky, der dies am 2. Juni 1931 in der »Weltbühne« anlässlich des Leipziger Parteitags mit auf den Weg gab – und natürlich nicht von Merkel, sondern von Brüning sprach (der das Regieren per Notverordnung erfand und a Doch genau wie seinerzeit fühlt sich ja auch die heutige SPD eher einer abstrakten staatstragenden Rolle verpflichtet und stützt willfährig eine Regierung, die sie dem Untergang entgegentreibt.

Ossietzky schreibt dort weiter:

Die Partei sehnt sich nach ‚dem Staat‘, ‚der Nation‘, und fühlt nicht, daß sie dabei ihre einzige wirkliche Lebensquelle verliert: die Klasse.

Ich weiß, »Klasse« darf man heute nicht mehr sagen, weil Stalin und vom klassischen Industriearbeiter werden es auch täglich immer weniger – umso dringender aber wird eine Partei gebraucht, die wieder in den Mittelpunkt rückt, dass es ein existentielles Machtungleichgewicht gibt zwischen denen, die Arbeit verteilen und die Bedingungen dafür stellen und jenen, die auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, Arbeit zu finden und anzunehmen. Gerade weil die Gewerkschaftsbindung immer weiter abnimmt, gerade weil alle Hebel gezogen werden, um entweder gar nicht erst in den Geltungsbereich von Sozialgesetzgebung und BetrVG zu gelangen oder wenn schon, dann alles daran zu setzen, dass die Angestellten aber auch ja nicht auf die Idee kommen, ihre Rechte wahrzunehmen (und das bis zur Schließung des Betriebs). Es gäbe für eine SPD so viel zu tun. Stattdessen holt man sich GoldmanSachs an die Seite.

Und: Es wird bitte endlich Zeit, die seit der Parteigründung mit sich getragene Furcht davor, als Vaterlandsverräter zu gelten, nur weil man nicht nach der konservativ-militaristischen Pfeife tanzt, sollte sie endlich ablegen. Es gibt keine Pflicht, sich für das Vaterland zu opfern.

1930 ließ Tucholsky einen Berliner Ortsfunktionär über seine Partei sagen:

»Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!«

Mir scheint das auch heute wieder nicht völlig unzutreffend sein. Ich wünsche der Partei aus tiefstem Herzen, dass sie es schafft, sich von den Zwängen ihres Apparates zu befreien und ihre Grundsätze wiederzuentdecken. Und sie sollte das schnell tun. Das Schicksal anderer europäischer Sozialdemokratien dieser Tage zeigt überdeutlich, wie schnell und gründlich sich Wähler_innen dauerhaft abwenden können. Denn die brauchen keine sich anbiedernde SPD, sondern eine die kämpft – für die Benachteiligten, nicht für ihren eigenen Apparat.

20 Jahre: In memoriam Frank Böttcher

Am 8. Februar starb Frank Böttcher, nachdem er am Abend zuvor den Fehler begang, als Punk in Magdeburg-Olvenstedt an einer Straßenbahnhaltestelle zu stehen.

Das ist heute 20 Jahre her. 20 Jahre – das sind mehr Jahre als Frank Böttcher zu leben erlaubt wurde.

Für mich und meine politische Sozialisation war dies ein zentrales Ereignis. Seinerzeit leitete ich das Büro der Landesschülervertretung Sachsen-Anhalt, wir hatten Mitglieder, die Frank Böttcher oder sein Umfeld persönlich kannten.

Ich selbst war gerade einmal 19 – und ich war zutiefst erschüttert. Hier gab es nichts zu deuten, nichts zu relativieren: Die Olvenstedter Neonazis fühlten sich sicher genug, um Menschen, deren Aussehen ihnen nicht passte, niederzutreten und abzustechen.

Im Gespräch mit anderen, in der medialen Darstellung, in mehr oder weniger romantischen Generationenrückblicken sehe ich die Neunziger in einer Art und Weise dargestellt, die sich mit meinem Erleben nicht deckt. Für mich waren die Neunziger Jahre keine Zeit unbeschwerter Raves und bunter Disco-Abende. Das war keine bonbonbunte Partyzeit. Das war Mölln, das war Rostock, das war Hoyerswerda (und Bischofferode, aber das ist ein anderes
Thema).
Für mich waren die Neunziger Jahre eine Zeit der Angst, des Flüchtens vor Gewalt – wahlweise vor der von Nazis oder der der Polizei (auch hier stammt mein eindrücklichstes Erlebnis aus Magdeburg: Wie dort schwer gepanzerte und bewaffnete Polizisten einen vollkommen unbewaffneten und nicht aggressiven jungen Mann zu Boden warfen, sich auf ihn setzten und fesselten, schwirrt mir heute noch im Kopf herum – trotz aller anderen Bilder, die es seitdem gegeben hat*). Für mich sind die Neunziger Jahre die Zeit der National Befreiten Zonen (weshalb ich heute nur sehr bitter auflachen kann, wenn man sich wundert, woher die Nazis auf einmal alle kommen). Für mich sind die Neunziger Jahre die Zeit, in der Clubs überfallen und Linke gejagt wurden (und ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt, aber wenn man erstmal erlebt hat, wie Leute in Onkelz-T-Shirts Jagd machen, hat man wenig Lust, sich mit deren ach-so-progressiven Werk auseinanderzusetzen).

Mir ging der Tod von Frank Böttcher nicht nur nahe, weil er persönlich so nahe war. Das spielt eine Rolle, dieses psychologische Muster zu leugnen, wäre naiv.

Er beschäftigt mich aber bis heute, weil aus der Tat ein so offener, so blindwütiger Hass spricht. Ein Hass auf alles, was nicht passt. Ein Hass, von dem ich irrigerweise annahm, er sei überwunden. Ein Hass, der jederzeit wieder hervorbrechen kann – aus vielleicht jedem von uns. Ein Hass, der, geschickt gesteuert, zu einer massiven politischen Bewegung werden kann. Und der zuschlägt. Besonders dann, wenn er sich sicher fühlt. So wie die Neonazis 1997 in Olvenstedt.

Oder wie heute. Im Netz und auf der Straße.

Ich habe damals, in einem Akt jugendlicher Hilflosigkeit, einen Tucholsky-Text in meinem Büro angebracht. Und noch heute verknüpfe ich ihn in jeder Lesung mit Frank Böttcher. Wir dürfen nicht vergessen. Und wir dürfen nicht schon wieder Rosen streuen.

Rosen auf den Weg gestreut (Lesung)

P.S. Angst brachte mich in den Neunzigern nicht zum Schweigen. Sie bringt es auch heute nicht.

*Ich bin mir sicher, die zuständigen Beamten und auch alle anderen, die sich mit Polizeitaktik auskennen, werden mir erklären können, warum das so sein muss. Das glaube ich gerne. Ändert aber nichts an der Wirkung. Und die hält an. Ich stand genauso nur da. Was bleibt: Die Angst, nicht zu wissen, ob der Polizist vor mir nicht spontan entscheidet, ich sei eine Gefahr. Das Gefühl, dieser Entscheidung schutzlos ausgeliefert zu sein. Bei aller rationalen Abstraktion, bei allem Verständnis, dass es wahrscheinlich nicht anders sein kann, weil niemand dem anderen in den Kopf schauen kann: Es fühlt sich falsch an.

Weil es um alles geht

Agora von Athen mit Blick auf die Akropolis. von DerHexer (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) oder GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

UPDATE Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es blieb bei einer Episode. Partei und ich – das war offenkundig ein Missverständnis. Nach ziemlich genau einem Jahr bin ich wieder ausgetreten. Und suche nun nach einer zu mir passenden Form des Engagements.

In meinem letzten Schuljahr wurde ich in den Landesschülerrat gewählt, kurz darauf war ich Vorsitzender.

Ämter dieser Art bringen neben einem wohlklingenden Titel (dessen Klang jungen Menschen in der Adoleszenz durchaus zu Kopf steigen kann) und der Illusion von Einfluss (in der Regel hat man ein Anhörungsrecht und das Anhörungsrecht nach SchulG ist keine schärfere Waffe als das nach BetrVG und bedeutet hier wie dort im Wesentlichen: »Prima, wir können das ohne die Störenfriede umsetzen«) jede Menge Arbeit. Denn man will ja seine Sache gut machen und glaubt in jugendlichem Überschwang tatsächlich, die eigenen Elaborate würden wahrgenommen und gelesen. So schreibt man denn also umfangreiche Stellungnahmen zu Rahmenrichtlinien und Gesetzentwürfen, redet sich in Diskussionen heiß, spürend, dass man den Schlüssel zur Lösung aller Probleme im Schulwesen in der Hand hält. Organisiert Konferenzen und Tagungen, erarbeitet Grundsatzpositionen und veröffentlicht gewichtigte Manifeste. Dies alles im festen Glauben daran, allen Beteiligten ginge es bei allen Differenzen doch im Wesentlichen um die Sache.
Stellt dann aber fest:


Denn was man allerdings auch hat: Kontakt mit politischen Entscheidungsträger_innen in mannigfacher Form. Ich nahm an Podiumsdiskussionen teil, hatte Gespräche mit dem Kultusminister und war bei symbolischen Generationsvertragsunterzeichnungen dabei.

Das war für mich nachhaltig. Ich habe damals entschieden, dass diese Sache mit der Parteiendemokratie schon eine okaye Sache ist, man aber fürs Mitmischen schon irgendwie geschaffen sein muss. Das glaube ich auch heute noch. Die hierzulande gewählte Variante der repräsentativen Demokratie hat offenkundige Schwächen und es ist sehr wohl so, dass das System bestimmte Typen bevorzugt, die zudem im Laufe der Jahrzehnte ein sich selbst reproduzierendes System geschaffen haben, in dem andere Typen kaum noch zum Zuge kommen. Und dass Politik noch weniger als vorher als bürgerschaftliches Engagement und stattdessen eher als Karriereoption wahrgenommen wird, macht die Sache nicht besser. Ich wollte niemals in diesem Zirkus mitspielen (und ich hatte die Gelegenheit dazu).

Aber: In diesem Land ist schon einmal eine Republik vor die Hunde gegangen. Eine Republik, die massive, schwerwiegende Mängel hatte. Die ihren Feinden zum Fraß vorgeworfen wurde. Und die doch unstrittig besser war als das, was nach ihr kam.

Es gehört nicht viel politischer Scharfsinn dazu, zu erkennen: Es brennt. Es brennt an allen Orten – und dies nicht nur metaphorisch. Es geht erneut um alles. Gerade heute erst wieder liefen in Dresden Menschen herum, um gegen »entartete Kunst« zu portestieren.

2017. LTI ist zurück. Der Hass spricht wieder. Unverhohlen.

Und erneut macht man sich auf, die Republik mit den Mitteln der Republik abzuschaffen. Ich kann es mir nicht mehr leisten, nur danebenzustehen und von den Repräsentanten der Demokratie zu fordern, sie mögen doch bitte für diese einstehen und dieses und jenes endlich mal einsehen und machen. Es geht um alles. Danebenstehen gilt nicht. Ironische Distanz auch nicht.

Ich will mich ja gern beschimpfen und anklagen lassen, ich will ja gern alles auf mich nehmen – wenn ich nur nicht sehen müßte, wie grauenhaft allein wir stehen.

schrieb Tucholsky in »Prozeß Marloh« 1919. Ich möchte die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und ich möchte die Zukunft nicht Faschisten überlassen. Das hier ist verdammt nochmal auch mein Land. Ein Land, in dem ich gern lebe und in dem meine Kinder beruhigt aufwachsen sollen.

Ich kann mir eine sehr viel schönere Welt als eine bürgerliche Demokratie vorstellen. Aber jetzt, hier und heute gilt es diese zu verteidigen, für sie einzutreten. Für Freiheit, Offenheit, Respekt. Für ein Mindestmaß an Anstand.

Das ist kein Spaß mehr. Kein „Och, wird schon werden“. Sich an immer unangenehmere Umstände zu gewöhnen, ist keine Qualität der menschlichen Spezies, sondern ihre größte Schwäche.

schreibt Sibylle Berg in ihrer Kolumne »Demokratie in Gefahr: Bewegt euch!«, die überhaupt mal wieder alles viel besser auf den Punkt bringt als ich das kann (aber dafür ist sie ja auch Frau Berg).

Und darum bin ich seit einigen Tagen Mitglied einer politischen Partei. Denn am Rande stehen gilt nicht mehr.

Your ἀγορά needs you.

Die Verteidiger des Abendlands

»Die Zeit schreit nach Satire« – nach diesem Tucholsky-Text benennt die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ihre neue Anthologie, die im Jubiläumsjahr 2015 erscheinen soll.

Und es ist wirklich so, anders als satirisch ist das alles gar nicht mehr zu ertragen, was sich in Dresden und anderswo abspielt. Wer da so alles bei Spengler reloaded mitspielt – das treibt einem derart die Tränen der Verzweiflung in die Augen, dass sich doch ernsthaft die Frage stellt: Wenn dies Ausdruck des zu verteidigenden Abendlandes ist, wäre dann ein Untergang desselben nicht möglicherweise doch zu begrüßen?

Und doch, es ist auch mein Land, um das es hier geht. Da ist eben nicht egal, wenn hier wieder Leute unterwegs sind, um »der ganzen Welt und sich selbst zu beweisen, dass die Deutschen wieder die Deutschen sind«. Ich bin nur so müde. Meine politische Sozialisation erfolgte in den Neunziger Jahren, in den Jahren von Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Hoyerswerda. Irgendwie hatte ich mich der Illusion hingegeben, diese Gesellschaft habe etwas gelernt und das Thema zumindest hätten wir hinter uns. Haben wir aber nicht. Und wenn selbst CSNY die Klampfen wieder in die Hand nehmen, weil sie merken, dass ihre Themen doch noch nicht durch sind – nun, dann werden wir jungen Hüpfer das doch wohl auch hinbekommen. Dann müssen wir wohl wieder raus.

Denn, wie der Hausheilige dieses Blogs 1929 schrieb:

Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.

Eben. Wir sind auch noch da. Wird Zeit, dies auch wieder zu zeigen:

Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land.

In diesem Sinne: Nehmen wir die Ratschläge der skeptischen Generationen ernst, hängen wir nicht nur die ganze Zeit vorm Rechner. Gehen wir doch mal wieder draußen spielen.

Flattr this

Gruß zum 1. Advent

Der Gruß zum ersten Advent stammt heuer vom Hausheiligen dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1913, geschrieben als Theobald Tiger:

Großstadt – Weihnachten

Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren

die Weihenacht! die Weihenacht!

Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,

wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.

Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?

Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.

Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,

den Aschenbecher aus Emalch glasé.

Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen

auf einen stillen heiligen Grammophon.

Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen

den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,

Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,

voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,

dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:

»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«

Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,

mag es nun regnen oder mag es schnein,

Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,

die trächtig sind von süßen Plauderein.

So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden

in dieser Residenz Christkindleins Flug?

Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …

»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«

(Nachzulesen bei textlog.org)

Fundstück (3)

Inzwischen ist Kriege führen ja wieder ein normales Mittel deutscher Außenpolitik geworden. Die Gründe sind dieselben wie jederzeit, die Etiketten haben sich ein wenig gewandelt.
Und das scheint auch zunehmend gesellschaftlich akzeptiert zu werden, wie die umfassenden Diskussionen um Ukraine, Syrien und andere Krisengebiete zeigen.
Dazu folgendes heutige Fundstück:

Unten, auf dem zugeschütteten Graben, stehen ein paar Kreuze, liegen Kränze und ragen die Bajonette. Drei Mann müssen außerhalb des Grabens postiert gewesen sein; die Läufe ihrer Gewehre ragen ein paar Zentimeter hoch aus dem Boden, man stolpert über sie. Eine Mutter kann ihr Kind hierherführen und sagen: »Siehst du? Da unten steht Papa.«

Den ganzen Text findet die geneigte Leserschaft hier: Kurt Tucholsky, Vor Verdun.

Flattr this

Fundstück (2)

Der Hausheilige dieses Blogs, Dr. Kurt Tucholsky, schrieb 1924 im Bericht über einen Vortrag Rudolf Steiners:

Was für eine Zeit –! Ein Kerl etwa wie ein armer Schauspieler, der sommerabends zu Warnemünde, wenns regnet, im Kurhaus eine »Réunion« gibt, alles aus zweiter Hand, ärmlich, schlecht stilisiert … und das hat Anhänger –! Wie groß muß die Sehnsucht in den Massen sein, die verlorengegangene Religion zu ersetzen! Welche Zeit –!
Sein »Steinereanum« in der Schweiz haben sie ihm in Brand gesteckt, eine Tat, die durchaus widerwärtig ist. Es soll ein edler, kuppelgekrönter Bau gewesen sein, der wirkte wie aus Stein. Er war aber aus Holz und Gips, wie die ganze Lehre.

»Es soll ein edler, kuppelgekrönter Bau gewesen sein, der wirkte wie aus Stein. Er war aber aus Holz und Gips, wie die ganze Lehre.« Das finde ich doch sehr hübsch.

Den ganzen Text findet die geneigte Leserschaft hier: Rudolf Steiner in Paris.

Flattr this

Fundstück (1)

Heute gefunden:

Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.
Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, dass dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.

Aus dem möglicherweise stärksten Text des Hausheiligen, der unbedingt und in Gänze zur Lektüre empfohlen sei: »Wir Negativen« (1919).

Flattr this

Der Ehrgeiz eines Hirnforschers und die Verzweiflung eines Vaters

Die Äußerug, man habe ein autistisches Kind erzielt oft eine merkwürdige Reaktion. Irgendwas zwischen Mitleid und Abscheu.
Und natürlich, das unterscheidet dieses Thema nicht von allen andere Themen, über die man sich unterhalten kann, hat praktisch jeder schon einmal etwas davon gehört und eine festgefügte Meinung, die sich zwar bestenfalls auf ein paar Hollywood-Weisheiten und Wetten-dass?-Erfahrungen stützt, aber nichtsdestotrotz bereits die Summe aller menschlichen Weisheit repräsentiert. Man kennt das.
Weshalb hier dringend dazu geraten sei: Welches Thema auch immer der geneigten Leserschaft wichtig ist – sprecht es bloß nicht auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung irgendeiner Art an. Redet lieber übers Wetter (also natürlich nur, falls dies nciht zufällig eure Herzensangelegenheit ist…)

Auf Zeit-Online gibt es einen lesenswerten Artikel (ja, das kommt vor), der zwar leider im ganz typischen unverbindlichen Pseudoreportagenduktus dieser Publikation geschrieben ist, aber nichtsdestotrotz zum einen die Diagnosenirrfahrt als auch die Verzweiflung der Eltern einigermaßen gut einfängt (und das bemerkenswerte Können anderer Generationen, die einfach tun und dabei richtig liegen, das mit der Lebenserfahrung scheint ein Konzept zu sein…)

Vor allem demonstriert er sehr schön, wie wenig wir über Autisten, Gehirne, das Leben, das Universum und ganzen Rest wissen.

Einmal hier entlang bitte.

P.S. Zur Menschenkenntnis von Psychologen hat sich der Hausheilige dieses Blogs in einem hübschen Kabinettstückchen abschließend geäußert: In der Hotelhalle (1930).

Lahmann-Koller

Damit der geneigten Leserschaft nicht allzu langweilig wird, sei hier, quasi als Pausenunterhaltung, auf einen Text verwiesen, der in Sachen medizinische Rehabiliationsmaßnahmen weiterhin als der maßgebliche Text zum Thema gelten muss:

Kreuzworträtsel mit Gewalt.

Dieser Text beantwortet sehr überzeugend das Hauptproblem einer jeder Kur:

Ich absolvierte täglich ein längeres Zirkusprogramm, von morgens um sieben bis mittags um halb eins. Der Turnlehrer; die Wiegeschwester; der Bademeister; der Masseur; der Assistenzarzt; die Zimmerschwester … sie alle waren emsig um mich bemüht. Ich kam mir recht krank vor, und wenn ich mir krank vorkam, dann schnauzten sie mich an, was mir wohl einfiele – es ginge mir schon viel, viel besser. Was war da zu machen?

Was war vor allem an den langen Nachmittagen zu machen, die etwa acht- bis neunmal so lang waren wie die reichlich gefüllten Vormittage?

Wer nicht lesen möchte, sondern lieber hören:

Und ich versuche dann mal in den nächsten Wochen einen Lahmann-Koller zu vermeiden… 😉

Flattr this

Gachmuret feat. Der Hausheilige live

UPDATE: Es gibt einen Live-Mitschnitt meines Versuches, aus Frank Fischers Südharzreise vorzutragen:
http://www.blog.de/srv/media/dewplayer.swf?son=http://data9.blog.de/media/695/7450695_98f24dff86_a.mp3
Ausschnitte aus: Südharzreise
Dieser Mitschnitt ist auch auf youtube zu bewundern.
Flattr this

Nur eine kurze Durchsage:
Am 21. November bin ich bei der Lesebühne von Frédéric Valin und Jan-Uwe Fitz eingeladen und darf dort lesen. Weitere Infos zur Veranstaltung finden sich auf der Seite von Read on, my dear. Ick bin stolz wie bolle.

Vortragen werde ich natürlich Texte des Hausheiligen dieses Blogs, Dr. Kurt Tucholsky. Und ich werde das eine oder andere Kapitel aus Frank Fischers Südharzreise zum besten geben.

Wer mag, darf gern vorbeischauen.

Mit dem Holzhammer

Nach dem Angriffskrieg der USA gegen den Irak sah sich Neil Young gezwungen, mit Crosby, Stills und Nash die alten Lieder wieder auszupacken und erneut durchs Land zu touren, um den Menschen die Idee nahezubringen, dass Kriege beginnen nur so mittel ist. Die Dokumentation dazu heißt nicht zufällig »Déjà Vu«.

Ich habe Hannes Wader ungefähr zu der Zeit in einem Auftritt gesehn, bei dem er auf mich den Eindruck machte, als hätte er gedacht, nach fast dreißig Jahren »Es ist an der Zeit« nicht mehr singen zu müssen.

Die Ereignisse in Schneeberg (und nicht nur die, sie mögen hier exemplarisch stehen) lassen mich erkennen, dass wir offenbar auch in der Frage des Zusammenlebens in diesem Land wieder ganz von vorne anfangen müssen. Dass wir wieder an einem Punkt stehen, an dem wir ernsthaft erklären müssen, »dass ›fremd‹ kein Wort für ›feindlich‹ ist«.

Nun gut, wenn es denn sein muss, dann müssen wir das mit den feineren Argumentationen eben lassen und den Holzhammer wieder herausholen:

Ergänzend sei noch auf einem maßgeblichen und großartigen Text des Hausheiligen verwiesen, der fordert, den Begriff »Heimat« nicht preiszugeben, dort ist zum Beispiel zu lesen:

Und nun will ich euch mal etwas sagen:
Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.
Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.[…]

Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ›Deutschland‹ gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.
Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

*

Flattr this

aus: Tucholsky, Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7197-7198. Digitale Bibliohtek Berlin, 1999 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 314)

Pan y circo

Wenn das Brot knapp wird, braucht es halt mehr Spiele.

Der nächste ist ein junger, aufgeregter Herr, der wie ein Bajazzo aus seinem Stall herausgepurzelt kommt. Er macht den Leuten viel zu schaffen, und das soll er ja wohl auch. Er zerstößt das Pferd, das ihm sein Vorgänger leichtverwundet zurückgelassen hat, zu einem bösen Klumpen, der Picador fällt herunter, es geschieht ihm aber nichts. Der Stier zerquält ein Pferd, so daß es sich schon nach dem ersten Stoß nicht mehr erheben kann – und da liegt es. Ich kann genau das Auge sehen, das große, sanfte Auge. Das Auge versteht nicht. Es sagt: »Warum? warum?«

*

In Spanien ist sowas jetzt national geschütztes Kulturgut. Und man möchte daraus ein UNESCO-geschütztes Kulturgut machen.

Die Beschreibung stammt aus: Kurt Tucholsky, Stierkampf in Bayonne. in: Werke und Briefe: 1927. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 4742. Digitale Bibliothek, Bd. 15, Berlin 1999. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 15)
Der ganze Text ist bei textlog.de nachzulesen.

Flattr this

Ich bin ein langweiliger Spießer

Der 31. Oktober ist der Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen, deren Intensität weit über das hinausgeht, was bei einem Kinderspaß erwartbar wäre. Alle Jahre wieder entzünden sich ideologisch aufgeheizte Debatten um Kürbisgesichter, Süßigkeiten, Kinderstreiche und Maskenbälle.
Dass die evangelische Kirche von der Umdeutung des Reformationstages wenig begeistert ist, liegt auf der Hand. Immerhin huldigt man an diesem Tag dem eigenen Ersatzheiligen nebst Gründungsmythos der eigenen Institution. Da wird dann selbst diese, sonst der Integration zunächst kirchenfremder Bräuche nicht abgeneigte Religionsgemeinschaft, ungewohnt humorlos (das offene Verhältnis der evangelischen Kirche zur Lebenswirklichkeit ist Stärke und Schwäche zugleich, aber das sei ein andermal erörtert).
Übrigens ist natürlich auch das Festhalten am Mythos des Thesenanschlages, den die historische Forschung seit Jahrzehnten für eben genau dies hält: einen Mythos, auch eher den zuständigen Tourismusbehörden und den Qualitätsjournalisten vorzuwerfen als einer Glaubensgemeinschaft, die ja immerhin das Privileg besitzt, Wahrheit nach anderen Kriterien zu definieren.

Doch es gibt auch von anderer Seite Angriffe gegen die weiter voranschreitende Übernahme der Halloween-Bräuche. Die kommen zum Beispiel aus einem eher traditionalistischen Lager, wo man zwar auch keine Ahnung hat, was man am 31.10. so feiern könnte, aber auf jeden Fall findet, dieses amerikanische Zeug, das ginge ja mal gar nicht – und dabei vollkommen ignoriert, dass die kulturelle Verbindung zur US-amerikanischen Populärkultur seit Jahrzehnten derart fest und tief verwurzelt ist, dass es keineswegs verwundert, wenn junge Menschen im Fernsehen behaupten, die Süßigkeitenjagd gehöre nunmal dazu, schließlich sei das Tradition.

Nur, ganz ehrlich, müssen wir uns wirklich wegen merkwürdiger Bräuche derart aufregen? Betrachtet man einmal das Kalenderjahr und die höchst merkwürigen Dinge, die da im Jahreskreis als Kultur gelten (ich meine, mal ehrlich: Hühnereier im Gras verstecken zu Ostern? Streiche am 1. April? Kleidungsstücke zerschneiden zur »Weiberfastnacht«? Überhaupt, Karneval: Kostümiert durch Straßen und Bars ziehen, bis sich endlich ein Kopulationspartner gefunden hat – und dafür auch noch von der Arbeit freigestellt werden? usw. usf.), gibt es genügend Anlass, Halloween äußerst entspannt zu betrachten. Ja mei, dann laufens halt rum, sammeln Süßigkeiten und spielen die Zombieapokalypse schon mal durch. Sollen sie doch. Wer lieber zum Gottesdienst möchte, kann das ja gerne tun. Und wem das zu amerikanisch ist, der ziehe sich halt seine Lederhose an.

Ich freilich, ich stelle heute meine Klingel aus. Meinetwegen können die Leute treiben, was sie wollen, sie können von mir aus heute auch Baal anbeten, wenn ihnen das irgendwie hilft oder Chtulhu beschwören – ich aber, ich hätte heute gerne einfach meine Ruhe.

Das Schlusswort gehört dem Hausheiligen dieses Blogs:

Diese Art Deutscher hat nie unrecht, er geht nie in sich, kommt nie auf den Gedanken, daß auch er vielleicht jemandem Unrecht getan haben könne – er siegt, und wenn er nicht siegt, dann borgt er sich einen Sieg, und den findet er immer in dem, was er ›Staatsräson‹ oder ›Gesinnung‹ oder ›Innenleben‹ oder ›vaterländische Religiosität‹ oder sonst dergleichen nennt. Diese Linie läßt sich von Luther an verfolgen, der das Unglück Deutschlands gewesen ist.

*

Flattr this

*aus: Tucholsky, Kurt: Grimms Märchen. in: Werke und Briefe: 1928. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 6164-6165, Digitale Bibliothek Bd. 15, vgl. Tucholsky-GW Bd. 6, S. 218.

Die bösen Nichtwähler

Morgen ist es also mal wieder soweit:
Es sind vier Jahre rum, auf einmal ist die Meinung der Bürger wieder furchtbar wichtig und so werden diese denn auch von durch Werbeagenturen gnadenlos optimierten und nahe an die Nullaussage geführten Kampagnen umworben. Da hat sich nicht viel geändert, es sei daher noch einmal auf die Plakate-Rundschau aus dem Landtagswahlkampf 2009 verwiesen verwiesen. Es ist erstaunlich, wie wenig Unterschied das macht.
Eines allerdings scheint mir 2013 nun doch neu zu sein, nämlich das zunehmende Nichtwähler-Bashing. Ich bilde mir ein, dass in früheren Wahlgängen doch die Frage, wie man sie zum Wählen motivieren klönnte, twas mehr im Vordergrund stand. Jetzt aber tendiert das doch eher in Richtung Beschimpfung. Als ob es keine guten Gründe gäbe, nicht wählen zu gehen. Ich jedenfalls kann es sehr gut nachvollziehen, wenn sich jemand aus guten Gründen weigert, für etwas zu sein, von dem er oder sie nicht überzeugt ist. Denn das Kreuz auf dem Wahlzettel ist j aimmer eine Entscheidung für jemanden. Und wenn keine der angebotenen Optionen akzeptabel ist, halte ich es für absolut zulässig, die Zustimmung zu verweigern. Schließlich werden sich hinterher alle hinstellen und behaupten, soundsoviele wären von ihrer Politik überzeugt und hätten ihnen einen Auftrag erteilt. Da spielen Differenzierungen wie »Ich wähle die unter großen Bauchschmerzen, weil alle anderen noch schlimmer sind.« keine Rolle. natürlich kann es sein, dass Menschen nicht wählen, weil sie zu bequem oder zu faul sind. Das scheinen mir aber weit weniger zu sein als das gemeinhin behauptet wird. Die meisten Menschen, die nicht wählen gehen, wählen deshalb nicht, weil das Politiktheater, das ihnen geboten wird, sie nicht mehr überzeugt. Weil sie den Eindruck haben, dass dort etwas grundlegend falsch läuft.
Um nur mal einen Aspekt herauszugreifen: ich empfehle der geneigten Leserschaft einmal, sich die Lebensläufe der Regierungsmitglieder anzuschauen und zu überprüfen, wie viele von denen jemals einer realen Arbeit nachgegangen sind. Der Anteil der Politiker, die schon einmal etwas anderes gemacht haben als Politik, nimmt stetig ab. Das wird zunehmend ein Verein, der Leute heranzüchtet, die nichts anderes kennen als diesen nach seinen eigenen Regeln funktionierenden Betrieb. Und Inzucht war schon immer problematisch.

Auch wenn ich zu einem anderen Schluss komme, aber wenn Menschen, die noch vor wenigen Jahren auf die Straße gegangen sind, um unter Einsatz ihrer Unversehrtheit für ein Recht auf freie Wahlen zu kämpfen, jetzt zu Hause bleiben und verzichten, dann sollte das ein Signal sein, darüber nachzudenken, ob hier nicht etwas grundlegend falsch läuft.

Wir dachten unter kaiserlichem Zwange
an eine Republik … und nun ists die!

schrieb Kurt Tucholsky in »Ideal und Wirklichkeit«.
Dass die Lösung nicht in Appellen und noch mehr Plakaten und noch mehr Wahlständen liegt und auch nicht in der Beschimpfung von Nichtwählern als miese Demokraten, die bequem geworden sein und ihre Freiheit nicht zu schätzen wüssten. Nein, hier wäre mal eine gründliche Supervision oder zumindest mal eine Selbstreflexion angebracht. Möglicherweise macht ihr ja etwas grundlegend falsch, liebe PolitikerInnen. Think about it. Wenn ihr das noch könnt.

Zum Abschluss seien noch zwei Beiträge zum Thema empfohlen, zum einen der grundlegende Tucholsky-Text »Ein älterer, aber leicht besoffener Herr«, leicht gekürzt, aber unschlagbar vorgetragen von Gerd E. Schäfer:

Und natürlich, die nicht weniger grundlegende, aber doch weniger feingeistige Southpark-Folge »Wähl oder stirb«

Flattr this

„Strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.“

Die Wahlperiode, in der ich als Schöffe am Jugendgericht tätig war, neigt sich dem Ende zu. Es war eine höchst interessante Zeit, ich habe Menschen aus sozialen Zusammenhängen kennengelernt, die mir tatsächlich vollkommen fremd waren (und sind). Es gab dort bemerkenswerte Geschichten zu hören, Lebensgeschichten, deren einzige Konstanz ihre Brüche waren. Ich sah junge Menschen, die, ganz egal, wie sie sich vor Gericht gaben, doch eines einte: Eine tiefgehende Verunsicherung. Manches Mal waren da nur Flügel und keine Wurzeln. Und tatsächlich dachte ich auch in manchen Fällen, ganz entgegen meiner ursprünglichen Überzeugung: „Da ist nichts mehr zu wollen, diesen jungen Menschen haben wir verloren.“

Wann auch immer in der jeweiligen Heimatstadt der geneigten Leserschaft die nächsten Schöffenwahlen anstehen, ich kann nur dazu ermutigen, sich zu bewerben. Mir hat es geholfen, die Welt einmal mit anderen Augen zu sehen und wenig ist wichtiger als ein Perspektivwechsel*.

Der Hausheilige dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky, hat den vielleicht besten Text (ich kenne zumindest keinen besseren) dazu geschrieben:

Merkblatt für Geschworene

Nachdruck erbeten

Wenn du Geschworener bist, dann glaube nicht, du seist der liebe Gott. Daß du neben dem Richter sitzt und der Angeklagte vor euch steht, ist Zufall – es könnte ebensogut umgekehrt sein.

Wenn du Geschworener bist, gib dir darüber Rechenschaft, dass jeder Mensch von Äußerlichkeiten gefangen genommen wird – du auch. Ein Angeklagter mit brandroten Haaren, der beim Sprechen sabbert, ist keine angenehme Erscheinung; laß ihn das nicht entgelten.

Wenn du Geschworener bist, denk immer daran, dass dieser Angeklagte dort nicht der erste und einzige seiner Art ist, tagtäglich stehen solche Fälle vor andern Geschworenen; fall also nicht aus den Wolken, dass jemand etwas Schändliches begangen hat, auch wenn du in deiner Bekanntschaft solchen Fall noch nicht erlebt hast.

Jedes Verbrechen hat zwei Grundlagen: die biologische Veranlagung eines Menschen und das soziale Milieu, in dem er lebt. Wo die moralische Schuld anfängt, kannst du fast niemals beurteilen – niemand von uns kann das, es sei denn ein geübter Psychoanalytiker oder ein sehr weiser Beicht-Priester. Du bist nur Geschworener: strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.

Bevor du als Geschworener fungierst, versuche mit allen Mitteln, ein Gefängnis oder ein Zuchthaus zu besichtigen; die Erlaubnis ist nicht leicht zu erlangen, aber man bekommt sie. Gib dir genau Rechenschaft, wie die Strafe aussieht, die du verhängst – versuche, mit ehemaligen Strafgefangenen zu sprechen, und lies: Max Hölz, Karl Plättner und sonstige Gefängnis- und Zuchthauserinnerungen. Dann erst sage deinen Spruch.

Wenn du Geschworener bist, laß nicht die Anschauung deiner Klasse und deiner Kreise als die allein mögliche gelten. Es gibt auch andre – vielleicht schlechtere, vielleicht bessere, jedenfalls andre.

Glaub nicht an die abschreckende Wirkung eures Spruchs; eine solche Abschreckung gibt es nicht. Noch niemals hat sich ein Täter durch angedrohte Strafen abhalten lassen, etwas auszufressen. Glaub ja nicht, dass du oder die Richter die Aufgabe hätten, eine Untat zu sühnen – das überlaß den himmlischen Instanzen. Du hast nur, nur, nur die Gesellschaft zu schützen. Die Absperrung des Täters von der Gesellschaft ist ein zeitlicher Schutz.

Wenn du Geschworener bist, vergewissere dich vor der Sitzung über die Rechte, die du hast: Fragerechte an den Zeugen und so fort.

Die Beweisaufnahme reißt oft das Privatleben fremder Menschen vor dir auf. Bedenke –: wenn man deine Briefe, deine Gespräche, deine kleinen Liebesabenteuer und deine Ehezerwürfnisse vor fremden Menschen ausbreitete, sähen sie ganz, ganz anders aus, als sie in Wirklichkeit sind. Nimm nicht jedes Wort gleich tragisch – wir reden alle mehr daher, als wir unter Eid verantworten können. Sieh nicht in jeder Frau, die einmal einen Schwips gehabt hat, eine Hure; nicht in jedem Arbeitslosen einen Einbrecher; nicht in jedem allzuschlauen Kaufmann einen Betrüger. Denk an dich.

Wenn du Geschworener bist, vergiß dies nicht –: echte Geschworenengerichte gibt es nicht mehr. Der Herr Emminger aus Bayern hat sie zerstört, um den Einfluß der ›Laien‹ zu brechen. Nun sitzt ihr also mit den Berufsrichtern zusammen im Beratungszimmer.

Sieh im Richter zweierlei: den Mann, der in der Maschinerie der juristischen Logik mehr Erfahrung hat als du – und den Fehlenden aus Routine. Der Richter kennt die Schliche und das Bild der Verbrechen besser als du – das ist sein Vorteil; er ist abgestumpft und meist in den engen Anschauungen seiner kleinen Beamtenkaste gefangen – das ist sein Nachteil. Du bist dazu da, um diesen Nachteil zu korrigieren.

Laß dir vom Richter nicht imponieren. Ihr habt für diesen Tag genau die gleichen Rechte; er ist nicht dein Vorgesetzter; denke dir den Talar und die runde Mütze weg, er ist ein Mensch wie du. Laß dir von ihm nicht dumm kommen. Gib deiner Meinung auch dann Ausdruck, wenn der Richter mit Gesetzesstellen und Reichsgerichtsentscheidungen zu beweisen versucht, dass du unrecht hast – die Entscheidungen des Reichsgerichts taugen nicht viel. Du bist nicht verpflichtet, dich nach ihnen zu richten. Versuche, deine Kollegen in deinem Sinne zu beeinflussen, das ist dein Recht. Sprich knapp, klar und sage, was du willst – langweile die Geschworenen und die Richter während der Beratung nicht mit langen Reden.

Du sollst nur über die Tat des Angeklagten dein Urteil abgeben – nicht etwa über sein Verhalten vor Gericht. Eine Strafe darf lediglich auf Grund eines im Strafgesetzbuch angeführten Paragraphen verhängt werden; es gibt aber kein Delikt, das da heißt ›Freches Verhalten vor Gericht‹ Der Angeklagte hat folgende Rechte, die ihm die Richter, meistens aus Bequemlichkeit, gern zu nehmen pflegen: der Angeklagte darf leugnen; der Angeklagte darf jede Aussage verweigern; der Angeklagte darf ›verstockt‹ sein. Ein Geständnis ist niemals ein Strafmilderungsgrund –: das haben die Richter erfunden, um sich Arbeit zu sparen. Das Geständnis ist auch kein Zeichen von Reue, man kann von außen kaum beurteilen, wann ein Mensch reuig ist, und ihr sollt das auch gar nicht beurteilen. Du kennst die menschliche Seele höchstens gefühlsmäßig, das mag genügen; du würdest dich auch nicht getrauen, eine Blinddarmoperation auszuführen – laß also ab von Seelenoperationen.

Wenn du Geschworener bist, sieh nicht im Staatsanwalt eine über dir stehende Persönlichkeit. Es hat sich in der Praxis eingebürgert, dass die meisten Staatsanwälte ein Interesse daran haben, den Angeklagten ›hineinzulegen‹ – sie machen damit Karriere. Laß den Staatsanwalt reden. Und denk dir dein Teil.

Vergewissere dich vorher, welche Folgen die Bejahung oder Verneinung der an euch gerichteten Fragen nach sich zieht.

Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug.

Kurt Tucholsky: Merkblatt für Geschworene. in: Die Weltbühne, 06.08.1929, Nr. 32, S. 202.

Flattr this

* Diese Szene beeindruckte ihren jugendlichen Betrachter derart, dass er beschloss, Lehrer zu werden. Und ich möchte auch heute noch glauben, dass es möglich ist, ein solcher zu sein, auch wenn mein Weg woanders hinführte.

Merkt ihr nischt?

Ich habe mir bereits vor einiger Zeit abgewöhnt, den Verlautbarungen diverser Politiker Gehör zu schenken. Mir fehlt die Muße, unter all den Paraphrasen und Euphemismen mühsam das hervorzugraben, was gemeint sein könnte – wenn denn etwas gemeint ist.
Als allerdings einigermaßen politisch interessierter Mensch und nach der Erfahrung, dass die Dechiffrierer auch nicht ganz frei von Eigeninteressen sind, lässt es sich jedoch manches Mal nicht vermeiden, doch zur Quelle vorzustoßen und genauer zu schauen, was die Darsteller des Politikzirkus von sich geben.

So durften wir also in den letzten Tagen erfahren, dass Dank der heldenhaften Tätigkeit unserer Sicherheitskräfte und mit Unterstützung unseres Brudervolkes die hinterhältigen Pläne einiger vom imperialistischen Ausland gesteuerter feindlicher Elemente zum Sturz unserer demokratischen Ordnung vereitelt werden konnten.

Jedenfalls, wenn ich das richtig verstanden habe.

Nahezu gleichzeitig sah ich einen Bericht über begeisterte Eltern, die von den Möglichkeiten des Digitalen Klassenbuchs überaus erfreut waren, gibt es ihnen doch die Möglichkeit, jederzeit genauestens darüber informiert zu sein, wann sich ihr Kind wo wie aufge- und verhalten hat.

Und da frage ich mich doch: Merkt ihr nischt?

Mir jedenfalls ist klar, warum sich so ertaunlich wenig Protest regt: Die Leute finden das toll, der aufgeklärte, freiheitsliebende, aufrechte und kritische Citoyen ist eine Chimäre, ein Trugbild, ein Märchen. Es gibt ihn nicht. Oder zumindest nicht in ausreichender Anzahl.
Es bleibt nur noch festzuhalten, dass der Terror gewonnen hat, der Elfteseptember das Mahnmal des Abschieds von der Freiheit ist, denn diese haben wir aus purer Angst aufgegeben und finden das toll.

Falls unsere Kinder einmal fragen, warum Systeme wie die DDR so lange funktionierten: Eben genau darum: Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich nicht zu fürchten. Und betroffen sind immer nur die anderen. Damit kann man offenkundig einen Staat machen.

Und die Bürger nicken.
Behaglich nicken sie, zufrieden, dass sie leben,
und froh, die Störenfriede los zu sein,
die Störenfriede ihrer Kontokasse.
Wo braust Empörung auf? Wo lodern Flammen,
die Unrat zehren, und sie heilsam brennen?
Die Bürger nicken. Schlecht verhohlne Freude.
Sie wollen Ordnung – das heißt: Unterordnung.
Sie wollen Ruhe – das heißt: Kirchhofsstille.

Kurt Tucholsky: Eisner. in: Die Weltbühne, 27.02.1919, Nr. 10, S. 224, wieder in: Fromme Gesänge.

Siehe hierzu auch das maßgebliche Buch zum Thema.

Flattr this

München. Eine Assoziation.

In München wurde nun also das Camp um die sich im Hungerstreik befindlichen Asylbewerber aufgelöst.

Es gäbe dazu einiges zu sagen, vom mal wieder öffentlich zur Schau getragenen Ausländerhass bayerischer Politiker, die dafür wahrscheinlich mal wieder mit der absoluten Mehrheit belohnt werden, von Menschen, denen jegliches Verständnis dafür abhanden gekommen zu sein scheint, in anderen als in juristischen Kategorien zu denken, von anderen, die möglicherweise nicht nur lautere Motive hatten, sondern vielleicht auch eine Profilneurose spazieren tragen, über die Arroganz der Mächtigen, die Verzweiflung der Machtlosen – allein, ich habe mir in der letzten Woche den Luxus gegönnt, mal nicht über die Rettung der Welt nachzudenken, sondern mir Zeit für meine Familie zu nehmen. Ich kann daher nichts substantielles, nicht einmal unsortierte Gedanken ohne ausreichende empirische Datenbasis, zu dieser Sache beitragen.

Und so möchte ich es bei einer Assoziation belassen:
http://data8.blog.de/media/590/7112590_30dcecc5ce_a.wav

Ruhe und Ordnung

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
das ist Ordnung.

Wenn Werkleute rufen: »Laßt uns ans Licht!
Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!«
Das ist Unordnung.

Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
wenn dreizehn in einer Stube pennen –
das ist Ordnung.

Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
weil er sein Alter sichern will –
das ist Unordnung.

Wenn reiche Erben im schweizer Schnee
jubeln – und sommers am Comer See –
dann herrscht Ruhe.

Wenn Gefahr besteht, dass sich Dinge wandeln,
wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
dann herrscht Unordnung.

Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
Nur nicht schrein.
Mit der Zeit wird das schon.
Alles bringt euch die Evolution.
So hats euer Volksvertreter entdeckt.
Seid ihr bis dahin alle verreckt?

So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.

Text: Tucholsky, Kurt: Ruhe und Ordnung. in: Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 4, Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek 1975, S. 17f.
Lesung: Ille, Steffen: Gruß nach vorn. Ille & Riemer Leipzig, Weißenfels. 2011

Flattr this

Wahlkampf

Ich liege gerade krank im Bett, daher muss der Hausheilige heute mal den Text übernehmen. Heute waberte durch die Nachrichten der Auftakt zur 100Tage-Aktion der SPD, mit der sie behauptet, die Wahl gewinnen zu wollen.
Ich hätte da mal eine Wortmeldung aus dem Jahr 1924:

Man sollte genug aus den letzten zehn Jahren gelernt haben. Demokratische Regierungen haben sich benommen wie die wilden Tyrannen, und konservative sind mit artiger Milde an ihr Werk gegangen – auch sie getrieben oder geschoben von den Umständen. Den emsigen und ewigen Politikastern aber ist zu sagen, daß die Politik eine viel kleinere Rolle auf der Welt spielt, als die meisten Wichtigmacher unter
ihnen wahrhaben wollen. Es gibt Menschen, die nie aus dieser Welt der Ausschußsitzungen, Mehrheitsbeschlüsse, Wahlkreisgeometrien herauskommen und nicht über die Abgeordneten, ihre Reichskanzler und Kommissionen, ihre Kompromisse und Vertagungen hinauszusehen vermögen. Mag sein, daß da in diesen Réunions viele Gesetze angefertigt werden – regiert wird die Welt meist anderswo. Aber es tut so wohl, das wichtig zu nehmen und sich auch so vorzukommen. Man lese politische Leitartikel dieser Sorte, die etwa ein Jahr alt sind – und man hat ein Bild von dem vertanen Quantum Intelligenz, Arbeit, Kombinationsgabe, Zeit. Die Politik ist auch ein Stigma eines Landes – ihr einziges oder gar hervorragendstes ist sie nicht.
Und solche politischen Leitartikel zu schreiben mag ein Beruf sein und eine ansprechende Beschäftigung. Irgendeine tiefere Bedeutung kommt diesem Treiben nicht zu.

zitiert aus: »Wahlvergleichung« in: Tucholsky, Kurt: Werke und Briefe. 1924. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 10749f. Digitale Bibliothek, Band 15, Berlin 1999
Der ganze Text lohnt sich durchaus auch (»Der Wähler wählt in den meisten Fällen nicht das, was man nachträglich in seine Wahl hineinlegt.« steht da zum Beispiel. 😉

Flattr this

Gachmuret feat. Der Hausheilige – live und in Bewegung

Es wird einmal wieder Zeit, den letztens in diesem Rahmen doch arg vernachlässigten Hausheiligen wieder dorthin zu rücken, wo er hingehört: Ins Rampenlicht.

In Halle wird im Rahmen eines bemerkenswerten Konzeptes der Kleinkunst gehuldigt und natürlich kann keine Kleinkunsthuldigung, die etwas auf sich hält, auf Dr. Kurt Tucholsky verzichten.

So strömt also zahlreich herbei, wenn am 22. Juni ab 20 Uhr die 2. KleinKunstNacht in Halle an der Saale gefeiert wird, mit 22 Künstlern in 34 Vorstellungen an 11 Spielorten:

Logo KKN

Wer es PRISM und sich selbst etwas leichter machen möchte, auf der zugehörigen Facebook-Veranstaltungsseite kann man nicht nur sich vernehmbar zur Teilnahme bekennen, sondern auch gleich Eintrittskarten erwerben. Es könnte sich durchaus auch für die anderen Künstler lohnen, da sind höchst interessante Leute dabei.

Und sollte tatsächlich jemand in der geneigten Leserschaft keinerlei Vorstellung haben, was dort auf ihn oder sie zukommen könnte: Es wird wohl etwas in dieser Art sein. 😉

Flattr this

Man tut was für die Revolution und weiß genau: Mit dieser Partei kommt sie nicht.

Das Zitat des Tages stammt vom Hausheiligen dieses Blogs:

»Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.«

(Kurt Tucholsky, »Schnipsel«, 1932)

Ich wollte freundlicheres schreiben, aber ich war unglücklicherweise heute in Leipzig – wo Passanten angeraunzt und zur Seite gestoßen werden, damit die Damen und Herren Ehrengäste aber auch ja ungestört im Gewandhaus sich bejubeln können, während die doofen Proleten auf dem Markt mit Massenware und Bildschirmübertragung abgefertigt werden.
Aber gut, was will man machen, Herr Steinbrück hat ja seinen besten Arbeiterkumpel auch seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen.

Wir leben in einer zunehmend deindustrialisierten Welt, die Arbeiter-Attitüde ergibt also eh keinen Sinn mehr und »Wann wir schreiten Seit an Seit« wirkt nur noch albern. Und dass diese Partei irgendwelche Interessen außer den eigenen vertritt, glaube ich schon lange nicht mehr. Es mag dies auch für andere gelten, aber wer mit fetten Limousinen zum bourgeoisesten Saal der Stadt fährt, um schön abgeschirmt sich selbst zu feiern – der kann mir mit sozialer Attitüde gestohlen bleiben. Da sind mir andere Vereine lieber, die machen wenigstens keinen Hehl daraus, dass sie sich für was besseres halten.

»Jenosse«, sahre ick, »woso wählst du eijentlich SPD –?« Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! »Donnerwetter«, sacht er, »nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei«, sacht er, »aber warum det ick det dhue, det hak ma noch nie iebalecht! – Sieh mal«, sachte der, »ick bin in mein Bessirk ssweita Schriftfiehra, un uff unse Ssahlahmde is det imma so jemietlich; wir kenn nu schon die Kneipe, un det Bier is auch jut, un am erschten Mai, da machen wir denn ’n Ausfluch mit Kind und Kejel und den janzen Vaein … und denn ahms is Fackelssuch … es is alles so scheen einjeschaukelt«, sacht er. »Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!« Und da hat der Mann janz recht. Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen!

(Kurt Tucholsky, »Ein älterer, aber leicht besoffener Herr«, 1930)

Ich hätte wirklich gerne etwas freundliches geschrieben, aber fiel nichts ein.

Flattr this

Mit neuen Augen – Ein Bericht

Der folgende Text erschien im Januar 2013-Rundbrief der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft und berichtet von der Jahrestagung eben dieser im Herbst in Rheinsberg. Ich veröffentliche ihn nun auch hier, um auch der geneigten Leserschaft die Möglichkeit zu geben, sich einen Eindruck verschaffen zu können:

Mit neuen Augen – Ein Bericht

„Zufall? Es gibt keinen Zufall, oder er sieht doch ganz, ganz anders aus, als man gemeinhin denkt …“1

Wenn es kein Zufall war, dann war es also ein anderer Grund. Aber es war zumindest keine abgesprochene Begegnung am 15. März 2012, als ich die Ehre hatte, Bernt Brüntrup zu den Zuhörern meiner Tucholsky-Lesung auf dem Leipziger Messe-Gelände zu zählen. Der rührige Schatzmeister dieser Gesellschaft hatte, wie wenige Mitlesende überraschen dürfte, keinerlei Scheu, mich im Nachgang anzusprechen und es war eben diese Begegnung, die mir den letzten Anstoß gab, das Eintrittsformular auszufüllen. Die Jahrestagung in Rheinsberg fand mich also als frischgebackenes Neumitglied, durchaus unsicher, ob ich mich im Kreise derer, die sich schon so viel länger mit Tucholsky beschäftigten, dieser Ehre würdig erweisen könnte.
Das Tagungsthema „Tucholsky und die Frauen“ war sicher angesichts des Tagungsortes ein durchaus naheliegendes, aber nichtsdestotrotz ja ein schier unerschöpfliches. Rolf Hosfeld eröffnete den Reigen mit der These, Tucholsky habe eine große Sehnsucht nach Nähe verspürt, gleichzeitig aber eben diese Nähe nicht aushalten können. Das wirkte durchaus schlüssig, wie auch seine ganze Biographie eher eine Neudarstellung schon bekannter Erkenntnisse als echter Neugewinn ist2, jedenfalls überzeugender als die Einschätzung Tucholskys als „Erotomane“, die mir eher zeitgenössische Verunglimpfung als belegbarer biographischer Tatbestand zu sein scheint. Die auf Hosfelds Vortrag folgende Diskussion lässt sich im Wesentlichen als Dokumentation eines Missverständnisses zusammenfassen. Der Autor meinte nicht dieses Publikum und das Publikum meinte nicht diesen Biographen. So redete man trefflich aneinander vorbei und leider verpufften die wenigen interessanten Ansätze zur Debatte schnell wieder. Weiterlesen „Mit neuen Augen – Ein Bericht“

Wünscht euch was

2013 wird alles anders. Das ist ja offensichtlich, denn wie wir alle wissen, hat Ende Dezember des Vorjahres eine neue Ära begonnen. Seitdem sind wir alle bessere Menschen geworden und ernähren uns nur noch Lichtenergie. Oder so.
Wenn dem so ist, dann wäre natürlich meine Hypothese, dass der Hausheilige dieses Blogs zu allen Fragen des modernen Lebens eine Antwort bietet, hinfällig. So recht mag ich da aber nicht dran glauben, weswegen sich eines 2013 nicht ändern wird: Es wird weiter kräftigst gehuldigt. Und da keine kultische Handlung ohne Zeremonienmeister auskommt und kein Zeremonienmeister ohne kultige Gegenstände, werde ich im Laufe des Frühjahrs wieder ein paar Texte einsprechen, um sie hernach in silbrig glänzende Rundscheiben zu verwandeln.

Da wir aber ja nun im 21. Jahrhundert leben und dieses Internet angeblich so ein Mitmachdings ist, wo die Crowd gesourct und die Community gebuildet wird, habe ich mir überlegt, ich frage die geneigte Leserschaft, die ja sicher im Laufe der Jahre bereits zu wahren Tucholsky-Kennern geworden ist, nach eventuellen Textwünschen. Ich kann dabei nicht hoch und heilig versprechen, allen Wünschen zu entsprechen (es gibt zum Beispiel einige sehr gute Texte, die ich schlicht nicht so lesen kann, wie es angemessen wäre und Schloss Gripsholm zum Beispiel wäre mir jetzt eine Nummer zu lang… 😉 )

Wer sich also an Texte erinnert, die es schon einmal zu hören gab oder die gerne gehört werden würden – immer her damit.
Wer noch Texte sucht, sehr umfassend lassen die sich finden bei textlog. Anspieltipps hält die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft bereit.

Und wem völlig unklar ist, wie das bei mir so klingt, darf gerne einmal hereinhören.

Also, liebe geneigte Leserschaft, ich freue mich auf Vorschläge. Ansonsten ziehe ich am Ende meine Liste und nix ist mit Mitmachen. 😉


Flattr this

P.S. Und auch Hinweise wie „Da gab es doch mal was, wo er über […] schreibt.“ oder auch „Schrieb er nicht mal irgendwie sowas wie […], ich komme nur grad nicht auf den Titel.“ sind gern gesehen. 😉

Wünscht Ihm alles, alles Gute – und soll verzeihen.

Ich habe den Hausheiligen dieses Blogs hier schon des öfteren zu Wort kommen lassen. Meist mit mehr oder weniger spitzen Kommentaren zu Politik, Gesellschaften und dem Menschen als solchen. Anlässlich der jüngst stattgefundenen Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, die sich in Rheinsberg dem anlässlich des Ortes durchaus naheliegenden Thema „Tucholsky und die Frauen“ widmete, nahm ich mir seinen Abschiedsbrief an Mary Gerold-Tucholsky, seine zweite Ehefrau* , wieder einmal vor. Er schickte diesen Brief, nur wenige Tage vor seinem Tod geschrieben, nicht ab. Und es ist dies ein so berührender Text, dass wir Nachgeborenen Mary Gerold dankbar sein dürfen für Ihre Bereitschaft, ihn veröffentlichen zu lassen.
Doch nun genug von mir, bis auf den zarten Hinweis auf das maßgebliche Buch zum Thema.

An Mary Gerold-Tucholsky

[Hindås] [den 19. Dezember 1935]

Sollte Er verheiratet oder ernsthaft gebunden sein, so bitte ich Ihn, diesen Brief ungelesen zu vernichten. Ich mag mich nicht in ein fremdes Glück drängen – ich will ja nichts. Ich habe nichts zu enthüllen, nichts zu sagen, was Er nicht besser wüßte als ich. Ich habe Ihn nur um Verzeihung bitten wollen. Verspricht also zu verbrennen, wenn das so ist – es soll nichts mehr aufgerührt werden.
Wünscht Ihm das Glück
N.

Liebe Mala,
will Ihm zum Abschied die Hand geben und Ihn um Verzeihung bitten für das, was Ihm einmal angetan hat.
Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt; hat nicht verstanden und hat Dummheiten gemacht, hat zwar nicht verraten, aber betrogen, und hat nicht verstanden.
Ich weiß, daß Er nicht rachsüchtig ist. Was er damals auf der Rückfahrt nach Berlin durchgemacht hat; was späterhin gewesen ist –: ich habe es reichlich abgebüßt. Ganz klar, so klar wie das Abbild in einem geschliffenen Spiegel, ist mir das ganz zum Schluß geworden. Nun kommt alles wieder, Bilder, Worte [. . .] und wie ich Ihn habe gehen lassen – jetzt, wo alles vorüber ist, weiß ich: ich trage die ganze, die ganze Schuld.
[. . .] Und jetzt sind es beinah auf den Tag sieben Jahre, daß weggegangen ist, nein, daß hat weggehn lassen – und nun stürzen die Erinnerungen nur so herunter, alle zusammen. Ich weiß, was ich in Ihm und an Ihm beklage: unser ungelebtes Leben.
Wäre die Zeit normal (und ich auch), so hätten wir jetzt ein Kind von, sagen wir, 12 Jahren haben können, und, was mehr ist, die Gemeinsamkeit der Erinnerungen.
Hat nicht mehr zu rufen gewagt. Hofft, daß Er meiner Bitte auf dem Umschlag entsprochen hat – das andere wäre nicht schön. Ich darf also annehmen, daß, wenn Er dies liest, er nicht ein Glück stört, das ich mir nicht habe verdienen können.
Nein, zu rufen hat nicht mehr gewagt. Ich habe aus leicht begreiflichen Gründen niemals irgendwelche »Nachforschungen« angestellt; ob Er verheiratet ist, hätte man mir sagen können – das andere nicht. Und hat vor allem nicht gewagt, weil Ihn nun noch ein zweites Mal aus der Arbeit und allem nicht hat herausreißen dürfen –: ist krank und kann sich nicht mehr verteidigen, geschweige denn einen andern. Mir fehlt nichts Wichtiges und nichts Schweres – es sind eine Reihe kleiner Störungen, die mir die Arbeit unmöglich machen. Ins Elend, das sicher gewesen wäre, konnte Ihn nicht herausrufen – ganz abgesehen davon, daß ich niemals gehofft habe, ob gekommen wäre.
Doch. Hat gewußt.
Wäre Er jetzt gekommen, Er hätte nicht einen andern, aber einen verwandelten, gereifteren gefunden. Ich habe über das, was da geschehen ist, nicht eine Zeile veröffentlicht – auf alle Bitten hin nicht. Es geht mich nichts mehr an. Es ist nicht Feigheit – was dazu schon gehört, in diesen Käseblättern zu schreiben! Aber ich bin au dessus de la mêlée, es geht mich nichts mehr an. Ich bin damit fertig.
Und so viel ist nun frei geworden, jetzt, jetzt weiß ich – aber nun nützt es nichts mehr. Hat anfangs Dummheiten gemacht, den üblichen coup de foudre für 2.50 francs, halbnötige Sachen und hat auch gute Freundschaften gehabt. Aber ich sehe mich noch nach Seiner Abfahrt im Parc Monceau sitzen, da, wo ich mein Paris angefangen habe – da war ich nun »frei« – und ich war ganz dumpf und leer und gar nicht glücklich. Und so ist es denn auch geblieben.
Seine liebevolle Geduld, diesen Wahnwitz damals mitzumachen, die Unruhe, die Geduld, neben einem Menschen zu leben, der wie ewig gejagt war, der immerzu Furcht, nein, Angst gehabt hat, jene Angst, die keinen Grund hat, keinen anzugeben weiß – heute wäre sie nicht mehr nötig. Heute weiß. Wenn Liebe das ist, was einen ganz und gar umkehrt, was jede Faser verrückt, so kann man das hier und da empfinden. Wenn aber zur echten Liebe dazu kommen muß, daß sie währt, daß sie immer wieder kommt, immer und immer wieder –: dann hat nur ein Mal in seinem Leben geliebt.
Ihn.
[. . .] Hat eine lächerliche »Freiheit« auf der andern Seite vermutet, wo ja in Wahrheit gar nichts ist. Hat immer stiller und stiller gelebt, jetzt ist wie an den Strand gespült, das Fahrzeug sitzt fest, will nicht mehr.
Will Ihn nur noch um Verzeihung bitten.
Ich bin einmal ein Schriftsteller gewesen und habe von S. J. geerbt, gern zu zitieren. Wenn Er wissen will, wie sich das bei den Klassikern ausnimmt, so lies den Abschiedsbrief nach, den Heinrich von Kleist an seine Schwester geschrieben, in Wannsee, 1811. Und vielleicht auch blättere ein bißchen im ›Peer Gynt‹ herum, ich weiß nicht, ob wir das Stück zusammen gesehen haben, es ist nicht recht aufführbar. Da kraucht der Held gegen den Schluß hin im Wald herum, kommt an die Hütte, in der dieses Schokoladenbild, die Solveig, sitzt, und sie singt da irgend etwas Süßliches. Aber dann steht da: »Er erhebt sich – totenbleich« – und dann sagt er vier Zeilen. Und die meine ich.
»O – Angst« . . . nicht vor dem Ende. Das ist mir gleichgültig, wie alles, was um mich noch vorgeht, und zu dem ich keine Beziehung mehr habe. Der Grund zu kämpfen, die Brücke, das innere Glied, die raison d’être fehlt. Hat nicht verstanden.
Wünscht Ihm alles, alles Gute –
und soll verzeihen.
Nungo

aus: Werke und Briefe: 1935. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien (=Digitale Bibliothek, Bd. 15), Directmedia Berlin 1999, S. 12250-12254 (vgl. Tucholsky-BA, S. 591-594) (c) Rowohlt Verlag

Zum Nachlesen als .pdf

*Und seine zweite gescheiterte Ehe, nichtsdestotrotz die einzige Frau, bei der mit Fug und Recht wohl von einer lebenslangen Verbundenheit gesprochen werden kann, und zwar beiderseits.


Flattr this

Und noch einmal: Küsst die Faschisten

Man sollte sich vielleicht doch nicht mit Geschichte befassen. Allzu gruselig ist es doch, wie oft sich ein- und dieselben Dinge wiederholen und wie wenig Mühe sich manche Kräfte geben müssen, um sich eine Strategie auszudenken. Und auch wenn es die geneigte Leserschaft ermüden mag, zu den aktuellen Meldungen um die Zwickauer Nazi-Zelle, die beliebten Kürzungen der Mittel im Kampf gegen Rechts und die perfide Dramatisierung des Linksterrorismus ((gar nicht zu reden von den bösen Muslimen) bei gleichzeitiger Marginalisierung desselben von rechts , muß ich noch einmal auf diesen Text verweisen:

http://www.blog.de/srv/media/dewplayer.swf?son=http://data7.blog.de/media/632/5938632_f94e907f9b_a.mp3

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen . . .
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

Die Lesung findet sich auf dem Hörbuch Gruß nach vorn

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8324-8325 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 162-163)

Eine Branche schafft sich ab.

Der Kölner Kartäuser Werner Rovelinck begründete in der Einleitung zu einer Predigt, warum er sie habe drucken lassen: „Weil sie auf keinem anderen Wege schneller und leichter möglichst vielen Personen mitgeteilt werden konnte, habe ich dafür gesorgt, sie durch die Kunst des Drcuks der Bücher zu einer großen Zahl zu vervielfältigen.“

*

Dieses Zitat verdeutlicht ganz stark, was in den zahlreichen Spekulationen zur Zukunft der Buchbranche gerne vergessen wird: Der Buchdruck ist nicht geboren worden aus einem Wunsch nach metaphysischen Erlebnissen, nach Haptik, nach dem Geruch, nach schöner Gestaltung – neine, einzig und allein aus Pragmatismus. Es war leicht, effektiv und billig, etwas drucken zu lassen, um es zu verbreiten. Nichts anderes. Ich finde es erstaunlich, wie selten diese Erkenntnis in den Überlegungen der Branche eine Rolle spielt.
Schöner, Repräsentativer, Qualitätsvoller produzierten die Mönche, die im Übrigen auch über ein weitverzweigtes und gut funktionierendes Vertriebsnetz verfügten. Das interessierte aber seinerzeit niemanden mehr und innerhalb weniger Jahrzehnte wurde diese jahrhundertealte Kunst, die es zu erstaunlicher Präzision und Spezialisierung brachte, hinweggefegt und spielte fürderhin keine Rolle mehr:
Weiterlesen „Eine Branche schafft sich ab.“

Causa Hahn

Der sächsische Landtag hat heute die Immunität von André Hahn, dem Fraktionsvorsitzenden der LINKE, aufgehoben, um den Weg frei zu machen für eine Gerichtsverfahren gegen ihn. Ihm wird vorgeworfen, als Rädelsführer gegen das Versammlungsgesetz verstoßen zu haben, als er am 13. Februar 2010 an der Blockade des Naziaufmarsches teilnahm.
Mir fielen dazu einige Dinge ein, zum Beispiel ein wohlfeiler und billiger Verweis darauf, daß auch die Montagsdemonstrationen in der DDR gegen geltendes Recht verstießen. Oder ein Exkurs über die Frage, was es eigentlich heißt, wenn zwei Parteien, die ein „D“ für „demokratisch“ im Namen tragen, den Nazis Triumphe bescheren und ihnen willfährig dabei helfen, sich als Hüter von Recht und Ordnung zu inszenieren.
Mir fiele bestimmt auch noch etwas dazu ein, was das wohl für ein Signal ist an all jene BürgerInnen dieses Landes, die bisher annahmen, mit dem „Aufstand der Anständigen“ und dem „Zusammenhalt der Demokraten“ und dem „Nichtwegsehen“ seien tatsächlich Handlungsaufforderungen gemeint.
Aber wie wir ja alle wissen, wurden die Nazis 2010 durch die telekinetischen Kräfte der Menschenkette* am anderen Elbufer aufgehalten und nicht etwa durch die 10.000 Rechtsbrecher in der Neustadt. Hätte der Hahn sich mal lieber da mit eingereiht anstatt sich auf eine Neustädter Straße zu stellen. Das hätte die Nazis nämlich total dolle beeindruckt und die Polizei hätte ihre rechtsstaatliche Aufgabe erfüllen können und die Nazis durch die Neustadt führen.**

Dies könnte ich alles tun. Mache ich aber nicht. Ich verweise lieber auf den Hausheiligen dieses Blogs, Dr. jur. Kurt Tucholsky, der zu diesem Sachverhalt folgendes zu sagen hat:

http://www.blog.de/srv/media/dewplayer.swf?son=http://data7.blog.de/media/632/5938632_f94e907f9b_a.mp3

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen . . .
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8324-8325 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 162-163) Die Lesung findet sich auf dem Hörbuch Gruß nach vorn


Flattr this

*Die ich allerdings nicht gering schätzen möchte. Es gehört Risikobereitschaft dazu, sich Nazis in den Weg zu stellen. Ich kann verstehen, wenn man das ernsthafte Risiko für Leib und Leben nicht eingehen möchte und sich darauf beschränkt, ein Zeichen zu setzen. Nur ist das eben auch nur ein Symbol, das im Wesentlichen zur Selbstversicherung dient (die notwendig ist, weil das Erlebnis, nicht allein zu sein, kraftspendend sein kann). Und über symbolische Akte auf der anderen Seite des Flusses pflegen Nazis zu lachen. Deshalb ist es gut und richtig und ein Zeichen für eine funktionierende Zivilgesellschaft, wenn sich diesen Menschen ein tausendköpfiger Gandalf entgegenstellt und sagt: „Du kommst nicht vorbei!“
Übrigens: Die Route ausgerechnet durch die Neustadt zu legen stinkt meilenweit nach Provokation. Ich werde das Gefühl nicht los, daß einige Stellen im Dresdner Apparat traurig sind, daß es damals nicht richtig gekracht hat. Nun muß man zu so armseligen Mitteln greifen und wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz ermitteln. Wofür nebenbei unbedingt das Speichern von Millionen Datensätzen über Handygespräche und Baumarktkäufe notwendig ist. Klaro, ist voll verhältnismäßig. Sinn machen diese Überwachungsmaßnahmen übrigens, wenn man tatsächlich auf einen Krawall gehofft hatte…

Gachmuret feat. Der Hausheilige – live und aus der Dose

Es ist mal wieder an der Zeit für eine kultische Handlung, wie sie einer anständigen Heiligenverehrung gebührt.
Nach einigen öffentlichen Zeremonien im vergangenen Jahr wird es in diesem Jahr nun etwas größer.
Damit es der geneigten Jünger-, ähem, Leserschaft künftighin leichter fällt, der täglichen Erbauung wegen Texte des Hausheiligen wahrzunehmen*, habe ich einen Tonträger herstellen lassen, der nunmehr gegen einen kleinen Unkostenbeitrag zu erwerben ist.
Und diese große Tat soll nun freilich auch angemessen gefeiert werden, zu welchem Behufe es gelang, die Leipziger Filiale des Informationshändlers lehmanns media zu einem zeitweiligen Tempel umbauen zu lassen.
Dies soll geschehen am 08. September 2011 ab 20:15 Uhr. Wie es sich für eine Zeremonie, die etwas auf sich hält und zudem Massen bewegen und erreichen möchte, wird es Speis und (alkoholischen) Trank geben.
Karten können hier erworben werden und wer nicht weiß, wo sich der Ort des Geschehens befindet, dem sei mit dieser Karte weitergeholfen:

Und natürlich ist es auch möglich, die CD bereits im Vorfeld zu erwerben (zum Beispiel für Missionszwecke), sei es vor Ort, sei es bei lehmanns.de (mit Hörproben!), einem anderen Buchhändler des Vertrauens oder dem Alleshändler mit dem a.
Wer gerne in Eigenitiative für ein volles Haus sorgen möchte, sei herzlichst eingeladen, dieses Plakat auszudrucken und an geeigneten Stellen aufzuhängen – oder auf sonstige Weise zu verbreiten. Es soll da ja heutzutage ganz erstaunliche Möglichkeiten geben.

Ich freue mich auf jeden Zuhörenden und jede Zuhörende. Machen wir uns einen schönen Abend.

*Und natürlich, um die notwendigen finanziellen Ressourcen für den Aufbau einer funktionierenden Organisation zu sammeln.

Dulce et decorum est pro patria mori

Diese Zeile aus einer Horaz-Ode ist ein beredtes Beispiel für den Wahn, in den Menschen gerne verfallen, sobald jemand „Vaterland“ und „bedroht“ auf die passende Weise miteinander verbindet. Sie ist es auch deshalb, weil sie zum einen zeigt, daß sich dieser Wahn in allen Zeiten (und wohl auch allen Kulturen, aber da fehlt mir der Überblick) finden läßt und zum anderen späteren Zeiten als gelehrtes Feigenblatt für den eigenen geistigen Ausnahmezustand diente. Immer getreu dem Motto: „Schon Horaz sagte…“ Ich bin mir nicht sicher, was verheerender war, die unmittelbare Wirkung auf die partherbekämpfenden Zeitgenossen oder die mittelbare auf Generationen von Menschen, die meinten, hier humanistisches Gedankengut zu zitieren, nur weil der Unsinn zufällig auf Latein geschrieben wurde.
Am 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion sei darauf hingewiesen, daß das Problem an dieser ganzen unseligen Angelegenheit weit weniger die Frage der konkret Beteiligten und ihrer Motive sind, sondern mir eher der Krieg an sich ein Übel zu sein scheint. Denn genauso wie Horaz seine Mitbürger gegen die Parther einschwört, so schwörten sich die sowjetischen Soldaten gegen die deutschen Angreifer ein. Und lassen da an Pathos nichts vermissen. Ich halte es für müßig, darüber zu diskutieren, welcher Seite man nun das größere Recht am Töten zugestehen möchte. Gerade die Konstellation Hitler vs. Stalin macht die Absurdität einer solchen Frage offenkundig. Das Problem liegt viel tiefer und ist vielleicht gar nicht lösbar, da es schwierig werden könnte, Identität ohne Abgrenzung zu definieren.
Jedenfalls erscheint es mir auch heute, da wieder einmal das Vaterland verteidigt wird (derzeit am Hindukusch), nötig, den Hausheiligen auf die Bühne dieses Blogs zu holen, auch wenn ich auf Seegers Frage danach, wann wir denn endlich lernen werden, derzeit zur deprimierenden Antwort neige: Niemals.
Aber vielleicht irre ich ja.

Gebet nach dem Schlachten

Kopf ab zum Gebet!

Herrgott! Wir alten vermoderten Knochen
sind aus den Kalkgräbern noch einmal hervorgekrochen.
Wir treten zum Beten vor dich und bleiben nicht stumm.
Und fragen dich, Gott:
Warum –?

Warum haben wir unser rotes Herzblut dahingegeben?
Bei unserm Kaiser blieben alle sechs am Leben.
Wir haben einmal geglaubt … Wir waren schön dumm … !
Uns haben sie besoffen gemacht …
Warum –?

Einer hat noch sechs Monate im Lazarett geschrien.
Erst das Dörrgemüse und zwei Stabsärzte erledigten ihn.
Einer wurde blind und nahm heimlich Opium.
Drei von uns haben zusammen nur einen Arm …
Warum –?

Wir haben Glauben, Krieg, Leben und alles verloren.
Uns trieben sie hinein wie im Kino die Gladiatoren.
Wir hatten das allerbeste Publikum.
Das starb aber nicht mit …
Warum –? Warum –?

Herrgott!
Wenn du wirklich der bist, als den wir dich lernten:
Steig herunter von deinem Himmel, dem besternten!
Fahr hernieder oder schick deinen Sohn!
Reiß ab die Fahnen, die Helme, die
Ordensdekoration!
Verkünde den Staaten der Erde, wie wir gelitten,
wie uns Hunger, Läuse, Schrapnells und Lügen den Leib zerschnitten!
Feldprediger haben uns in deinem Namen zu Grabe getragen.
Erkläre, dass sie gelogen haben! Läßt du dir das sagen?
Jag uns zurück in unsre Gräber, aber antworte zuvor!
Soweit wir das noch können, knien wir vor dir – aber leih uns dein Ohr!
Wenn unser Sterben nicht völlig sinnlos war,
verhüte wie 1914 ein Jahr!
Sag es den Menschen! Treib sie zur Desertion!
Wir stehen vor dir: ein Totenbataillon.
Dies blieb uns: zu dir kommen und beten!

Weggetreten!

in: Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke, Bd. 3. Rowohlt TB. Reinbek 1995. S.437f.


Flattr this

Aufmerksamkeit

Zum Glück leben wir ja nicht mehr 1931 und haben jetzt Qualitätsjournalismus, der nämlich immer sachorientiert schreibt und deshalb unbedingt als Bestandteil des Kulturerbes umfänglich geschützt gehört.
Damit kann dieser Text des Hausheiligen wohl ins Archiv, nicht wahr?

Das Persönliche

Schreib, schreib . . .
Schreib von der Unsterblichkeit der Seele,
vom Liebesleben der Nordsee-Makrele;
schreib von der neuen Hauszinssteuer,
vom letzten großen Schadenfeuer;
gib dir Mühe, arbeite alles gut aus,
schreib von dem alten Fuggerhaus;
von der Differenz zwischen Mann und Weib . . .
Schreib . . . schreib . . .

Schreib sachlich und schreib dir die Finger krumm:
kein Aas kümmert sich darum.

Aber:

schreibst du einmal zwanzig Zeilen
mit Klatsch – die brauchst du gar nicht zu feilen.
Nenn nur zwei Namen, und es kommen in Haufen
Leser und Leserinnen gelaufen.
»Wie ist das mit Fräulein Meier gewesen?«
Das haben dann alle Leute gelesen.
»Hat Herr Streuselkuchen mit Emma geschlafen?«
Das lesen Portiers, und das lesen Grafen.
»Woher bezieht Stadtrat Mulps seine Gelder?«

Das schreib – und dein Ruhm hallt durch Felder und
Wälder.

Die Sache? Interessiert in Paris und in Bentschen
keinen Menschen.
Dieweil, lieber Freund, zu jeder Frist
die Hauptsache das Persönliche ist.

in: Werke und Briefe: 1931, S. 500-501. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8480-8481 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231-232)

Oder eben auch nicht. An einer Stelle, die ich grad nicht mehr finde, las ich, daß laut einer Studie die Glaubwürdigkeit im Netz nicht davon abhängt, ob jemand unter Pseudonym oder Klarnamen schreibt. Das hätte ich zwar spontan auch gesagt, aber Aussagen empirisch abzusichern, kann ja nie schaden. Jedenfalls empfehle ich dringend, diesen Kommentar von @haekelschwein zur Debatte um „Gutti-gut-finde-Facebookgruppen“ bei netzpolitik.org zu lesen.

Kleine Kostprobe:

Es bringt nichts, sich über unpolitische Menschen mit einfacherer Bildung lustig zu machen.
Was sollen die daraufhin tun, plötzlich klug werden? Wie soll das gehen? […]
Dass er Politiker war, erschien aber nur als Anlass, über ihn zu berichten, nicht jedoch als Inhalt der Boulevardberichte. Deren Konsumenten interessieren sich auch nicht für Politik, sondern für schillernde Prominente.
Guttenbergs Beliebtheit bei dieser Schicht leidet deshalb auch nicht unter seinen Fehlern als Politiker, weil seine Fans gar nicht genau sagen könnten, worin dessen Politik eigentlich besteht, sondern sie sind sich lediglich sicher, dass ein Mensch, der ihnen derart sympathisch ist, auch auf diesem obskuren Feld namens Politik etwas Großes leistet.
Alle Gegenargumente, die Guttenbergs politische Versäumnisse aufzählen, verfangen deshalb nicht.


Flattr this

Multi-Tasking

Zum Themenkreis Multi-Tasking, Zeitmanagement und Prokrastination eine kurze Anmerkung des Hausheiligen dieses Blogs, Dr. Kurt Tucholsky:

Da erzählen sich die Leute immer so viel von Organisation (sprich vor lauter Eile: »Orrnisation«). Ich finde das gar nicht so wunderherrlich mit der Orrnisation.
Mir erscheint vielmehr für dieses Gemache bezeichnend, daß die meisten Menschen stets zweierlei Dinge zu gleicher Zeit tun. Wenn einer mit einem spricht, unterschreibt er dabei Briefe. Wenn er Briefe unterschreibt, telefoniert er. Während er telefoniert, dirigiert er mit dem linken Fuß einen Sprit-Konzern (anders sind diese Direktiven auch nicht zu erklären).
Jeder hat vierundfünfzig Ämter. »Sie glauben nicht, was ich alles zu tun habe!« – Ich glaubs auch nicht. Weil das, was sie da formell verrichten, kein Mensch wirklich tun kann. Es ist alles Fassade und dummes Zeug und eine Art Lebensspiel, so wie Kinder Kaufmannsladen spielen. Sie baden in den Formen der Technik, es macht ihnen einen Heidenspaß, das alles zu sagen; zu bedeuten hat es wenig. Sie lassen das Wort ›betriebstechnisch‹ auf der Zunge zergehn, wie ihre Großeltern das Wort ›Nachtigall‹. Die paar vernünftigen Leute, die in Ruhe eine Sache nach der andern erledigen, immer nur eine zu gleicher Zeit, haben viel Erfolg.
Wie ich gelesen habe, wird das vor allem in Amerika so gemacht. Bei uns haben sie einen neuen Typus erfunden: den zappelnden Nichtstuer.

aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932, S. 212. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8927f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 99)


Flattr this

Das Buch zum Sonntag (81)

Cover von Prokop: Wer stiehlt schon Unterschenkel?

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Gert Prokop: Wer stiehlt schon Unterschenkel?

Diese Woche gibt es mal wieder etwas entspannende Lektüre, denn die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, läßt Prokop weitgehend unbeantwortet.
Im Mittelpunkt der Erzählungen steht der Privatdetektiv Timothy Truckle, der in den USA der Zukunft lebt. Eine der interessanten Ideen bei Prokops Zukunftsentwurf scheint mir dabei zu sein, daß es der Welt irgendwann einfach mal reicht und sie bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts die USA unter einer riesigen Käseglocke verschwinden läßt. Es gibt also zwei Welten, die isolierten USA und DRAUSSEN. Natürlich spielt bei Prokops dystopischer Zukunftsvision, in der Gods own Country ohne Hilfe von außen gar nicht mehr lebensfähig wäre (was jetzt nicht heißt, daß man sich um sie kümmern würde – man läßt sie halt leben) und sich zudem die Bürger im festen Würgegriff von alleswissenden und alleskontrollierenden Staats- und Wirtschaftsinstitutionen befinden, unbedingt eine bestimmte Weltsicht mit. Und natürlich laufen Science-Fiction-Geschichten immer Gefahr, von der Realität überholt zu werden und damit merkwürdig angestaubt oder gar lächerlich zu wirken. Das gilt sicherlich, soweit wir utopische Literatur als konkrete Prophezeiung auffassen. Doch genauso wenig wie Khan Noonien Singh lächerlich wurde, als klar wurde, daß das mit den eugenischen Kriegen bs 1996 wohl nix mehr werden würde, oder Jules Vernes Mondreise weniger faszinierend, nachdem sich herausstellte, daß Schießbaumwolle wohl nicht der entscheidende Treibstoff würde, wird Timothy Truckle zu einer abwegigen Figur, nur weil sich die Weltpolitik seit 1978 in andere Richtungen entwickelte.
Überhaupt gilt für Science-Fiction ähnliches wie zu einem anderen Genre:

Jeder historische Roman vermittelt ein ausgezeichnetes Bild von der Epoche des Verfassers.

*

Das Verlegen einer Handlung in andere Welten und Zeiten ist ein probates Mittel, Aussagen über die eigene Welt und Zeit zu treffen. Mit dem wunderbaren Vorteil, sich um deren exaktes Abbild keine Gedanken machen zu müssen (daran hätte der Biller mal denken sollen). Aber zurück zum Buch, das den Untertitel „und andere unglaubliche Kriminalgeschichten“ trägt. Kriminalgeschichten behauptet Prokop also zu erzählen. Nun, das ist technisch nicht völlig unzutreffend, Truckle löst tatsächlich Kriminalfälle unterschiedlicher Art (das bringt der Beruf eines Privatdetektivs ja konstitutiv mit sich), andererseits:

„Aber es gibt anscheinend in ganz Chicago auch keinen Patienten, der auf einen zweiundfünfziger Unterschenkel wartet. Zumindest steht niemand auf den Wartelisten der offiziellen Kliniken und der registrierten Ärzte. Vielleicht bei den CAPOs, sollten die keine eigenen Kliniken haben?“
„Die CAPOs!“ Timothy lachte, daß ihm fast die Tasse aus der Hand gefallen wäre. „Was sind Sie doch für ein braver Bürger, Edward! Sie glauben wohl alles, was über Video flimmert? Die CAPOs sind nichts als eine Erfindung cleverer Journalisten und Public-Relations-Manager.“
„Wollen Sie behaupten, der ganze Kampf gegen die CAPOs sein nur -“
„Ein Märchen“, ergänzte Timmothy, „eine hübsche Geschichte für naive Gemüter, damit die etwas zum Gruseln haben und nicht soviel über andere Dinge nachdenken.“
„Und die CASA NOSTRA, die MAFIA?“
„Das war einmal. Im vorigen Jahrhundert. Glauben Sie mir, Edward, es gibt längst keine Unterscheidung mehr zwschen saubern und schmutzigen Unternehmen. Zumal die Ausnutzung der heutigen Gesetze in der Regel mehr Geld einbringt als ihre Verletzung.

(S. 27)**

Ich weiß, völlig absurd. Als ob eine Welt existieren könnte, in der ein Popanz aufgebaut wird, um alle gesellschaftlichen Aktivitäten unter dem Argument der Sicherheit zu kontrollieren. Diese Literaten… kopfschüttel
Unabhängig davon aber, denn wie eingangs erwähnt, empfehle ich Prokop ja nicht, weil er essentiell Neues und Sensationelles zur Großen Frage beizutragen hat***, sondern vorrangig, weil er, ohne platt zu werden, Freude macht. Es steckt eine Menge Phantasie in diesem Band, durchaus mit einem Hang zum Absurden, es werden hier nicht nur Körperteile gestohlen, sondern auch freigewählte Todesarten diskutiert (mit interessanten Optionen) und Identitätsfragen auf diversen Ebenen durchdekliniert. Mhm. Wenn ich es mir recht überlege, stecken vielleicht doch ein paar Antworten oder zumindest ein paar sehr interessante Fragen in den sich harmlos gebärdenden Geschichten.

Derzeit lieferbar ist eine Gesamtausgabe mit dem Fortsetzungsband „Der Samenbankraub“. Die ebook-Ausgabe ist auch einzeln erhältlich.

P.S. Eins noch:

Als Timothy schon im Mausoleum verschwinden wollte, räusperte sich Napoleon. Im Geber lag noch ein Streifen.
+ + aus der anleitung für die bedienung von electronicgehirnen + 12c3 merke: dein computer ist nicht allwissend + n. + + +

(S. 87)

* aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932, S. 209. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8925 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 98)
**zitiert nach: Prokop, Gert: Wer stiehlt schon Unterschenkel. Das Neue Berlin. Berlin 2006
***Wobei auch das natürlich eine Frage der eigenen Welterfahrung ist. Ich möchte mitnichten ausschließen, daß sich hier ganz wunderbare Ansätze zum Weiter- und Neudenken finden lassen. Ein reines Plauderbüchlein ist es nun auch wieder nicht.

Jedes Jahr auf Neue, bei geradezu jedem mehr oder weniger akzeptierten Anlasstag aufs Neue bricht es heraus:
Der [bitte passenden, individuell abgelehnten Tag einsetzen] ist doch nur eine Erfindung der [passende Branche ergänzen]-Industrie! Entweder, der/die/das bedeutet einem das ganze Jahr über etwas oder so ein Tag ist auch unnütz.

So wie @eimerchen hier wieder anlässlich des VerliebtenFeiertages:

@eimerchen bei TwitterIch hoffe nur all jene, die das empört rufen und begeistert beklatschen, finden dann auch konsequenter Weise »Schlaflos in Seattle« mal total doof (die hätten sich ja auch an jedem anderen Tag in New York treffen können), ebenso wie Dickens Weihnachtsgeschichte (Scrooge ist ja nicht nur Weihnachten ein Arsch, also warum gerade dann?) oder sonstige anlassbezogene Kunstwerke.

Wobei ich dem öffentlich verordneten Gutfinden ja gar nicht das Wort reden möchte, es sei hier nur mit dem Hausheiligen einmal an einen bedenkenswerten Aspekt erinnert, auch wenn dieser ihn im Zusammenhang mit einem anderen Anlasstag äußerte:

Nach dem Kalender fühlen . . . Aber habt ihr einmal geliebt . . . ? Die Damen sehen in ihren Schoß, und die Herren lächeln so unmerklich, daß ich von meiner Kanzel her Mühe habe, es zu erkennen. Also ihr habt geliebt, und ihr – ich sehe keinen an – liebt noch. Nun, ihr Herren, und wenn sie Geburstag hat? Nun, ihr Herren, und wenn der Tag auf dem Kalender steht, an dem ihr sie zum erstenmal geküßt habt –? Nun?
Was im ganzen Jahr künstlich oder zufällig zurückgedämmt war – er bricht – wenns eine richtige Liebe ist – elementar an solchem Tage hervor aus tiefen Quellen. Der Tag, dieser dumme Tag, der doch gleich allen anderen sein sollte, ist geheiligt und festlich und feierlich und freundlich – und ihr denkt und fühlt: sie – und nur sie. Nach dem Kalender… ?
Nicht nach dem Kalender. Ihr tragt alle den Kalender in euch. Es ist ja nicht das Datum oder die bewußte Empfindung, heute müsse man nun . . .
Es ist, wenn ihr überhaupt wißt, was ein Festtag ist, was Weihnachten ist: euer Herz.
[…]
Grüßt, ihr Herren, die Damen, küßt ihnen leise die Hand (bitte in meinem Auftrag) und sagt ihnen, man könne sogar seine Gefühle nach dem Kalender regeln: zum Geburtstag, zum Gedenktag – und zu Weihnachten.

Aber man muß welche haben.

Eben: Man muss welche haben. Und ich wüsste nicht, warum die nicht auch mal am 14.02. hervorbrechen sollten.


Flattr this

aus: Gefühle nach dem Kalender. in: Werke und Briefe: 1919. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1638-40 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 230-231) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Introducing: Des Hausheiligen wahre Heimat im Zwischennetz

Das Internet ist groß. Verdammt groß. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie groß, gigantisch, wahnsinnig riesenhaft das Internet ist. Du glaubst vielleicht, die Straße runter bis zur Drogerie ist es eine ganz schöne Ecke, aber das ist einfach ein Klacks, verglichen mit dem Internet.*

Und das allein kann nur der Grund sein, warum mir das famose Webprojekt Friedhelm Greis´ zum Hausheiligen dieses Blogs erst jetzt vor das virtuelle Surfbrett kam. Das Sudelblog (dessen Name ebenso unvermeidlich ist wie Treppe, die es im Banner trägt – die Tragik wirklich treffender Beschreibungen ist ja gerade eben, daß sie aufgrund ihrer Trefflichkeit permanent herangezogen werden und so der Gefahr des Überdrusses beim Lesenden geradezu schutzos ausgeliefert sind. Meine Ankündigung für die Tucholsky-Lesung im Frühjahr stand ja auch unter dem bereits sattsam bekannten Motto „Lerne lachen ohne zu weinen“) widmet sich der zeitgenössischen Tucholsky-Rezeption und ihm selbst in einem derart gründlichen und lobenswerten Ausmaß, daß ich mich dort, nun sagen wir, in erheblichem Maße festgelesen habe. Ich habe hier im Blog in letzter Zeit meine These, daß sich bei Tucholsky zu nahezu jedem Thema des modernen Lebens eine Aussage finden läßt, etwas nachlässig behandelt. Herrn Greis Sudelblog aber läßt mich zumindest planen, dies in Zukunft wieder etwas intensiver anzugehen. Und wahrscheinlich wird sich auch so künftighin der eine oder andere Verweis dorthin erfolgen. Für heute mag dieser

Anspieltipp

den ich mit höchtem Genuß gelesen habe, und zudem auch der Beitrag war, der mich dorthin führte (im Nachgang zur Sylvester-Lesung habe ich eine Kurzrecherche zu Mynona starten wollen), genügen.

Und schließen möchte ich mit diesem kurzen Kommentar des Hausheiligen in Sachen Nachruhm:

Mein Nachruf

Auf eine Rundfrage

Wie mein Nachruf aussehen soll, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wie er aussehen wird. Er wird aus einer Silbe bestehen.
Pappa und Mamma sitzen am abgegessenen Abendbrottisch und vertreiben sich ihre Ehe mit Zeitungslektüre. Da hebt Er plötzlich, durch ein Bild von Dolbin erschreckt, den Kopf und sagt: »Denk mal, der Theobald Tiger ist gestorben!«
Und dann wird Sie meinen Nachruf sprechen. Sie sagt:
»Ach -!«

**


Flattr this

*Ehe jetzt die Plagiatsvorwürfe auf mich herniederprasseln, selbstverständlich ist das abgeschrieben aus: Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis. Gesamtausgabe. Rogner & Bernhard Berlin. 3. Aufl. 2008, S. 70 – nur daß dort statt „Internet“ „Weltraum“ steht. Aber ich bin sicher, die popkulturell bestens gebildete geneigte Leserschaft hat das ohnehin sofort durchschaut.
**Tucholsky, Kurt: Mein Nachruf. in: Werke und Briefe: 1927, S. 425. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 5147 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 200) (c)Rowohlt Verlag

Helden? Eine Nachfrage.

Seit einiger Zeit geht es ja wieder um, das Gespenst des Kommunismus. Erstaunlicherweise trägt es das Gesicht von Gesine Lötzsch, der es wohl weniger gut gelingt, die bürgerliche Kampfpresse (oder doch die Systempresse, man kommt da immer durcheinander 😉 ) zu becircen als der guten Sarah, deren Hang zum Kommunismus eher als Folklore denn als tiefempfunde Überzeugung ausgelegt wird. Was ich bemerkenswert finde, denn gerade das verzweifelte Rudern im Nachgang legt doch nahe, daß es Frau Lötzsch nicht so furchtbar Ernst mit der Weltrevolution ist.

Exkurs: Sind eigentlich noch DDR-sozialisierte in der geneigten Leserschaft? Ich kann den Namen „Gesine“ ja nicht ohne Gedanken an dieses Buch hier hören oder lesen. Ungemein wirkmächtig übrigens. Mir kommt diese Geschichte auch bei jedem Bericht über Kriegsflüchtlinge und -gefangene in den Sinn. Man erzähle mir nicht, es sei egal, was man in seiner Kindheit liest. Für mich ist das eher ein weiterer Beleg für die Gültigkeit von Golo Manns Diktum, wir seien alle, was wir gelesen.

Jedenfalls, in einer Zeit, in der SPD-Minister noch ganz anders mit Revolutionsfans umgingen und das obwohl man selbst ja durchaus noch das Endziel einer kommunistischen Weltordnung im Programm stehen hatte (aber gut, Leute in der Partei zu lassen, die dem eigenen Programm entgegenstehen, dafür aber diejenigen zu vergraulen, die das noch Ernst nehmen, ist ja auch heute noch Parteistrategie), schrieb der Hausheilige folgendes:

Zwei Erschlagene

(Liebknecht und Rosa Luxemburg)

Der Garde-Kavallerie-Schützen-Division
zu Berlin in Liebe und Verehrung

Märtyrer . . . ? Nein.
Aber Pöbelsbeute.
Sie wagtens. Wie selten ist das heute.
Sie packten zu, und sie setzten sich ein:
sie wollten nicht nur Theoretiker sein.

Er: ein Wirrkopf von mittleren Maßen,
er suchte das Menschenheil in den Straßen.
Armer Kerl: es liegt nicht da.
Er tat das Seine, wie er es sah.
Er wollte die Unterdrückten heben,
er wollte für sie ein menschliches Leben.
Sie haben den Idealisten betrogen,
den Meergott verschlangen die eigenen Wogen.
Sie knackten die Kassen, der Aufruhr tollt –
Armer Kerl, hast du das gewollt?

Sie: der Mann von den zwei beiden.
Ein Leben voll Hatz und Gefängnisleiden.

Hohn und Spott und schwarz-weiße Schikane
und dennoch treu der Fahne, der Fahne!
Und immer wieder: Haft und Gefängnis
und Spitzeljagd und Landratsbedrängnis.
Und immer wieder: Gefängnis und Haft –
Sie hatte die stärkste Manneskraft.

Die Parze des Rinnsteins zerschnitt die Fäden.
Da liegen die beiden am Hotel Eden.
Bestellte Arbeit? Die Bourgeoisie?
So tatkräftig war die gute doch nie . . .
Wehrlos wurden zwei Menschen erschlagen.

Und es kreischen Geier die Totenklagen:
Gott sei Dank! Vorbei ist die Not!
»Man schlug«, schreibt einer, »die Galizierin
tot.«
Wir atmen auf! Hurra Bourgeoisie!
Jetzt spiele dein Spielchen ohne die!

Nicht ohne! Man kann die Körper zerschneiden.
Aber das eine bleibt von den beiden:

Wie man sich selber die Treue hält,
wie man gegen eine feindliche Welt
mit reinem Schilde streiten kann,
das vergißt den beiden kein ehrlicher Mann!

Wir sind, weiß Gott, keine Spartakiden.
Ehre zwei Kämpfern!
Sie ruhen in Frieden!

*

Ja, die hehren Streiter für die gute Sache. Heroismus hat eine unglaubliche Anziehungskraft, ist das Heldentum doch in unseren kulturellen Code unauslöschlich eingewebt. Jede Zeit hat ihre Helden, jede Glaubensrichtung ihre Märtyrer. Und auch Liebknecht und Luxemburg sind ja dem Mythos nicht entkommen.
Doch sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob es nicht auch dieser Hang zum Heldentum ist, der eine Menge Unheil anrichtet. Wer sich nämlich als unbedingten Streiter für die wahre und gute Sache sieht, der verliert die Fähigkeit, sich selbst, seine Motive und Ziele zu hinterfragen. Sich selbst in Frage zu stellen halte ich aber für eine essentielle Eigenschaft des aufgeklärten Menschen. Nur wer in der Lage ist, über sich selbst nachzudenken und dabei auch zu unbequemen Ergebnissen zu kommen, nur derjenige ist auch in der Lage, Argumente Andersdenkender wahrzunehmen, abzuwägen und zu würdigen, sie in die Analyse einzubeziehen. Stattdessen beobachte ich aber eine weitgehende Zunahme zirkularer Diskurse, deren Ausgrenzungsmechanismen mit Hilfe diverser Schlagworte hinter keiner Ketzerdebatte des Mittelalters und keiner Revisionistenhatz auf einer KP-Tagung zurückzustehen braucht. Was damit aber geschieht, ist die Schaffung geschlossener Weltbilder, die keine Einflußnahme von außen mehr zulassen. Eine Cloud für jeden. Und dann sind die anderen eben böse [hier bitte entsprechenden Kampfbegriff einsetzen], die die Wahrheit einfach nicht verstehen wollen. Nichts aber könnte tödlicher sein für eine offene Gesellschaft als der Verlust des offenen Diskurses. Es mag sein, daß es nie besser war und ich hier wieder nur Schwarzseher bin, aber in dem Maße, in dem Werte und Ideen totalitär werden, bedrohen sie eine offene Gesellschaft. Das gilt für Privatheit ebenso wie für Transparenz. Für Relevanzkriterien ebenso wie für das ungebremste Ansammeln von Informationen. Für Altruismus ebenso wie für Hedonismus.
Die Liste ließe isch endlos weiterführen und wer einmal versucht hat, eine Debatte in einem beliebigen Onlineforum zu führen, wird verstehen, was ich meine. Irgendwann geht es nur noch darum, wer denn nun falschrum auf der Autobahn fährt. Wir laufen Gefahr, die Hoheit des gesellschaftlichen Diskurs irgendwelchen Unbedingtrechthabern zu überlassen, die nur noch ein „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ kennen, die selbstherrlich Argumente überhören oder mit dem Verweis auf ein beliebiges Schlagwort abtun (dies mal an die Linksdogmatiker: Falls ihr dessen noch fähig seid, schaut euch mal eure Definition von „bürgerlicher Kampfpresse“ an und vergleicht sie mit der Definition von „Systempresse“ auf der Eso-Verschwörung-Nazi-Front an – vielleicht fällt euch da eine Kongruenz auf).

Wir sollten es besser wissen.


Flattr this

P.S. Einen Aspekt unter vielen, die bei der Frage des gesellschaftlichen Diskurses zu beachten sind, greift dieser Artikel in der ZEIT auf, der die Rolle von FOX News beleuchtet – für alle, die nicht regelmäßig „The Daily Show“ schauen, höchst empfehlenswert.
Und noch einen Nachtrag (15.1.11, 11:34): In der taz gibt es ein Portrait eines Unbeirrbaren, der weiterhin für seine gute und gerachte Sache streitet. Ein wahres Paradebeispiel.
*aus: Werke und Briefe: 1919, S. 79-81. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1189-91 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 41-42) (c) Rowohlt Verlag

Neujahr.

Neujahrsansprachen rangieren auf der Hitliste der beliebtesten Zeitvertreibe eher nicht unter den Top Ten. Durchaus nicht zu Unrecht, denn, mal ehrlich, was soll man da schon groß sagen?
Die Auguren heutiger Tage (Wirtschaftsweise, Weltuntergangspropheten, Wirrköpfe sonstiger Couleur) lagen alle schonmal gründlich daneben. Verständlich, daß es da einen Hang zum Unkonkreten gibt, was die Ansprachen Offizieller natürlich noch öder macht. Denn schließlich wissen wir ja Dank Doc Brown, daß die Zukunft ein unbeschriebenes Blatt sei – jegliche Aussagen zum neuen Jahr sind also reine Orakelei.
Insofern gibt es nur eine gültige Neujahrsansprache, nämliche diese hier:

Laßt alle Hoffnung fahren.

Nichtsdestotrotz möchte ich den Hausheiligen zu Wort kommen lassen. Denn ganz so defaitistisch wie das depressive, Sartre zitierende Kastenweißbrot muß man die Sache nicht angehen.

Und eine Stimme sagte: „Und 1919?“ „Ja, und 1919?“ riefen alle. Das neue Jahr erhob sich und machte eine Verbeugung. In der Hand trug es eine kleine, elegante, lederne Reisetasche. „Was haben Sie dadrin?“ fragte 1918. „Darin trage ich ein Heilmittel für die da unten!“ sagte es. Und da wurde es ganz still.
„Darin trage ich den guten Willen. Ich darf es euch noch nicht sagen, was noch alles – aber das verspreche ich euch: wenn sie einer zu Räson kriegt, der gute Wille bekommt´s fertig. Der gute Wille der Niedergetretenen und der gute Wille der an die Freiheit Gekommenen. Der gute Wille der Staaten, nicht mehr Menschen zu knuten und einzusetzen wie totes Material – Menschen sind um ihrer selbst willen da! – Der gute Wille der Familie, Menschen zu erziehen und nicht nur zukünftige Onkel und Tanten und Vereinsmitglieder. Der gute Wille des Menschen, zu wissen, wofür er da ist, auf der bunten Erdkugel -: um seiner selbst willen, um seiner selbst willen, um seiner selbst willen!“
Und kaum hatte das Jahr ausgesprochen, da klangen großmächtige Glocken in den Saal, die Türen sprangen auf, und ein fernes brausendes Rufen drang durch die Luft. „Da – seht!“ sagte einer. Und obleich die alten Jahre das Schauspiel schon so oft gesehen hatten, kamen sie doch alle an die Tür und schauten: da hing die Erde groß und leuchtend in der Luft, wie ein ungeheurer Ball, es puffte und knallte und glühte auf ihr – da feierten sie Neujahr – „Ich muß gehen!“ sagte 1919 und verschwand.
„Prosit Neujahr!“ riefen die Jahre hinter ihm drein. Und ein ganz junges Jahr, das noch lange nicht herankommt – sein Name fängt mit zwei Nullen an -, krähte mit einer furchterregend pipsigen Stimme, im Diskant: „Und mach´ einmal Frieden da unten, du!“ – Und da lachten alle die alten Jahre brausend.
Und so wollen wir auch, wir, ich und du, in das neue, unbekannte Jahr hinübergehen, lachend, trotz alledem!“

*

All der gute Wille freilich nützt erst dann etwas, wenn er zur Tat wird („die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“**). Wünschen, Hoffen, Glauben, Beten – alles ganz wunderbare Sachen und wer die Kunst der Kontemplation beherrscht, dürfte daraus auch Ruhe und Kraft gewinnen. Wer aber wirklich etwas ändern will, wird um die Tat nicht herumkommen.
Und so mag das Schlußwort heute Gerhard Schöne gehören.


Flattr this

*zitiert nach: Die Jahre. in: Tucholsky, Kurt: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Texte 1914-1918 (=Bd. 2), Rowohlt. Reinbek 2003. S. 455
**nach: Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, Bd. 1, S. 385.

Leben und so.

„Das Leben, erzähl mir bloß nichts vom Leben.“ So läßt Douglas Adams den stets depressiven Roboter Marvin („Seht mich an, ein Gehirn von der Größe eines Planeten, und man verlangt von mir, euch in die Kommandozentrale zu bringen. Nennt man das vielleicht berufliche Erfüllung? Ich jedenfalls tu’s nicht.“) Menschen antworten, die ihn über eben dieses etwas belehren wollen. Nun, in der Tat, das Leben als solches ist kein Zuckerschlecken, es gibt unschöne Dinge und wenn man mal ein bißchen darüber nachdenkt, wofür die Krone der Schöpfung ihre bisherigen Leben so verwendet hat, kommen einem durchaus ernsthafte Zweifel, ob es sich bei „Leben“ überhaupt um ein sinnvolles Konzept handelt. Dies ist aber freilich nur die Draufsicht.
Anders stellt sich die Sache nämlich dar, wechselt man die Perspektive. Für denjenigen, der gerade lebt, hat das Leben einen völlig anderen Stellenwert. Genau genommen ist das Leben, das wir haben, wohl das einzige, worauf wir mit Sicherheit bauen können. Was davor war, was danach kommt – dies ist alles höchst ungewiß, ganz egal, was die zahlreichen Propheten so alles behaupten mögen.

Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.

*

So sehr sich die Intensität meiner Begeisterung für „Der Club der toten Dichter“ heute von der in meiner Jugend unterscheidet, eines bleibt doch bestehen: Der unbedingte Wille zur Lebensbejahung. Der Drang, jeden Tag auszukosten, bis zum letzten Tropfen auszuleben, denn mors certa, hora incerta – es könnte jeder Tag der letzte sein. Schon morgen, schon heute, beim nächsten Schritt auf die Straße kann es vorbei sein. Und ganz egal, was danach kommen mag, die Zeit, die uns hienieden beschieden ist, sollten wir nutzen, so gut, so intensiv wir können. Carpe diem.
So richtig klar wird einem das wohl trotzdem immer erst dann, wenn [hier bitte passende höhere Macht einsetzen] sich mal wieder entschließt, jemanden plötzlich und unvorhergesehen aus dem Leben zu reißen. Es sind manchmal nur Momente – gerade eben sprach man noch mit einem lieben Menschen, machte vielleicht Pläne für die nahe und fernere Zukunft und schon im nächsten Augenblick weilt derjenige nicht mehr unter den Lebenden. Bedenkt man, wieviel einen Menschen ausmacht, wieviele Facetten, Gedanken, Gefühle, Erfahrungen dazugehören, wie wenig davon wir kennenlernen, wieviel wir voneinander also entdecken könnten, wirkt es geradezu absurd, wie endgültig, wie vollständig der Tod ist. Mit jedem Menschen geht eine ganze Welt verloren.
Also, liebe geneigte Leserschaft, auch ihr habt nur dieses eine Leben und was auch immer diese Welt euch anzutun bereit ist: Gebt. Gebt, was ihr habt, auf daß ihr nicht vergessen werdet. Nur, was ihr gebt, wird von euch bleiben. Seid euch nicht zu sicher, den nächsten Morgen zu erleben, es könnte schon jetzt das Blutgerinnsel auf dem Weg sein, das euer Gehirn verstopft, der Laster, der euch beim nächsten Spaziergang übersieht, könnte gerade den Motor starten und die SuperböllerSilvesterrakete, die nach oben fliegen irgendwie doof findet, könnte die sein, die ihr gerade entzündet.
Also, ich bitte euch: Macht was draus.

Aus nicht näher zu erörternden persönlichen Gründen fiel meine Wahl zum Abschluß dieses Beitrages auf folgendes Gedicht:

Robert Frost: The Road Not Taken

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads on to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

übernommen von hier.


Flattr this

*aus: Der Mensch. in: Werke und Briefe: 1931, S. 498. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8478 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231) (c) Rowohlt Verlag

καὶ σὺ τέκνον

Ich weiß nicht, ob sich noch jemand erinnert, womit die Grünen vor gut 30 Jahren als Partei starteten. Vielleicht weiß es ja noch irgendjemand in dieser Partei. Veilleicht erinnert sich dort noch jemand an den Slogan von der „Anti-Parteien-Partei“, entsinnt sich des „Marschs durch die Institutionen“? An die Idee, Politik ganz anders zu machen?
Sollte da noch jemand sein, könnte der oder diejenige mir dann bitte das hier erklären?

gruene

Im Laufe der letzten Jahre haben die Grünen eine Position nach der anderen geräumt. Und da reden wir nicht nur über Kleinigkeiten. Die Friedenspartei beschloß schon Angriffskriege (Kosovo, Afghanistan), die Ökopartei genehmigte Kohlekraftwerke (Hamburg), die Partei der sozialen Bewegung beschloß Kürzungen für Kinder von Arbeitslosen (HartzIV – und ist sich heute nicht zu schade, eben diese niedrigen Sätze anzuprangern).
Nun, da es keine Positionen mehr zu räumen gab, wurde nun auch noch das letzte Feld aufgeben. Es ist nicht nur so, daß die Grünen sämtliche netzpolitischen Bemühungen der letzten Jahre nun endgültig getrost in den Skat drücken können, es ist nicht nur so, daß sie auf diesem Politikfeld mit der Zustimmung zum unsäglichen JMStV ihre Glaubwürdigkeit verloren haben (und da können noch so viele netzpolitische Kongresse veranstaltet werden), nein:
Die Idee, irgendwie anders zu sein als die anderen, der Stachel im Parteiensystem zu sein, eine Kraft zu sein, bei der es immer noch ein bißchen mehr um die Sache geht als um Personalien, die, zumindest in meinen Augen, zentrale grüne Idee, für Positionen statt Posten zu stehen, ist nunmehr endgültig und öffentlich aufgegeben worden. Wo ist da der Aufschrei der Basis? Wo ist da das Rumoren? Bitte, liebe Mitglieder der Grünen, wie könnt ihr das hinnehmen? Wir sind dagegen, aber aus parlamentarischen Zwängen stimmen wir dafür? Hallo? Ist da irgendwo noch jemand zu Hause?
Andererseits

lemke

habe ich vielleicht einfach eine falsche Vorstellung davon, wer eigentlich so Mitglied in dem Verein ist, wenn eine Woche später solche Zuwächse verkündet werden.
Mich jedenfalls hat diese ganze Angelegenheit sprachlos gemacht. Mit welcher Ruhe, ja geradezu nonchalant hier eine Partei ihr Selbstverständnis öffentlich in die Kanalisation befördert, läßt mich wirklich fassungslos zurück.
Vielleicht fassungslos, zumindest aber nicht sprachlos allerdings reagierte die Netzgemeinde. Hier mal zwei Beispiele. Zum einen dieses großartige Plakat:

lemke

(via pantoffelpunk)

Zum anderen die Mitmachplattform „Parlamentarische Zwänge„.

Und stünde ich nicht so fassungslos und sprachverloren da, würde ich vielleicht eine solche Wutrede schreiben.

Möglicherweise irre ich mich, möglicherweise sehe ich zu schwarz (Haha, Knaller.), aber, liebe Grüne, wolltet ihr nicht einmal anders sein? War nicht das Ziel, Partei zu sein, ohne daß die frustrierten Massen in dieses Lied des Hausheiligen singen und euch mitdenken? Brauchen wir tatsächlich eine APO gegen die Grünen? Also auch ihr?

Das Parlament

Ob die Sozialisten in den Reichstag ziehn –
is ja janz ejal!
Ob der Vater Wirth will nach links entfliehn,
oder ob er kuscht wegen Disziplin –
is ja janz ejal!
Ob die Volkspartei mit den Schiele-Augen
einen hinmacht mitten ins Lokal
und den Demokraten auf die Hühneraugen . . .
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!

Die Plakate kleben an den Mauern –
is ja janz ejal!
mit dem Schmus für Städter und für Bauern:
»Zwölfte Stunde!« – »Soll die Schande dauern?«
Is ja janz ejal!
Kennt ihr jene, die dahinter sitzen
und die Schnüre ziehn bei jeder Wahl?
Ob im Bockbiersaal die Propagandafritzen
sich halb heiser brüllen und dabei Bäche schwitzen -:
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
Ob die Funktionäre ganz und gar verrosten –
is ja janz ejal!
Ob der schöne Rudi den Ministerposten
endlich kriegt – (das wird nicht billig kosten):
is ja janz ejal!
Dein Geschick, Deutschland, machen Industrien,
Banken und die Schiffahrtskompanien –
welch ein Bumstheater ist die Wahl!
Reg dich auf und reg dich ab im Grimme!
Wähle, wähle! Doch des Volkes Stimme
is ja janz ejal!
is ja janz ejal!
is ja janz ejal -!

in: Werke und Briefe: 1929, S. 675f. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7163 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 299f.)


Flattr this

Nachgereicht: Das Buch zum Sonntag (71)

Prolog: Was auch immer über Landluft erzählt wird, zumindest mich Großstadtbewohner macht sie müde. Liegt wahrscheinlich am vielen Sauerstoff. Jedenfalls nach einem wunderbaren Adventswochenende bei lieben Freunden, die, öhm, landschaftlich sehr reizvoll wohnen, komme ich erst heute zur Buchempfehlung.

Für die gestern begonnene Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Hermann Hesse: Siddhartha

Kunden zu klassifizieren ist ein beliebter Zeitvertreib, natürlich auch im Buchhandel, der demnach selbstverständlich seine eigenen Sinus-Milieus hat. Eine Kategorie jedoch wird man dort vergeblich suchen, auch wenn ich sicher bin, daß zumindest die Kolleginnen und Kollegen aus der Branche sofort ein Bild vor Augen haben: Empfindsame junge Damen in der Hesse-Phase. Für diese ist Siddhartha natürlich Pflichtlektüre. Allerdings bin ich tatsächlich der Meinung, daß es sich auch für andere Zielgruppen lohnt, dieses Büchlein zu lesen.
Denn die Faszination, die Hesses „indische Dichtung“ auf empfindsame junge Damen ausübt, ist durchaus nachvollziehbar. Er schreibt in Nachahmung alter Mythenerzählungen mit einer beeindruckenden poetischen Kraft, die ihn davor bewahrt, an der Gratwanderung zum Kitsch zu scheitern. Es geht ein gewisser Sog von seiner Erzählung aus, die mich immer bewog, weiterzulesen. Und daß, obwohl klar ist, wie das Endziel des Ewigsuchenden, als der Siddharta hier porträtiert wird, aussehen wird – eine Problematik, der jede Literatur, die sich an mehr oder weniger historischen Personen und Begebenheiten orientiert, unterliegt. Können zeigt sich dann also in der Ausformung des Wie, in der Gestaltung der Personen. Und Hesses Siddharta ist überaus gelungen. Gerade das jugendliche Sehnen und Suchen nach anderen Regeln, anderen Werten als denen der Altvorderen, das Streben nach Höherem oder doch zumindest Neuem, das fängt Hesse sehr gut ein.

Die Waschungen waren gut, aber sie waren Wasser, sie wuschen nicht Sünde ab, sie heilten nicht Geistesdurst, sie lösten nicht Herzensangst. Vortrefflich waren die Opfer und die Anrufungen der Götter – aber war dies alles? Gaben die Opfer Glück? Und wie war das mit den Göttern? War es wirklich Prajapati, er die Welt erschaffen hat? War es nicht Atman, Er, der Einzige, der All-Eine? Waren nicht die Götter Gestaltungen, erschaffen wie ich und du, der Zeit untertan, vergänglich? War es also gut, war es richtig, war es ein sinnvolles und höchstes Tun, den Göttern zu opfern? […] Ach, und niemand zeigte diesen Weg, niemand wußte ihn, nicht der Vater, nicht die Lehrer und Weisen, nicht die heiligen Opfergesänge!

(S. 11)*

Hier haben wir denn die Grundthemen, die sich durch das ganze Werk ziehen werden, schon angedeutet: Das Suchen nach dem Großen, Einen, Ganzen, nach der Erlösung, dem Aufgehen in der Welt, dem Loslösen und ganz Aufgehobensein – und die Frage, wer dies und wenn ja, wie erreichen könnte. Gibt es dafür eine Lehre, eine Regel? Sind die Regeln, die wir haben, die Götter, die wir anbeten, nicht nur ein Vehikel, das uns hilft, dieses Leben zu überstehen, weil der wahre Weg viel zu beschwerlich, zu weit, zu unerreichbar ist?
Sehr schön illustriert dies auch folgender kurzer Dialog, einer der wenigen Stellen, die mich zu einem Schmunzeln bewegten:

Unterwegs sagte Govinda: „O Siddharta, du hast bei den Samanas mehr gelernt, als ich wußte. Es ist schwer, es ist sehr schwer, einen alten Samana zu bezaubern. Wahrlich, wärest du dort geblieben, du hättest bald gelernt, auf dem Wasser zu gehen.“
„Ich begehre nicht, auf dem Wasser zu gehen“, sagte Siddharta. „Mögen alte Samanas mit solchen Künsten sich zufriedengeben.“

(S. 26)

Der geneigte Leser folgt Siddhartas Weg zur Erlösung mit allen Höhen und Tiefen, mit seinen Irrungen, seinen Seitenwegen und Abzweigen – und derer sind es einige. Und natürlich muß er zunächst soweit wie nur irgend denkbar vom Wege abkommen, ehe er die gesuchte Erlösung finden wird. Und, dieser Seitenhieb sei mir noch gestattet, es ist kein Wunder, daß die Geschichte eines jungen Mannes, der aus einem gehobenen Haushalt stammt, der sich um seinen Lebensunterhalt nie Gedanken machten mußte, der nichts anderes an Künsten vorzuweisen hat als Warten, Denken und Fasten und dessen einzige Sorge also darin besteht, sich selbst zu finden (und beziehungsweise, sich selbst loszuwerden, um im buddhistischen Sinne im großen ganzen Einen aufzugehen), eine ganz bestimmte Klientel besonders anspricht.

Nichtsdestotrotz: Wäre mir unmittelbar nach Beendigung der Lektüre ein Buddhist begegnet – gut möglich, daß ich heute in orangefarbenem Gewand nach dem Om suchen würde. Dieses Buch ist im wahrsten Sinne schön. Es ist ein Buch zum Versinken, zum Treibenlassen. Man kann darin eintauchen und geht erfrischt daraus hervor.
Oder, wie es der Hausheilige formulierte:

Hermann Hesse hat, fern vom Problematischen, immer gut gespielt: seine naturalistischen Schilderungen sind fast unübertroffen, kräftig im Ton, bunt in
der Farbe, sauber, voll Blut und Luft und Atmosphäre . . .

**

Suhrkamp bemüht sich redlich um Hesse, und so ist denn die Zahl

der lieferbaren Ausgaben

beträchtlich.

P.S. Im Übrigen behaupte ich, daß dieses schmale Büchlein einen ganz hervorragenden Einblick in buddhistische Denkweisen bietet. Wofür gelehrte Abhandlungen recht umfangreiche Lektüre erfordern, erschließt sich hier auf nur wenigen und zudem sehr viel leichter zu lesenden Seiten. Aber ich bin kein Religionswissenschaftler und beim besten Willen kein Buddhismus-Experte, ich mag mich da also auch irren. 😉


Flattr this

*zitiert nach: Hesse, Hermann: Siddharta. Eine indische Dichtung. Suhrkamp Frankfurt/Main 2007. ISBN: 978-3-518-45853-2

**aus: Der deutsche Mensch. in: Werke und Briefe: 1927, S. 645. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 5367 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 295) (c)Rowohlt Verlag

Das Buch zum Sonntag (69)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte

Tucholsky gilt gemeinhin, und das nicht zu Unrecht, als Meister der kleinen Form. Merkwürdigerweise hat das hierzulande, wo man eine geradezu kultische Verehrung für den Roman hegt, tatsächlich einen pejorativen Anklang. Zumindest die Hochkritik akzeptiert einen Schriftsteller ja erst, wenn er endlich einen von ihr akzeptierten Roman vorlegt (hier sei exemplarisch an das seinerzeitige sehnsuchtsvolle Warten des Feuilletons auf den „großen Roman“ von Judith Hermann erinnert, nachdem man ihre Erzählungen himmelhoch lobte – und dabei offenbar die Möglichkeit, daß dies genau das zu ihr und ihrem Erzählstill passende Genre sein könnte, nicht ernsthaft in Betracht zog). Mir erscheint das etwas mekrwürdig, aber in einer eigenartigen Interaktion zwischen meinungsbildenden Kritikern, verlegerischen Verkaufserwartungen und Konsumentenverhalten entstand nun die Merkwürdigkeit, daß auf nahezu jedem erzählerischen Werk „Roman“ steht – völlig unabhängig davon, ob das nun zutrifft oder nicht.
Ich bin kein Literaturwissenschaftler, ob Schloß Gripsholm also zu Recht als Roman firmiert oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen (ich sage mal: Nö.) Es ist aber zumindest der längste zusammenhängende Text, den Tucholsky publizierte. Und ist für mich auch eher eine Sammlung exzellenter, wunderbarer Miniaturen, die durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten werden, als ein Roman.
Es geht schon ganz wunderbar los mit einem (fiktiven) Briefwechsel zwischen Rowohlt und Tucholsky, aus dem ich nur eine kleine Stelle zitieren möchte, nicht zuletzt, weil ich sie selbst immer wieder gerne verwende:

Die Leute wollen neben der Politik und dem Aktuellen etwas haben, was sie ihrer Freundin schenken können. Sie glauben gar nicht, wie das fehlt. Ich denke an eine kleine Geschichte, nicht zu umfangreich, etwa 15-16 Bogen, zart im Gefühl, kartoniert, leicht ironisch und mit einem bunten Umschlag.

(S. 150)*

So denken Verleger. 😉
Was nun folgt, ist eine kleine Geschichte, nicht zu umfangreich, zart im Gefühl, leicht ironisch – und nicht selten tatsächlich kartoniert mit buntem Umschlag. Der Lesende darf teilhaben an den Urlaubsabenteuern des Erzählers mit seiner Freundin Lydia, die einen mehrwöchigen Urlaub in Schweden verbringen.
Lydia („die Prinzessin“) gehört nun zu meinen liebsten literarischen Frauenfiguren. Stets gradeaus und vorneweg, forsch, aber nicht gefühllos, bestimmend, aber irgendwie auch zum Knuddeln.

„Frau Kremser hat gesagt“, begann Lydia, „ich soll mir meinen Pelz mitnehmen und viele warme Mäntel – denn in Schweden gibt es überhaupt keinen Sommer, hat Frau Kremser gesagt. Da wäre immer Winter. Ische woll nich möchlich!“ Frau Kremser war die Haushälterin der Prinzessin, Stubenmädchen, Reinmachefrau und Großsiegelbewahrerin. Gegen mich hatte sie noch immer, nach so langer Zeit, ein leise schnüffelndes Mißtrauen – die Frau hatte einen guten Instinkt. „Sag mal … ist es wirklich so kalt da oben?“
„Es ist doch merkwürdig“, sagte ich. „Wenn die Leute in Deutschland an Schweden denken, dann denken sie: Schwedenpunsch, furchtbar kalt, Ivar Kreuger, Zündhölzer, furchtbar kalt, blonde Frauen und furchtbar kalt. So kalt ist es gar nicht.“ – „Also wie kalt ist es denn?“ – „Alle Frauen sind pedantisch“, sagte ich. „Außer dir!“ sagte Lydia. – „Ich bin keine Frau.“ – „Aber pedantisch!“ – „Erlaube mal“, sagte ich, „hier liegt ein logischer Fehler vor. Es ist genauestens zu unterscheiden, ob pro primo …“
„Gib mal ´n Kuß auf Lydia!“ sagte die Dame. Ich tat es, und der Chauffeur nuckelte leicht mit dem Kopf, denn seine Scheibe vorn spiegelte. Und dann hielt das Auto da, wo alle bessern Geschichten anfangen: am Bahnhof.

(S. 153)

Die Sommergeschichte plätschert sodann vor sich hin. Die beiden betreiben allerlei Blödsinn, vergnügen sich nach Verliebtenart und es kommt auch durchaus zu dramatischen Entwicklungen, die zu einer guten Tat anregen. Das alles wird aber immer wieder unterbrochen von scharfsinigen Beobachtungen und melancholisch anmutenden Betrachtungen über die Welt, die Liebe und die Freundschaft.

Sich auf jemanden verlassen können! Einmal mit jemand zusammen sein, der einen nicht mißtrauisch von der Seite ansieht, wenn irgend ein Wort fällt, das vielleicht die als Berufsinteressen verkleidete Eitelkeit verletzen könnte, einer, der nicht jede Minute bereit ist, das Visier herunterzulassen und anzutreten auf Tod und Leben … ach, darauf treten die Leute gar nicht an – sie zanken sich schon um eine Mark fünfzig … um einen alten Hut … um Klatsch … Zwei Männer kenne ich auf der Welt; wenn ich bei denen nachts anklopfte und sagte: Herrschaften, so und so … ich muß nach Amerika – was nun? Sie würden mir helfen. Zwei – einer davon war Karlchen. Freundschaft, das ist wie Heimat. Darüber wurde nie gesprochen, und leichte Anwandlungen von Gefühl wurden, wenn nicht ernste Nachtgespräche stattfanden, in einem kalten Guß bunter Schimpfwörter erstickt. Es war sehr schön.

(S. 197f.)

Für diejenigen in der geneigten Leserschaft, die für die Entwicklung eines Autors ein Faible haben, sei empfohlen, Rheinsberg und anschließend Schloß Gripsholm zu lesen. Wo der 22jährige noch ein wahrhaft unbeschwertes (Rheinsberg ist vielleicht der einzige Prosatext Tucholskys, den ich als rundherum „unbeschwert“ bezeichnen würde) Bild eines verliebten jungen Paares zeichnet und sich diese naive Verliebtheit auch im Sprachstil ausdrückt, kann man in Schloß Gripsholm einen Autor genießen, der gereift ist, der auch ein wenig desillusioniert ist, der vor allem aber über eine breite Palette an sprachlichen Möglichkeiten verfügt. Und: Der einen untrüglichen, scharfen Blick besitzt. Wer dem Protagonisten folgt, wird einen Menschen erkennen, der doch bei allem Theater, das er um seine Person veranstaltet, sich doch nur wünscht, aus seiner Einsamkeit gelöst zu werden. Inwieweit nicht nur für Peter Panter, sondern auch für dessen Schöpfer gilt, mögen die Biographen beurteilen.
Ich möchte noch schließen mit einer versteckten Liebeserklärung ans Norddeutsche, an die ich immer wieder denken muß, wenn ich hier unten im Süden Menschen von „da oben“ begegne – und die einer der Gründe ist, warum ich durch Lübeck immer mit einem versonnnen Lächeln laufe:

Da stand sie schon mit den Koffern vor ihrem Haus – „Hallo!“ „Du bischa all do?“ sagte die Prinzessin – zur grenzenlosen Verwunderung des Taxichauffeurs, der dieses für ostchinesisch hielt. Es war aber missingsch.
Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein geliebtes Platt zurück. Lydia stammte aus Rostock, und sie beherrschte dieses Idiom in der Vollendung. Es ist kein bäurisches Platt – es ist viel feiner. Das Hochdeutsch darin nimmt sich aus wie Hohn und Karikatur; es ist, wie wenn ein Bauer in Frack und Zylinder aufs Feld ginge und so ackerte. Der Zylinder ischa en finen statschen haut, över wen dor nich mit grot worn is, denn rutscht hei ümmer werrer aff, dat deit he … Und dann ist da im Platt der ganze Humor dieser Norddeutschen; ihr gutmütiger Spott, wenn es einer gar zu toll teibt, ihr fest zupackender Spaß, wenn sie falschen Glanz wittern, und sie wittern ihn, unfehlbar …

(S. 152)

Gerade beim Hausheiligen kann ich natürlich unmöglich den Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben

auslassen.


Flattr this

*zitiert nach: Tucholsky, Kurt: Texte 1931 (=Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Band 14), Rowohlt. Reinbek 1998

Das Buch zum Sonntag (64)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich dem geneigten Publikum zur Lektüre:

Heinrich Mann: Der Untertan

Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.

Ist das nicht ein großartiger erster Satz? Mit meinem Assoziationskopfkino bräuchte ich jetzt kein weiteres Wort verlieren. Da ich aber nicht davon ausgehen kann, daß die geneigte Leserschaft ebenso seltsame Synapsen hat wie ich (was auch nicht wünschenswert wäre, glaubt mir), schreibe ich doch noch etwas dazu.
„Der Untertan“ gehört zu den wenigen Büchern meiner Lesebiographie, das ich erst nach dem Konsum der Verfilmung las (es gab in der DDR gewiß Dinge mit höheren Hindernissen, als diese mehr als gelungene Adaption zu sehen 😉 ). Das hat zwar den Nachteil, daß die im Kopf entstehenden Bilder überlagert werden (sich einen anderen Diederich Heßling vorzustellen, beispielsweise, ist dann äußerst schwierig), aber eben auch den durchaus zu bedenkenden Vorteil einer wesentlich intensiveren Erstlektüre, da der Plot ja bekannt ist, und sich so das Augenmerk sehr viel stärker auf die Facetten eines Romanes konzentrieren kann, die für Feuilleton und sonstige Bewerter schon immer den Unterschied zwischen Unterhaltungslektüre und Literatur von bleibendem Wert ausmachte.
Heinrich Manns große Stärke ist seine von einem klarsichtigen, geradezu sezierendem Scharfsinn geprägte Figurenzeichnung, die im „Untertan“ zu kaum zu übertreffender Hochform aufläuft. Heßling, die Honoratioren der Kleinstadt, sein sozialdemokratischer Vorarbeiter – das sind nicht einfach nur Typen (die sie auch sind), das ist ein Einzelpersonen komprimiertes Gesellschaftsportrait.*
Heinrich Mann erzählt die Geschichte eines kleinstädtischen Fabrikantensohnes in der Zeit des letzten deutschen Kaiserreiches. Zur Illustration gleich mal noch eine Stelle vom Beginn des Romanes:

Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!
Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.
Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewußt: „Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.“

(S. 7)**

Diese Sehnsucht nach Aufmerksamkeit von höherer Stelle wird zu einem treibenden Motiv in Diederichs weiterem Leben. Autoritätsgläubigkeit, Katzbuckeln zu jedem über ihm stehenden und Gnadenlosigkeit allen unter ihm stehenden gegenüber, eiskalt jeden persönlichen Vorteil ausnutzend, Verantwortung für eigenes Handelns immer dann ablehnend, wenn es die eigene soziale Stellung bedrohen könnte. Das Gieren nach Anerkennung in jeglicher Form, das Protzen mit Ämtern und Orden, Ehre und Anstand lautstark einfordernd, sich selbst darum einen Kericht zu scheren – wer einen Spießer braucht, mir ist kein treffenderes Beispiel bekannt als Diederich Heßling. Eine literarische Figur, die geradezu körperliche Abwehrreaktionen hervorzurufen vermag. Gelänge es Heinrich Mann nicht gleichzeitig, anzudeuten, daß aus Diederich auch etwas anderes hätte werden können, der Lesende würde einfach abwinken und Roman samt Figur in eine Schublade stecken. So aber bleibt immer ein Rest, der zum Nachdenken anregt. Der vielleicht dazu führt, sich so manche Figur seines Umfeldes mal genauer anzuschauen. Und bei der nächsten Vereinssitzung (Förderverein, Sportverein, Kaninchenzüchter, Partei – was ihr wollt) aufhorchen läßt, wenn urplötzlich eine Schärfe in die Debatte kommt, sobald es gilt, sich abzugrenzen. Oder gar es Streit darüber gibt, wer zweiter Schriftführer werden darf. Die geneigte Leserschaft wird staunen, wie viele Diederichs da um ihr Fitzelchen Ruhm und Anerkennung betteln. Wie sich dem „Hurra“-rufend dem Kaiser hinterherhecheln und auf alles und jeden treten, der auch nur die geringste Abweichung vom Idealbild zeigt – und, vor allem, auf der sozialen Leiter tiefer steht.
Schaut euch an, wie die Diederichs von heute Wut schäumend die Kommentarspalten füllen mit ihrer Abscheu auf faule HartzIV-Empfänger und schmarotzende, „integrationsunwillige“ Ausländer, im Vollbesitz ihrer moralischen Überlegenheit und stillschweigend über ihre eigenen Taten, die sie als läßliche Sünden betrachten, hinweg gehen.
Wer wirklich wissen will, was deutsche Leitkultur ist, für den gibt es keine Augen öffnendere Lektüre als dieses Buch. In schmerzlicher Konsequenz führt uns Heinrich Mann am Leben dieses bedauernswerten Kleingeistes vor, was es bedeutet, wenn Kleingeister bestimmen, was in einer Gesellschaft zählt. Und es ist in meinen Augen ein bemerkenswerter Umstand, daß Roman und Film in der DDR, dem Paradies der Diederichs, so lange so stark protegiert wurden.
Unsere heutige Zeit braucht diesen Roman dringender denn je. Es war Heinrich Manns klar sehender Blick, was passieren muß, wenn solche Denkungsart die Stütze einer Gesellschaft ist, der ihn dieses Werk schrieben ließ – und keine prophetische Gabe, wie in so mancher Kolportage zur Differenz zwischen Entstehungs- und Publikationsdatum anklingt.
Und in genau diesem Sinne ist Ulrike Meinhofs Diktum, das Private sei immer auch politisch, mehr als nur wahr. Sich selbst über andere zu erheben, egal aus welchen Gründen, ist nie einfach nur eine persönliche Charakterschwäche – es ist immer auch der Nährboden für gesellschaftliche Bewegungen, die genau darauf zielen. Daß ein Mensch besser sei als ein anderer und für ihn daher andere Regeln gelten.

Auch wenn ich dieses Mal sehr wenig über das Buch und viel mehr über dessen Auswirkungen auf mich geschrieben habe, hoffe ich doch, die geneigte Leserschaft von einer (Wieder-)Lektüre überzeugt zu haben. Vielleicht ja mit einer der

lieferbaren Ausgaben.

Heute einmal zum Abschluß noch der Hausheilige, dessen Begeisterung für diesen Roman die meinige vielleicht sogar noch übertrifft. In ganzer Länge kann die Rezension hier nachgelesen werden.

Dieses Buch Heinrich Manns, heute, gottseidank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Roheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolganbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit. Leider: es ist der deutsche Mann schlechthin gewesen; wer anders war, hatte nichts zu sagen, hieß Vaterlandsverräter und war kaiserlicherseits angewiesen, den Staub des Landes von den Pantoffeln zu schütteln.
Das erstaunlichste an dem Buch ist sicherlich die Vorbemerkung: »Der Roman wurde abgeschlossen Anfang Juli 1914.« Wenn ein Künstler dieses Ranges das schreibt, ist es wahr: bei jedem andern würde man an Mystifikation denken, so überraschend ist die Sehergabe, so haarscharf ist das Urteil, bestätigt von der Geschichte, bestätigt von dem, was die Untertanen als allein maßgebend betrachten: vom Erfolg. Und es muß immerhin bemerkt werden, daß die alten Machthaber – ach, wären sie alt! – dieses Buch von ihrem Standpunkt aus mit Recht verboten haben: denn es ist ein gefährliches Buch.

in: Werke und Briefe: 1919. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1239f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 63-64) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm


Flattr this

* Etwas übrigens, das seinem sich stets nur in besten bürgerlichen Kreisen bewegenden Bruder nie gelungen ist. Wobei wohl außer Frage steht, daß dieser das auch nie gewollt hätte. Aber eben gerade diese patrizische Arroganz läßt mein Herz immer wieder den viel lebensnaheren, für seine Standesverhältnisse geradezu rebellischen Heinrich bevorzugen. Im Gegensatz zum Zauberer, dessen größeres Können anzuerkennen ich nicht vermeiden kann, habe ich bei Heinrich den Eindruck, daß dieser tatsächlich auch ein eigenes Leben hatte und nicht nur als Spinne im Netz die Leben seiner Umgebung aussaugte.
**zitiert nach: Mann, Heinrich: Der Untertan. in der Reihe Fischer Klassik erschienen bei Fischer Taschenbuch Frankfurt/Main. 2. Auflage 2009

Gachmurets dritte Kulturwoche: Fernsehserie

Fernsehserie: South Park

Als South Park 1999 in Deutschland anlief, erhob sich allerorten Abendlanduntergangsgeschrei ob der angeblich sinnfreien Zusammenstellung diverser Körperflüssigkeiten und entsprechender Worte. Gar nicht erst zu reden von der furchtbaren Brutalität. Die armen Kinder, wenn die sowas sehen.
Nun, zunächst einmal sei dazu gesagt, daß es ein kulturelles Mißverständnis der hiesigen Kulturbeflissenen ist, alles, was irgendwie bunt und animiert daherkommt automatisch mit „Zielgruppe Kinder“ zu belegen. Dabei ist bereits der anarchische, grobe Zeichenstil der SouthPark-macher ein klarer formaler Hinweis darauf, daß hier nicht Guckmaldassüßekleinebambi-Fans angesprochen werden sollen. Bei Faldbakken, Houellebecq oder Hegemann ist das Feuilleton ja auch nicht so zimperlich.
Im Fernsehen wird SouthPark denn auch mit FSK16-Hinweis ausgestrahlt, wenn auch sicherlich nicht, weil man jüngeren Zuschauern das intellektuelle Niveau der Serie nicht zutraut. Es macht dies allerdings auch nur bedingt Sinn, bedenkt man, daß sämliche Folgen problemlos im Netz anzuschauen sind. 😉
Ich selbst fand erst Jahre später zu SouthPark. Zum Serienstart ließ mich die durchaus typische intellektuelle Arroganz des geisteswissenschaftlichen Studenten im Grundstudium (ihr wißt schon: „Ich war schonmal in einem Seminar und habe ein Buch gelesen!“) nur abschätzig die Nase rümpfen. Einen völlig anderen Blick auf diese Zeichentrickserie verdankte ich Michael Moores „Bowling for Columbine„, in dem auch Matt Stone, einem der beiden Schöpfer von South Park, interviewt wurde (Anlaß war der Fakt, daß Stone in Littleton die High School besuchte). Stone erwähnte dabei, daß ein Ziel seiner Arbeit sei, zu zeigen, was wir eigentlich anrichten mit dem seltsamen Gemisch aus Halbwahrheiten, Lügen und Verschweigen, mit dem wir unseren Kindern die Welt zu erklären meinen (er sagte das bestimmt anders, aber so wirkte es auf mich).
Und das ließ mich nachdenken. Und mir den Unsinn einmal ansehen.
Was Stone und Parker dort schaffen, ist nichts weniger als großartig, auch wenn diese Einschätzung sehr viel eher auf die späteren Staffeln als auf die frühen zutrifft. Aber die Serienjunkies in der geneigten Leserschaft wird ein solcher Satz kaum überraschen. 😉
Im Mittelpunkt der Serie stehen Grundschüler aus einem fiktiven kleinen Ort irgendwo in den Bergen der USA. Wie jede Fernsehserie schafft auch SouthPark sein eigenes Universum um einige zentrale Protagonisten, aber ich möchte hier darauf verzichten, da ins Detail zu gehen, weil das vollkommen unnötig ist und ich außerdem denjenigen, die die Serie noch nicht kennen sollten, die Chance lassen möchte, die Charaktere selbst kennenzulernen.
Mit einem treffsicheren Witz, einer präzisen Beobachtungsgabe und einer Lust am Demontieren auch des letzten Tabus gelingt es dem Duo Stone/Parker gekonnt, die Forderungen des Hausheiligen an die Satire zu erfüllen:

Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: »Seht!« – In Deutschland nennt man dergleichen ›Kraßheit‹. Aber Trunksucht ist ein böses Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. […]Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.[…]
Was darf die Satire?
Alles.

*

Wer mir bis hierhin nicht glaubte, dem seien nun einige Folgen empfohlen, um sich selbst ein Bild zu machen.
Ich beginne mit einer Episode, die ich für eine der stärksten überhaupt halte. Sie wirkt deshalb besonders intensiv, weil sie exakt auf unsere Erwartungen zielt, wie eine Geschichte zu verlaufen hat.
Stanley´s Cup“ (Staffel 10, Episode 14)

Daß ich Matt Stone vielleicht nicht falsch verstanden habe, mag auch folgende Episode verdeutlichen, die mich bis heute darin bestärkt, im Weihnachtsmann den einzigen Fall stehen zu lassen, in dem ich meinem Kind bewußt die Unwahrheit gesagt habe (und es nagt noch immer, aber es ist andererseits auch nicht leicht, einer Dreijährigen diesen immensen sozialen Druck zumuten zu wollen…)
Zahnfee-Mafia & Co. (Staffel 4, Episode 2)

Das nächste Beispiel zeigt großartig, was passiert, wenn man Kindern irgendwelches Halbwissen präsentiert – die reimen sich den Rest nämlich einfach selbst zusammen. Mit ganz eigenen Ergebnissen. Und einem für meinen Geschmack etwas zu moralinsauren Ende. 😉
Hundemelken (Staffel 5, Episode 7)

Die bösen großen Konzerne machen all die kleinen Läden kaputt. Doch wie sonst gilt auch hier: es gehören immer zwei dazu. Die, die etwas anbieten und diejenigen, die es kaufen. Aber diese Einsicht ist auch nicht so einfach umzusetzen. 😉
Das Böse kommt auf Wall-Marts Sohlen. (Staffel 8, Episode 9)

Eine böse Folge ist diese Episode, in der eine Parabel auf den modernen Popstarrummel erzählt wird.
Britneys neuer Look (Staffel 12, Episode 2)

So, und dann noch ein bißchen Bildungsfernsehen. Ich bin inzwischen der Meinung, daß im Rahmen der 14 Staffeln, die bisher gedreht wurden, wohl alle Themen des postmodernen Lebens abgehandelt wurden. Die vielleicht beste SouthPark-Folge ist die über Scientology.
Schrankgeflüster. (Staffel 9, Episode 12)

Zum Abschluß noch einen kleinen Spaß, meine Lieblingsfolge:
Die Liga der Super Besten Freunde. (Staffel 5, Episode 4) >> Wie ich gerade lese, wurde diese Episode aus absurden Gründen offline gesetzt.

Na gut, dann noch ein paar Tipps in loser Folge:
Ärger mit den Mandeln (S12E01)
Scott Tenorman muss sterben! (S05E01)
Gott ist tot I + II (S10E12+13)

Und noch viele mehr. Mein Favorit ist die Staffel 12, aber auch ansonsten liegt die Fehlgriffquote ab Staffel 5 insgesamt recht niedrig, denn natürlich ist auch bei SouthPark nicht alles perfekt. 😉


Flattr this

*aus: Was darf die Satire? in: Werke und Briefe: 1919. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1193ff. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 43ff) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Velozipedäres Leiden (2)

Als Fahrradfahrer hat man es nicht leicht. Von allen mißtrauisch beäugt – und anfällig für Zorneshandlungen sämtlicher anderer Verkehrsteilnehmer – ist permanent darauf bedacht, die nächste Gefahrenquelle bereits rechtzeitig zu erspähen.
Nicht immer hilft das, vor allem beim Autofahrerlieblingssport „Aussteigen, egal was da hinter mir passiert.“ müsste man schon das Radfahren als solches einstellen, wollte man diese zwar deutlich sichtbare, aber nicht im Geringsten vermeidbare Gefahr umgehen (naja, OK, man könnte stattdessen mittig in der Fahrbahn fahren, was aber aus einem möglichen Unfall einen sicheren Lynchmord macht, kein kluger Tausch, aber möglich).
Ich habe mir seit einiger Zeit die überaus nützliche Eigenschaft von Regeln, das eigene Denken zu Gunsten des Befolgens einer Handlungsanweisung auzuschalten, zu Nutze gemacht und befolge derzeit recht strikt die Regeln der Straßenverkehrsordnung, zumindest soweit sie mir bekannt sind. Ich halte an roten Ampeln getreulich an, überhole nur links, zeige jeden Richtungswechsel an, halte an Stoppschildern wie auch an Fußgängerüberwegen und bin überhaupt ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft.
Das Ergebnis ist faszinierend. Zum einen stellte ich eine erhöhte Neigung an mir fest, mich über das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer zu erregen, zum anderen aber werde ich seit dieser fundamentalen Entscheidung derart angepöbelt, wie es keinem fußwegbenutzenden Radfahrrowdie geschieht.
Gerade heute wurde ich von einer Autofahrerin angeraunzt, weil ich ihr die ihr zustehende Vorfahrt ließ (rechts vor links, you know?), sie aber anhielt, um mich weiterfahren zu lassen. Übrigens, liebe Autofahrer: Für den radfahrenden Verkehrsteilnehmer, erst Recht mit gut besetztem Kinderanhänger, ist „Losfahren“ mit etwas mehr Aufwand verbunden als dem sanften Herunterdrücken eines ergonomisch geformten Pedals – wenn ich also anhalte, damit ihr eure Vorfahrt nutzen könnt: Dann tut das gefälligst. Für nüscht und wieder nüscht angehalten zu haben ist überaus unerfreulich.
Das melidiöse Geräusch meiner Klingel erweckte dann einen träumenden Fußgänger, dem ein 10 Meter breiter Fußweg einfach nicht passend zu sein schien, weshalb er lieber auf dem durch Grünwerk extra abgetrennten Radweg flanierte und wahrscheinlich darüber grübelte, welcher Turner-Preisträger das war, der immer in den Innenstädten das Pflaster rot färbte und stilisierte Fahrräder auf den Boden malte. Völlig verständlich also, daß er sich über die Unterbrechung seines Kunstgenusses durch mich Banausen nicht amüsiert zeigte.
Geradezu in Lebensgefahr gerieten allerdings die gerade eine Straße überquerenden jungen Damen, als ich, mustergültiger Verkehrsteilnehmer, der ich bin, anhielt, um ihnen das zügige Verlassen der Fahrbahn zu ermöglichen. Darüber waren die beiden allerdings derart verblüfft, daß sie unvermittelt stehen blieben – eine höchst unkluge Reaktion, wie ihnen Legionen von Igelgeistern berichten könnten, denn der nachfolgende Kraftverkehr machte sich bereits akustisch bemerkbar. Sie eilten denn auch, nicht ohne vorher wild gestikulierend meine Weiterfahrt einzufordern, mit erhöhtem Tempo hinüber.
Offenbar führt also mein regelkonformes Verhalten zu größter Verwirrung, die ja bekanntermaßen nicht selten in Aggressionen umschlägt. Nicht auszudenken also, welch Angst und Schrecken ich wohl verbreite, wenn ich mich an der roten Ampel nicht irgendwie an den Autos vorbeischlängle, sondern geduldig in der Reihe warte. Wahrscheinlich sitzen die gequälten FahrerInnen schweißüberströmt mit krampfenden Händen an ihrem Lenkrad, ununterbrochen Innen- und Außenspiegel kontrollierend, wann denn nun endlich dieser Verrückte unter Gefährung der Unversehrtheit ihres Fortbewegungsmittels an ihnen vorbeikurven wird.
Verständlich, daß dann ein Fluch auf diese verdammten Radfahrer folgt, wenn man anschließend das Umschalten der Ampel verpaßt.
Was aber lehrt uns das?
Ganz offenbar sind Radfahrer im kollektiven Gedächtnis der übrigen Verkehrsteilnehmer neben spielenden Kindern wohl die unberechenbarsten Gestalt beiderseits der Fahrbahn. Die machen alles, nur nicht das, was sie sollten. Sprich: Die Nonkonformität ist zur Regel geworden.
Was wiederum bedeutet: Wahrhaft subversives Verhalten erfordert heute unbedingtes Beachten der offiziellen Vorschriften. Mit nichts, ihr lieben Radfahrer, stiftet ihr mehr Ärger bei WackeldackelHäckelklorollenRenaultfahrern als mit einem völlig korrekten Einordnen zum Linksabbiegen. Nur Spießer ziehen plötzlich von rechts rüber. Wahre Punks aber zeigen ihren Wunsch korrekt an und ordnen sich rechtzeitig links ein, natürlich nicht ohne sich vorher mit einem Schulterblick zu versichern, daß der Weg frei ist.
Ich rate nur: Tragt einen Helm. Denn es könnte sein, daß der nachfolgende Verkehr annimmt, ihr wolltet weiter geradeaus fahren.

Der Hausheilige sieht das ja bekanntermaßen viel entspannter:

Das kommt daher, daß die Deutschen sich einbilden, man könne eine Sache zu Ende organisieren. Das kann man eben nicht. Man kann eben nicht alles kodifizieren, vorherbestimmen, ein für allemal voraussehen, alle jemals vorkommenden Lagen bedenken, sie ›regeln‹ und dann keinen Einspruch mehr gelten lassen . . . so sieht die Justiz dieses Landes aus, und sie ist auch danach. Auf den Straßen aber ergibt sich das groteske Zerrbild, daß der Fußgänger der Feind des Autos ist, das er neidisch und verächtlich ignoriert – er wird es den Brüdern schon zeigen –; der Fahrer Feind des Fußgängers – wo ick fahre, da fahre ick – ums Verrecken bremst er nicht vorsichtig ab, fährt nicht um den Fußgänger herum, weil ›der ja ausweichen kann‹ . . . und aller Feind ist der regelnde Mann: der Polizist.
Das Ideal dieses Verkehrs sieht so aus, daß vom Brandenburger Tor herunter alle Städte des Reichs durch einen Reichsverkehrswart geregelt werden, überall hat zu gleicher Zeit ein grünes Licht aufzuleuchten, und gehorsam und scharf anfahrend, setzen sich 63657 Wagen in Fahrt. Das wäre ein Fest …
Schade, daß es nicht geht. Aber er ist auch so schon ganz hübsch, der deutsche Verkehr. Man fährt am besten um ihn herum.

aus: Der Verkehr. in: Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7182 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 308) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm


Flattr this